| # taz.de -- Umgang mit Rassismus: Mutig mit eigener Schwäche | |
| > Mit Abwehr auf das Thema Rassismus zu reagieren, bringt uns nicht weiter. | |
| > Viel sinnvoller ist, die eigene Haltung zu betrachten, auch wenn’s | |
| > wehtut. | |
| Bild: Mit den Problemen anderer zu jonglieren, fällt einem oft leichter | |
| Ein Freund schickte mir vor einigen Tagen ein GIF. Es zeigt zwei | |
| gezeichnete Männchen. Das Männchen auf der linken Seite lächelt breit und | |
| jongliert entspannt mit vielen orangenen Bällen in der Luft. Das Männchen | |
| auf der rechten Seite versucht, einen einzigen riesigen orangenen Ball von | |
| der Erde hochzuheben. Das Gesicht ist schmerzverzerrt, der Ball scheint so | |
| schwer zu sein, dass er sich kein bisschen bewegt, sosehr das Männchen auch | |
| zieht und zerrt. | |
| Unter dem gut gelaunten jonglierenden Männchen auf der linken Seite stehen | |
| die Worte: „Die Probleme anderer lösen“. Unter dem leidenden Männchen | |
| rechts die Worte: „Deine eigenen Probleme lösen“. An dieses GIF muss ich | |
| dieser Tage oft denken. Ich führe in letzter Zeit viele Gespräche über | |
| [1][Rassismus in Deutschland]. In diesen Gesprächen spüre ich oft Angst, | |
| Abwehr und Unsicherheit. Im Selbstbild des weltoffenen, toleranten Landes | |
| der Dichter und Denker, so mein Eindruck, kann, darf kollektiver Rassismus | |
| nicht existieren. | |
| Kritik, Zweifel, Fragen haben wenig Raum. Spreche ich über Rassismus in | |
| Deutschland, sieht mein Gegenüber in mir oft die Anklägerin statt die | |
| politische Beobachterin, die ich bin. Rassismus wird ausgelagert, den gibt | |
| es bei Extremisten, [2][bei der AfD], im Ausland, aber nicht bei uns. Wir | |
| sind „gut“ und wollen es auch bleiben. Wer dieses Selbstbild infrage | |
| stellt, wird ignoriert oder angegriffen. | |
| Unwillkürlich denke ich im Vergleich dazu an die Gespräche, die ich im | |
| letzten Jahr zum Iran geführt habe. Trotz der Schwere des Themas – | |
| sexualisierte Gewalt, politische Repressionen, [3][Hinrichtungen, Tod] – | |
| flossen die Gespräche über den Iran leicht dahin wie ein sprudelnder Fluss. | |
| Ich nahm Empörung und Wut wahr über das, was im Iran passiert. Es schien | |
| gleichzeitig leicht, sich damit auseinanderzusetzen – denn es waren die | |
| Probleme anderer. | |
| ## Eingefahrene Muster ändern | |
| Es ging um ein fernes Land, in dem Frauen schlecht behandelt werden, das | |
| lässt sich leicht verdammen. Es ist einfach, sich Probleme anzuschauen, die | |
| nicht die eigenen sind; es erzeugt die Illusion, dass der eigene Schatten | |
| doch gar nicht so groß ist, wie man tief im Inneren, unbewusst, vielleicht | |
| fürchtet. Richtet sich der Blick nach innen, auf die eigenen Strukturen, | |
| auf den eigenen Schmerz, auf die eigenen Wunden, wird der sprudelnde Fluss | |
| zu einer zähen Masse, die sich kaum bewegen will. | |
| Ich kenne eine ähnliche Dynamik aus meinem eigenen Leben. Ich erinnere mich | |
| an eine Zeit, als ich jede Kritik, jede Auseinandersetzung, in der mein | |
| Handeln eine Rolle hätte spielen können, nicht aushalten konnte. Mein | |
| Selbstbild war das einer integren, hilfsbereiten, selbstlosen Person, deren | |
| Fehler Ausrutscher waren, aber nichts mit mir zu tun hatten. Wer dieses | |
| Selbstbild infrage stellte, wurde ignoriert oder angegriffen. Ich hielt | |
| mich für sehr aufgeklärt, glaubte, ich hätte meine Wunden aufgearbeitet. | |
| Ich war für meine Freund:innen eine gefragte Beraterin, ich war gut | |
| darin, anderen bei ihren Problemen zu helfen. Nach außen war alles | |
| wunderbar. Im Inneren nicht. Ich verstand nicht, warum ich nicht weiterkam; | |
| bestimmte Muster nicht ändern konnte, andere Menschen verletzte, unruhig | |
| war, leicht aus der Fassung zu bringen, nicht in mir ruhte. Bis ich | |
| irgendwann das Glück hatte zu verstehen: Ich muss dorthin schauen, wo es | |
| wehtut. Richtig wehtut. | |
| Ich schaute mir meine schlechten Seiten an, so ehrlich und schonungslos wie | |
| möglich. Ich arbeitete daran, sie als Teil von mir zu akzeptieren; zu | |
| verstehen, welchen Wunden sie entstammen. Ich erkannte: Je mehr ich sie | |
| ignorierte, umso größer wurde der Schmerz, der mit dieser Verleugnung | |
| einherging. Es war – es ist – ein langer Prozess, diese Seiten zu | |
| akzeptieren. Ich ziehe und zerre jeden Tag, wie das Männchen mit dem | |
| schweren Ball. | |
| ## Gift für die ganze Gesellschaft | |
| Ich lerne, zuallererst Mitgefühl für mich zu haben. Gerade wegen der Dinge, | |
| die ich falsch mache, mit denen ich andere verletze, mich selbst verletze. | |
| Ich lerne, diese Seiten von mir zu akzeptieren. Um die Scham darüber zu | |
| nehmen. Um sie dann bearbeiten zu können, um es besser machen zu können. | |
| Was ich nicht sehe, kann ich nicht verändern. Nur so konnte ich mich auf | |
| den Weg machen, eine bessere Version meiner selbst zu sein. | |
| Kann man einen individuellen Weg mit dem eines ganzen Landes vergleichen? | |
| Diese Frage kann ich nicht beantworten; gleichzeitig komme ich nicht umhin, | |
| die Abwehr, die Angst zu erkennen, die damit einhergehen, wenn es darum | |
| geht, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Gerade, wenn es um den eigenen | |
| Schatten geht. Es scheint ein Muster bei uns (oder bei vielen von uns) | |
| Menschen zu sein – und betrifft so auch die ganze Gesellschaft. | |
| Wenn ich über Rassismus in Deutschland spreche, tue ich das zuallererst, | |
| weil ich sehe, wie viele Menschen seit Jahrzehnten durch rassistische | |
| Narrative, die allgegenwärtig sind, verletzt wurden und werden. Von | |
| rassistischer Gewalt ganz zu schweigen. Aber auch, weil rassistische | |
| Narrative Gift für die gesamte Gesellschaft sind. Sie treiben auseinander, | |
| sie öffnen Tür und Tor für antidemokratische und autoritäre Kräfte. Sie | |
| schwächen die [4][demokratische Resilienz einer Gesellschaft]. | |
| Niemand kann dieses Land zwingen, sich mit seinen Strukturen | |
| auseinanderzusetzen – sich ehrlich damit auseinanderzusetzen. Eine ehrliche | |
| Auseinandersetzung mit sich selbst mag schmerzhaft sein. Nur gibt es ohne | |
| Schmerz kein Wachstum, keine Verbesserung, keine Heilung. Wenn man diese | |
| Verbesserung möchte, gibt es keinen anderen Weg. Es geht nicht nur um die | |
| Menschen, die mit internationaler Biografie in diesem Land leben. Sondern | |
| um die ganze Gesellschaft. | |
| Wenn mich heute jemand kritisiert, gehe ich nicht in Abwehr oder Scham. Ich | |
| versuche neugierig zu sein, ich höre zu, auch wenn es weh tut. Vor allem | |
| bin ich dankbar. Weil ich sonst meine Fehler, meine Wunden nicht erkennen | |
| würde. Und so stehen auf meinem persönlichen GIF heute auf beiden Seiten | |
| grinsende und jonglierende Männchen. Es gelingt mir nicht immer. Aber ich | |
| versuche es. Und das ist, glaube ich, schon mal was. | |
| 20 Mar 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Gilda Sahebi | |
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