| # taz.de -- Demos gegen rechts: Fliehen oder kämpfen? | |
| > Für Migrant:innen war Rassismus schon vor den Deportationsplänen eine | |
| > Bedrohung. Die Demos sollten ein Anstoß sein, ihn im Ansatz zu bekämpfen. | |
| Seit der Aufdeckung rechtsextremer Geheimpläne zur Vertreibung und | |
| Deportation von Menschen aus Deutschland demonstrieren bundesweit Millionen | |
| Menschen gegen rechts. Unser Autor Cihan Sinanoğlu, Leiter des Nationalen | |
| Diskriminierungs- und Rassismusmonitors, ist einer von ihnen – er | |
| kritisiert die Verkürzung der Proteste auf Rechtsextremismus und plädiert | |
| für eine gerechte Sozialpolitik für alle. | |
| Am Abend vor den [1][Enthüllungen durch Correctiv] saß ich mit | |
| Freund*innen beim Abendessen zusammen und wir diskutierten wie so oft | |
| über den Rechtsruck in unserem Land. Wir hatten das Gefühl, die | |
| Gesellschaft stehe wie ein erstarrtes Kaninchen vor der Schlange und warte | |
| angesichts der Wahlprognosen nur darauf, von der AfD überrannt zu werden. | |
| Der starke Rechtsruck lässt viele meiner Freund*innen mit | |
| Einwanderungsbiografien sogar über eine Auswanderung nachdenken. „Fliehen, | |
| bevor es zu spät ist“, hörte ich auch an diesem Abend wieder. Uns alle | |
| treibt die Tatenlosigkeit von Politik und Zivilgesellschaft um – und unsere | |
| Liste möglicher Gründe für das Ausbleiben von Widerstand wurde an diesem | |
| Abend lang: Ignoranz, Verdrängung, Coronamüdigkeit, Resignation, Angst. | |
| Und dann, am nächsten Tag, kamen die Enthüllungen des Netzwerks Correctiv – | |
| und plötzlich war er da, der Widerstand. [2][Millionen Menschen] gehen | |
| gerade auf die Straße, ein Querschnitt der Gesellschaft: Von Fridays for | |
| Future über Omas gegen rechts bis hin zu Kirchen und Gewerkschaften ist ein | |
| breites Bündnis entstanden. Mittlerweile haben sich fast 2.000 | |
| Organisationen und Initiativen dem Bündnis „Hand in Hand“ angeschlossen. | |
| Eine derartige Mobilisierung hat in Deutschland eine historische Dimension. | |
| ## Verkürzung der Proteste auf Rechtsextremismus | |
| Die Proteste sind richtig, wohltuend und wichtig, das sei zuallererst | |
| gesagt. Und dennoch haben sie einen blinden Fleck. Und dieser Fleck heißt | |
| Rassismus. Die meisten Proteste rufen auf zum „Kampf gegen rechts“, „gegen | |
| Rechtsextremismus“ und der „Verteidigung der Demokratie“. Es geht also | |
| nicht um eine konkrete Forderung, sondern lediglich um eine sehr | |
| allgemeine, sehr unanfechtbare Haltung. Menschen skandieren gemeinsam „Ganz | |
| Hamburg/Berlin/Göttingen hasst die AfD“ – eine Parole, die Rassismus eben | |
| nur dort verortet, bei der AfD. Das Problem: Rassismus ist nicht nur dort. | |
| Natürlich müssen Slogans immer verkürzen und vereinfachen, und breite | |
| Bündnisse müssen den kleinsten gemeinsamen Nenner finden – aber genau das | |
| macht es schwer, Forderungen zu stellen, die wirklich etwas bewirken. | |
| Vielleicht sollte ich mich dennoch erst mal damit zufriedengeben, dass | |
| Millionen Menschen gegen rechts und gegen die AfD auf die Straße gehen. | |
| Wenn die Proteste ein paar Unentschiedene vom AfD-Wählen abbringen, wäre | |
| das schon ein Erfolg. Wenn sie bedrohten Menschen Mut machen, auch. Und | |
| wenn sie progressiven Kräften helfen, sich jetzt besser zu vernetzen, ist | |
| das auch wichtig für die kommenden Herausforderungen, die mit dem | |
| Rechtsruck in diesem Land einhergehen. Doch Zufriedenheit können wir uns im | |
| Moment nicht leisten. Denn Rassismus gibt es nicht nur bei der AfD. | |
| Mir stellt sich die Frage, welche transformative Kraft entsteht oder besser | |
| gesagt: verloren geht, wenn das Problem nur einer Partei zugeschoben wird. | |
| Denn die Proteste werfen auch die Frage auf, in welcher Verantwortung die | |
| anderen Parteien für die plurale Demokratie stehen. | |
| Wenn wir so tun, als wäre Rassismus nur an den Rändern unserer Gesellschaft | |
| zu finden, oder diesen gar mit Rechtsextremismus gleichsetzen, gerät er als | |
| soziales Verhältnis aus dem Blick, ebenso wie die ökonomischen und sozialen | |
| Bedingungen, unter denen er entsteht. Wenn Rassismus nur als Einstellung | |
| begriffen wird, wird suggeriert, es brauche für Antirassismus auch nicht | |
| mehr als die richtige Haltung. Aber so einfach ist es leider nicht: Die AfD | |
| zu hassen reicht eben nicht, um Antirassist zu sein. Denn dann wäre | |
| Antirassismus nur ein moralisch aufgeladener, leerer, performativer Akt. | |
| Doch Antirassismus ist immer auch Demokratiearbeit und muss eine Kritik | |
| sozialer Verhältnisse, wie der Arbeits- und Wohnverhältnisse und der | |
| Gesundheitsversorgung aller Menschen, beinhalten, sonst verändert er | |
| nichts, sondern erhält lediglich den Status quo aufrecht. | |
| ## Übernahme rechter Rhetorik stärkt Rechtsextremismus | |
| Was sich im Rahmen der Proteste nicht slogantauglich skandieren lässt, ist, | |
| dass die AfD, unterstützt von anderen Parteien, strukturelle Probleme wie | |
| steigende Mieten, die Unterversorgung bei Zahnärzt*innen, die | |
| Bildungsungerechtigkeit oder Kinderarmut auf die Frage der Migration | |
| reduziert und schiebt. Und die Probleme dadurch nicht als strukturelle | |
| benennt, sondern als Symptome der vermeintlichen „Überfremdung“ darstellt. | |
| Dabei wird keine einzige Abschiebung diese Probleme lösen. Hier könnten | |
| beispielsweise die Mietrechtsinitiativen, Initiativen aus dem | |
| Gesundheitsbereich und Kinderschutzorganisationen [3][die Proteste | |
| unterstützen], indem sie die rassistischen Narrative angreifen und die | |
| strukturellen Probleme in den Vordergrund stellen. | |
| Kurz gesagt: Die Proteste sollten sich nicht nur gegen Rechtsextremismus | |
| richten, sondern gegen Rassismus. Denn der kommt eben leider nicht nur von | |
| rechts. Dafür braucht es erstens konkrete politische Forderungen und ein | |
| Ausbrechen aus dem alleinigen Fokus auf Migration und zweitens sowohl den | |
| Druck auf und die Anbindung in die wichtigen politischen Institutionen wie | |
| Parteien und Parlamente. Ohne diese werden die Proteste wirkungslos | |
| bleiben, zumindest politisch. Weil sie zu performativ, zu hülsenhaft sind. | |
| Und dennoch machen sie mir Hoffnung, als Vorboten gesellschaftlicher | |
| Veränderungen, die schon längst überfällig sind. | |
| Und so diskutierten meine Freunde und ich beim nächsten gemeinsamen | |
| Abendessen über die Frage: Warum gerade jetzt? Und warum erst jetzt? Es ist | |
| nicht so, dass die Pläne der AfD zur Remigration neu wären. Oder ihr | |
| Rassismus. Im Gegenteil sogar, die Partei trägt ihre Vorhaben und Ideologie | |
| regelmäßig in Öffentlichkeit und Parlamenten vor. | |
| Vielleicht liegt es daran, dass Betroffenheit sich gerade neu sortiert. Ein | |
| Viertel der hier lebenden Menschen hat selbst einen sogenannten | |
| Migrationshintergrund. Die Zahl der Menschen, die inzwischen | |
| Migrationsbezüge durch Familie und Freundschaft haben, ist aber um ein | |
| Vielfaches höher. Sie alle wären, wenn auch auf unterschiedliche Weise, von | |
| den Remigrationsfantasien der Rassisten betroffen. | |
| In der Studie „[4][Rassistische Realitäten]“ konnte gezeigt werden, dass | |
| ein Großteil dieser Gesellschaft bereits mit Rassismus in Berührung | |
| gekommen ist, sei es gegen sich selbst oder gegen Freunde, Familie, | |
| Bekannte. Rassismus ist längst kein Minderheiten- oder Randphänomen mehr. | |
| Die direkten und indirekten Erfahrungen mit Rassismus prägen das Leben der | |
| Menschen und damit die empfundene gesellschaftliche Relevanz für das Thema. | |
| Rassismus berührt und bewegt weite Teile der Bevölkerung. Solidarische, | |
| partnerschaftliche, familiäre, freundschaftliche und kollegiale | |
| Verbundenheit macht das Thema für alle bedeutend. | |
| Die Proteste könnten sich also auch aus diesen [5][postmigrantischen | |
| Verbindungen und Erfahrungen] speisen und neue Formen des antirassistischen | |
| Widerstandes entwickeln. Solche, die konkret werden und die | |
| gesamtgesellschaftliche Betroffenheit von Migration und Rassismus ernsthaft | |
| zu bearbeiten vermögen und ein postmigrantisches Verständnis von | |
| Solidarität als Resultat hervorbringen. Oder einfacher gesagt: Wenn uns | |
| bewusst wird, dass wir alle betroffen sind, sind wir auch alle in der | |
| Pflicht. Nicht nur für ein „Nie wieder“, sondern vor allem für ein „Ab | |
| jetzt richtig“. | |
| ## Wir brauchen eine gerechte Sozialpolitik für alle | |
| Rassismus und Rechtsextremismus werden nicht allein durch ein Verbot der | |
| AfD verschwinden – obwohl ich ein solches Parteiverbot guthieße. Doch die | |
| Rechte wird sich neu formieren und organisieren. Wenn die anderen Parteien | |
| die AfD und ihr Gedankengut also nachhaltig politisch bekämpfen wollen, | |
| müssen sie klarstellen, dass nicht die Migration für soziale Probleme | |
| verantwortlich ist. Sondern die neoliberal ausgerichtete Politik der | |
| letzten 30 Jahre. Die effektivste Antirassismuspolitik wäre eine gute und | |
| gerechte Sozialpolitik für alle. Denn diese würde den Rassisten das Wasser | |
| abgraben, statt beim verzweifelten Blick auf die Umfragewerte, ihre | |
| Forderungen und Rhetoriken zu kopieren. | |
| Es kann funktionieren – doch dafür braucht es mehr als engagierte | |
| BürgerInnen, die auf die Straße gehen und gegen rechts demonstrieren. Es | |
| braucht auch Parteien und Regierungen, die eine Vision einer gerechten und | |
| pluralen Migrationsgesellschaft entwickeln. Die anerkennen, dass wir alle | |
| direkt oder indirekt von Rassismus betroffen und auf unterschiedlichste | |
| Weisen mit der Migrationsgesellschaft verflochten sind. Die Migration als | |
| Chance begreifen, um unser Land zu modernisieren und zu demokratisieren. | |
| Es kann funktionieren, das werde ich auch meinen Freund*innen beim | |
| nächsten Abendessen sagen. Denn selbst wenn ich den Impuls, momentan aus | |
| Deutschland fliehen zu wollen, gut nachvollziehen kann, darf dies nicht die | |
| Antwort auf den Rechtsruck sein. Die momentane kämpferische Grundhaltung in | |
| Deutschland macht Hoffnung auf Veränderung, doch die Proteste müssten jetzt | |
| weiter kanalisiert werden. Der Anfang ist gemacht. | |
| 10 Mar 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigrati… | |
| [2] /Demowelle-gegen-Rechtsextremismus/!5994112 | |
| [3] /Brandbrief-fuer-Diskriminierungsschutz/!5992527 | |
| [4] https://www.rassismusmonitor.de/fileadmin/user_upload/NaDiRa/CATI_Studie_Ra… | |
| [5] /Nach-der-Correctiv-Recherche/!5988627 | |
| ## AUTOREN | |
| Cihan Sinanoglu | |
| Cihan Sinanoğlu | |
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