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# taz.de -- Grüne Spitzenkandidatin zur Europawahl: Die Hoffnungsvolle
> Wenn im Juni ein neues Europa-Parlament gewählt wird, könnten die rechten
> Parteien triumphieren. Die Spitzenkandidatin der Grünen, Terry Reintke,
> will dagegenhalten.
Bild: Terry Reintke im Europaparlament in Straßburg
Straßburg taz | Terry Reintke macht am Rednerpult im EU-Parlament an diesem
Dienstag Anfang Februar einen rhetorischen Spagat. Sie wird den in den
kommenden Monaten wahrscheinlich noch häufiger hinlegen: Als
Spitzenkandidatin der Grünen widerspricht sie den Konservativen – eine
Zusammenarbeit kann sie ihnen aber nicht ausschlagen. Weil man sich
vielleicht gegenseitig noch brauchen wird, gegen die Rechtsextremen im
Parlament wie die AfD oder den französischen Rassemblement National.
„Jetzt ist Zeit zu handeln, nicht, sich gegenseitig zu beschimpfen“, sagt
sie mit Nachdruck zu Manfred Weber von der CSU. Sie wolle „gemeinsam“ die
Probleme der Bauern angehen, die an diesem Tag mit ihren Traktoren vor dem
Europaparlament in Straßburg protestieren. Weber als Fraktionsvorsitzender
hatte verkündet, dass seine Europäische Volkspartei (EVP) „die Bauernpartei
Europas“ sei und die Bauern keine „linke Ideologie“ wollten.
An den Themen Agrarpolitik und Klimaschutz entfacht sich gerade der
Wahlkampf um die Europawahlen am 9. Juni. Auf dem Spiel stehen [1][die
Fortschritte der EU im Klimaschutz] der letzten fünf Jahre, die in dieser
Legislaturperiode vor allem mit dem „European Green Deal“ in Verbindung
gebracht wurden. Die EU hat mit diesem Deal festgeschrieben, dass sie bis
2050 klimaneutral werden will. Die AfD und der Rassemblement National
wollen den Green Deal abschaffen. Die Konservativen um Manfred Weber wollen
ihn wenigstens verwässern.
Damit das große Klima-Projekt weitergehen kann, müssen die Parteien wie die
Grünen weiterhin etwas zu sagen haben im EU-Parlament. Reintke hat sich als
Spitzenkandidatin der Europäischen Grünen einen enormen Druck aufgeladen.
Die 36-Jährige ist nicht nur in Deutschland auf Listenplatz Nummer eins bei
den Europawahlen, sondern führt zusammen mit dem Niederländer Bas Eickhout
die gesamten Europäischen Grünen in den Wahlkampf. Am ersten
Februar-Wochenende hat die Partei die beiden [2][zu ihrem
Spitzenkandidaten-Duo] gewählt.
## Ein Plan für die Europa-Wahlen
Sie muss Antworten darauf finden, wie ihre Parteienfamilie den hohen
Umfrageergebnissen von der AfD, dem Rassemblement National und weiteren
etwas entgegensetzen kann. Und sie führt in Deutschland eine Partei in den
Wahlkampf, die als Teil der Ampel-Koalition massiv von der CDU/CSU
angegriffen wird.
Begleitet man Terry Reintke in ihrer ersten Plenarwoche nach der Wahl in
Straßburg, zeichnet sich ab, was ihr Plan für den Europa-Wahlkampf sein
wird. Wie sie den Anwürfen aus dem konservativen bis rechtsextremen Lager
etwas entgegenhalten will.
Für die Plenarwoche ist das gesamte EU-Parlament, wie jeden Monat, von
Brüssel nach Straßburg gezogen. Rund zwei Stunden nach ihrer Kritik an
Manfred Weber redet Reintke dort mit der internationalen Presse. Sie wolle
an etwas erinnern, was wahrscheinlich „viele Menschen in ganz Europa sehr
froh macht“, sagt sie und lächelt.
Am Wochenende zuvor hätten wieder deutschlandweit Demonstrationen gegen
rechts stattgefunden. Reintke wird ernster. „Die Behauptung, die die
Rechtsextremen immer wieder aufstellen, dass sie für eine schweigende
Mehrheit in der Gesellschaft sprechen, wird durch diese Demonstrationen
ganz klar widerlegt.“ Sie sieht die Demos als Chance, dass die rechten
Parteien bei den Europawahlen nicht gut abschneiden werden.
## Rekordergebnis 2019
Vor den letzten Europawahlen im Mai 2019 hätten „viele Leute gesagt, es
wird einen massiven Anstieg der extremen Rechten geben und es wird ein viel
rechteres Europaparlament geben. Und wir haben massive Demonstrationen für
Klimagerechtigkeit auf den Straßen gesehen. Am Ende des Tages ist das, was
vorhergesagt wurde, nicht eingetreten“, sagt Reintke. Sie gibt sich
kämpferisch.
Bei den Europawahlen 2019 hatten die Grünen in Deutschland ein
Rekordergebnis von 20,5 Prozent geholt und damit mehr als die SPD. Die
Proteste von Fridays for Future für mehr Klimaschutz hatten den Grünen
merklich Aufwind verliehen. Alle gemäßigten Parteien, einschließlich der
CDU, forderten mehr Klimaschutz. Und rechte Fraktionen wurden im
EU-Parlament nur fünft- und sechstgrößte Kraft.
Aber der politische Wind hat sich gedreht. 2024 ist Klimaschutz angesichts
von zwei Kriegen in der Ukraine und in Nahost, angesichts einer
fortdauernden Inflation und einer schwierigen Konjunkturlage, etwas aus dem
Fokus geraten. Die Fridays-Bewegung versammelt die Massen gegen den
Klimaschutz höchstens noch zu den globalen Klimastreiktagen, der nächste
ist am 1. März. Und in Deutschland haben die Aktivist*innen der Letzten
Generation kürzlich eine schöpferische Pause angekündigt, man sei auf der
Suche nach neuen Protestformen, hieß es.
Deshalb betont Reintke als Co-Fraktionsvorsitzende der Grünen vor der
Presse noch mal, was sie am Morgen gegenüber Weber bereits deutlich machte:
Die Grünen sind bereit, mit den Konservativen in der nächsten
Legislaturperiode politische Kompromisse einzugehen. Wenn diese sich dafür
bei Abstimmungen klar von rechts abgrenzen. „Dann sind wir ihre Partner,
und wir gehen zusammen zu den Demonstrationen in Deutschland“, schließt
Reintke.
## „I am the Spitzenkandidat“
Am Dienstagnachmittag in der Sitzungswoche ist sie auf dem Weg zu einem
Treffen mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU). Die
einzelnen Fraktionsvorsitzenden treffen sich während der Plenarwochen
regelmäßig mit der Kommissionschefin. In einem verglasten Durchgang
überquert Reintke den Fluss zu einem weiteren Parlamentsgebäude, wo sie nun
das Knöpfchen für den Aufzug drückt.
Aus dem Aufzug tritt EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager. Die
beiden begrüßen sich freundlich. Vestager von den Liberalen gilt als eine
der mächtigsten Frauen Brüssels. Sie hat Google und Amazon Missbrauch von
Marktmacht vorgeworfen und gegen die Konzerne milliardenschwere Strafen
verhängt. „I am the Spitzenkandidat“, sagt Reintke fröhlich. „Yes, I kn…
congratulations again“, sagt Vestager. Reintke erzählt, dass sie bei ihrer
Wahlkampftour auch nach Dänemark kommen will, Vestagers Herkunftsland.
„Tell me when you’re there“, sagt Vestager.
Reintke gilt als gut vernetzt. Nur fünf Minuten zuvor lief ihr eine weitere
einflussreiche Frau im Flur über den Weg und gratulierte ihr: Die
Sozialdemokratin Elly Schlein, die in Italien Oppositionsführerin gegen die
postfaschistische Giorgia Meloni ist.
Auf der Klingel zu von der Leyens Räumen steht „K.Mustermann“. Wenn man so
bekannt ist wie die CDU-Politikerin, ist der Name auf der Klingel
wahrscheinlich überflüssig. Reintke verschwindet mit Co-Fraktionschef
Philippe Lamberts in einem Besprechungsraum.
## Der Kampf der Konservativen
Die Kommissionschefin musste an dem Tag im Plenarsaal eine Niederlage
verkünden, die viel mit Reintkes Mission zu tun hat. Von der Leyen zog
ihren Gesetzesvorschlag für weniger Pestizide in der EU zurück. Die
Verringerung von Pflanzenschutzmitteln auf den Feldern um 50 Prozent bis
2030 sollte ein wichtiger Teil des Green Deals werden. Aber im November
hatten die rechten Fraktionen und die konservative EVP-Fraktion gemeinsam
dieses Pestizid-Gesetz gekippt. Auch unter den Mitgliedstaaten gab es kein
Vorankommen. Und die EVP feiert das nun als Erfolg.
Die EVP als größte Fraktion im EU-Parlament hat begonnen, den Green Deal
anzugreifen. Sie versucht, geplante Klimaschutzgesetze für die
Landwirtschaft aufzuhalten und sich dadurch zu profilieren – sogar gegen
von der Leyen, die als CDU-Politikerin selbst zur konservativen
Parteienfamilie gehört. EVP-Chef Manfred Weber hat damit begonnen, was
Reintke vermeiden will: Die Regel des Europaparlaments zu brechen, dass man
keine Mehrheiten mit den Rechtsextremen sucht.
Bisher haben die Konservativen, Sozialdemokraten und Liberalen im
Europaparlament miteinander diskutiert, um Mehrheiten zu finden. Auch die
Grünen haben als viertgrößte Fraktion ein Wörtchen mitzureden. In einem
Parlament, in dem es keinen Fraktionszwang gibt, sind sie wichtig, um
Mehrheiten zu bauen. Letztes Jahr näherte sich Weber aber auch Italiens
rechter Regierungschefin Meloni an. Wofür ihn SPD, FDP und Grüne im
EU-Parlament stark kritisiert haben.
Reintke vermutet, dass sich Weber alle Optionen – zur Mitte und nach rechts
– offenhalten will. Denn nur so kann die EVP auch künftig größte Fraktion
im Europaparlament bleiben und den Ton in der EU angeben. Bislang ist
Reintke zuversichtlich, dass in Deutschland die CDU und CSU auf
Europa-Ebene „ganz klar sagen, es gibt eine Brandmauer“, sagt sie später in
ihrem Büro. Solch ein Bekenntnis wird Reintke bald auch von Ursula von der
Leyen einfordern, die als Spitzenkandidatin der EVP wieder
Kommissionschefin werden will. Am vergangenen Dienstag hatte [3][die CDU
sie bei einer Vorstandssitzung in Berlin offiziell als Spitzenkandidatin
nominiert.]
## Wo verläuft die Brandmauer?
Der CDU-Europaabgeordnete Dennis Radtke versichert, dass die Brandmauer
seiner EVP gegen rechtsextreme Parteien wie die AfD stehe. Der
Sozialpolitiker gehört zum linken Flügel der CDU. Aber: „Wo fängt denn für
Terry Reintke rechts an?“, sagt er der taz. Es sei die Frage, ob für
Reintke die EKR-Fraktion dazu zähle. Zur EKR, der Partei der Europäischen
Konservativen und Reformer, gehören Polens nationalkonservative PiS-Partei
und Melonis postfaschistische Fratelli d’Italia. „Uns vorschreiben zu
wollen, mit keiner Partei aus der EKR zusammenzuarbeiten, bedeutet ja, dass
wir für Mehrheiten immer nach Mitte-Links schauen sollen“, sagt Radtke. Für
Reintke hingegen befinden sich in der EKR „hochproblematische
rechtsautoritäre Parteien.“
Machen die Konservativen nach den Wahlen gemeinsame Sache mit rechten
Parteien, werden die Grünen voraussichtlich von der Leyen ihre Stimmen bei
der nötigen Abstimmung verwehren. Aber um bei der Abstimmung Gewicht zu
haben, müssen sie selbst ausreichend Sitze holen.
Mehrmals in dieser Plenarwoche betont Reintke den nötigen Zusammenhalt der
Parteien von links bis konservativ zur Mehrheitsbildung etwa bei
Abstimmungen. Eine Mitarbeiterin aus einer anderen Fraktion sagt jedoch,
dass man sich bei Abstimmungen nicht immer auf die Grünen verlassen könne.
Deshalb würden andere Fraktionen versuchen, größere Mehrheiten zu bauen,
für den Fall, dass die grünen Stimmen wegfallen. Der Sozialpolitiker Radtke
dagegen betont: „Natürlich muss man hart ringen. Aber wenn man eine
Verabredung mit den Grünen hat, halten sie sich daran.“
Reintke beobachtet genau, was derzeit in den anderen Mitgliedstaaten bei
Wahlen passiert. Die Tendenz, dass die Konservativen in Schweden oder in
Italien mit Rechten zusammenarbeiten, bereitet ihr Sorge. Sie fürchtet, das
könne auch ins EU-Parlament „überschwappen“. Weil in den Niederlanden die
rechts-liberale VVD vor den letzten Parlamentswahlen nicht ausgeschlossen
hatte, mit dem Rechtspopulisten Geert Wilders zu arbeiten, werden die
Grünen auf Europa-Ebene auch von den Liberalen eine Abgrenzung gegen rechts
fordern, sagt Reintke.
## Frau, jung, feministisch, queer
In Straßburg ist die Grünen-Politikerin mittlerweile schnellen Schrittes
unterwegs zum nächsten Treffen. Ihr Terminkalender sei in dieser
Plenarwoche besonders dicht getaktet, sagt ihr Team. Viele Treffen finden
hinter verschlossenen Türen statt. Auf den langen Fluren des EU-Parlaments
knipst sie beim Laufen ein Fotograf aus Berlin, für die Wahlkampagne.
Frau, jung, feministisch, queer sind gleich vier Merkmale, mit denen man es
allgemein etwas schwerer hat. Aber Reintke macht ihren Weg. Im Oktober 2022
übernahm sie von [4][Ska Keller] den Co-Fraktionsvorsitz. Seitdem teilt sie
sich den Posten mit dem Belgier Lamberts. Das EU-Parlament mit den
verschiedenen Interessen entlang von Parteienfamilien und Nationalitäten
kennt die Gelsenkirchnerin seit 2014.
Ihr ist klar, wie sehr sie als junge Frau im Wahlkampf unter Beobachtung
stehen wird. Sie habe ja erlebt, wie die Öffentlichkeit mit Annalena
Baerbock im Bundestagswahlkampf 2021 umgegangen sei. Wie viel über ihre
Kleidung geschrieben worden sei. Kein Wunder, dass viele Frauen weniger
locker bei öffentlichen Auftritten wirkten, sagt Reintke. „Weil sie wissen,
wenn sie sich einmal blöd verhaspeln, haben sie einen Shitstorm an der
Hacke. Wohingegen Männer eine Leichtigkeit haben, weil sie nicht mit der
gleichen Reaktion rechnen müssen.“
Sie wehrt sich dagegen, dass es zu viel mit ihr macht. Reintke spricht oft
frei bei ihren Reden, sie zeigt Emotionen. Sie trägt bei öffentlichen
Auftritten mal den Pulli ihres alten Fußballvereins, und auch mal einen
weißen Blazer. Und sie will für möglichst viele Menschen nahbar wirken,
nicht nur als Kosmopolitin wahrgenommen werden: „Weil ich jung und
feministisch bin, in einer lesbischen Beziehung, wird oft davon
ausgegangen, dass ich bestimmt in Berliner Clubs Techno tanzen gehe.“
## Schlager statt Techno
In Wahrheit, erzählt sie, möge sie Schlager und sei Fan des Eurovision Song
Contest. Es sei wichtig, findet sie, zu erzählen, dass „Menschen eben nicht
total bruchlos sind. Um Gräben, die gefühlt da sind, wieder ein bisschen
kleiner zu machen.“ Übrigens, sagt sie noch, zum Feiern komme sie als
Spitzenpolitikerin sowieso nicht mehr.
Für den als eher unwahrscheinlich gehandelten Fall, dass von der Leyen
nicht wieder Kommissionspräsidentin wird, könnte Reintke sogar deutsche
EU-Kommissarin werden. So steht es im Koalitionsvertrag: Die Grünen dürfen
ein:e Kandidat:in vorschlagen, „sofern die Kommissionspräsidentin nicht
aus Deutschland stammt.“ Den Job kann sich die Politikerin aus dem
Ruhrgebiet gut vorstellen. In die Brüsseler Behörde mit rund 32.000
Beamt:innen müssten mehr „Leute, die einen politischen Anspruch haben
und die Dinge hier antreiben wollen“.
In dem Konferenzsaal, in den Reintke nun läuft, berät sich die Gruppe im
Parlament für die Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans und inter
(LGBTI) Personen zu den Europawahlen. Reintke rechnet damit, dass die AfD
und andere rechtspopulistische Parteien als zentrales Wahlkampfthema gegen
queere Menschen mobilisieren werden.
In Brüssel gilt sie als eine der vehementesten Kämpfer:innen für die
Rechte von queeren Menschen. Für das Parlament arbeitete sie an einem
Gesetzesvorschlag zur europaweiten Anerkennung der Elternschaft queerer
Paare mit. Und sie fordert von der EU immer wieder ein härteres Vorgehen
gegen den ungarischen Regierungschef Viktor Orbán wegen seiner demokratie-
und queerfeindlichen Politik.
## Unerschrocken für queere Politik
Auf Anfeindungen reagiert Reintke unerschrocken. Bei der Pride in Istanbul
2016 wurde sie zusammen mit Parteikollege Volker Beck kurzzeitig
festgenommen. Als die Pride in Serbien 2022 verboten wurde, fuhr sie
trotzdem hin. Abgesehen davon erzählt sie gerne von ihrer Freundin, einer
französischen Grünen-Politikerin. Immer mal wieder postet sie in den
sozialen Medien Fotos von den beiden.
Mittwochmorgen, Tag drei der Sitzungswoche. Reintke war schon joggen. Sie
empfängt in ihrem Büro, es wird um die Wahlen gehen. Das Büro ist so
unspektakulär, wie ein Arbeitsort sein kann, den man nur vier Tage im Monat
für die Plenarwoche nutzt. In einer Ecke liegt ein Jutebeutel in
Regenbogenfarben, im Regal stehen Schuhe.
Was wollen die Europa-Grünen den Wähler:innen anbieten? Das
Riesenprojekt „Green Deal“ weiterführen und dabei „jetzt mehr über die
Investitionsseite sprechen“, sagt Reintke. Statt um weitere Gesetze soll es
nun darum gehen, wo das Geld für die Klimaschutzmaßnahmen herkommen kann.
Begeistert erzählt sie vom Thyssen-Krupp-Stahlwerk in Duisburg, für das
bereits Milliarden-Hilfen genehmigt wurden und das ab 2026 grünen Stahl mit
Hilfe von Erneuerbaren herstellen wird. „Dann ist das auch etwas
Greifbares“, sagt sie, weil die Debatte um den grünen Wandel „für viele
noch so diffus“ sei.
Die Europa-Grünen wollen weg vom Image der Verbotspartei, die den Menschen
dauernd neue Klimagesetze serviert. Dass etwa als Teil des „Green Deals“
das Aus für Verbrennungsmotoren ab 2035 beschlossen wurde, nehmen viele
Autofans besonders den Grünen übel. Reintke spricht statt von Verboten
lieber von „regulativen“ Fragen des „Green Deals“, weil da teilweise au…
„Unmut herkommt“.
## Grün und sozial
Reintke spricht auch gerne von Sozialpolitik, die will sie in den
Vordergrund stellen. „Green and Social Deal“ haben sie es in Lyon beim
Parteikongress getauft – der grüne Deal soll auch sozial werden. Die
Lebenshaltungskosten wieder senken durch billigeren Strom aus erneuerbaren
Energien. Mindestlohn in allen Mitgliedsländern und eine europäische
Grundsicherung. Besserer Schutz vor Ausbeutung für Arbeitskräfte. Mehr
bezahlbarer Wohnraum.
Den Vorwurf, die Grünen hätten erst jetzt die Sozialpolitik entdeckt, lässt
Reintke nicht gelten: „Ich sitze hier seit zehn Jahren im Beschäftigungs-
und Sozialausschuss und mache soziale Themen“. Dort setzt sie sich seit
Längerem für gleichen Lohn für alle Geschlechter ein und gegen unbezahlte
Praktika für junge Leute in der EU.
Die Betonung auf den sozialen Aspekt soll helfen, um bei der Europawahl gut
abzuschneiden. Mitte Januar sah eine Umfrage des Instituts
Wahlkreisprognose die Grünen bei 13 Prozent: Der Streit um das
Heizungsgesetz, die hohen Energiepreise wegen des Ukraine-Kriegs sowie
Kompromisse, die sie in der Koalition eingehen, etwa bei den
Asylrechtsverschärfungen – all das hat vor allem auf das Konto der Grünen
negativ eingezahlt.
Der Grünen-EU-Abgeordnete Erik Marquardt fasst es im Januar zynisch auf der
Plattform X zusammen: „In Berlin gibt es gerade einen Ausnahmezustand wegen
Blitzeis. Falls sich jemand noch fragt, was sich die meisten schon dachten:
Ja, auch das haben die Grünen zu verantworten!“
## Schmerzhafte Kompromisse
Auch Marquardts Kernthema Asylpolitik zeigt, wie sehr die Kompromisse, die
die Grünen mit SPD und FDP eingehen, den Grünen auf Europa-Ebene
reingrätschen. Jahrelang kämpfte er gegen die von der EU-Kommission
vorgeschlagene Reform des europäischen Asylsystems, die wegen der
Gesetzesverschärfungen stark kritisiert wird. In der Koalition willigten
die Grünen nach viel Streit ein, und Deutschland stimmte in Brüssel zu.
Parteimitglieder und Kritiker:innen fanden, die Grünen hätten ihre
Ideale verraten. Außenministerin Baerbock erklärte vorsichtig, jede
Einigung in Brüssel sei „auch immer ein Kompromiss“. Reintke wurde
deutlicher und kritisierte, dass das vorgeschlagene System nicht umsetzbar
sei.
Wenn nun im April für die Asylreform die letzte formelle Zustimmung des
EU-Parlaments ansteht, wollen die Grünen wahrscheinlich gegen die meisten
Teile stimmen. Als Statement. Auch wenn die Gesetze sehr wahrscheinlich mit
genügend Stimmen aus den anderen Fraktionen durchgehen.
Nach den Wahlen wird es auch darum gehen, ob die Rechten gemeinsam eine
mächtige Fraktion bilden können. Ob es dazu kommen wird, ist derzeit in
Brüssel ein großes Thema. „Die große Trennungsfrage“ unter den rechten
Parteien sei zur Zeit noch die Russland-Ukraine-Debatte, sagt Reintke.
Während die EKR-Fraktion um Melonis Fratelli d’Italia sich solidarisch mit
der Ukraine gebe, seien die Mitglieder der Fraktion Identität und
Demokratie, kurz ID, wie die AfD „Putin-Freunde“.
## Die „Spitzen des Alltags“
Gleich gehen die Abstimmungen los, die Fraktionschefin muss in den
Plenarsaal. Auf dem Weg dorthin muss sie den Saalaufseher:innen ihren
Abgeordnetenausweis zeigen, erzählt sie später. Während „gleichzeitig
natürlich wieder drei Männer an mir vorbeigelaufen sind.“ Die „kleinen
Spitzen des Alltags“ als junge Frau in der Politik nennt sie das.
Am frühen Mittwochabend ist Reintke dann auf dem Weg zur Fraktionssitzung,
bei der sich die Grünen aus 17 Mitgliedstaaten treffen. Der französische
Ableger kämpft gegen den starken Rassemblement National von Marine le Pen
und einen Präsidenten Macron an, der zum eigenen Machterhalt immer weiter
nach rechts steuert. In Österreich geht es etwas besser. Dort sind sie mit
in der Regierung und liegen laut einer aktuellen Umfrage vom Januar bei 14
Prozent. Und damit genau bei ihrem Wahlergebnis von 2019.
Reintke hat Anja Piel, Vorstandsmitglied des Deutschen Gewerkschaftsbundes,
zum Austausch eingeladen. Die DGB-Frau sichert den Grünen zu, dass die
Gewerkschaften europaweit die „starken Partner“ seien, um gegen einen
wachsenden Rechtsruck anzuarbeiten. Bevor es womöglich spannend wird, muss
die Reporterin gehen, denn während der Fraktionssitzungen ist keine Presse
erlaubt.
Um die Ecke des fensterlosen Konferenzsaals sitzen in einer Parlaments-Bar
Menschen in Anzug und Lederschuhen vor Aperol Spritz, Wein und Bier. Sie
haben den Großteil der Plenarwoche geschafft. Am Donnerstag stehen am
Mittag noch weitere Abstimmungen an. Dann leeren sich die Flure. Viele
Menschen mit Rollkoffern laufen aus dem Gebäude. Das EU-Parlament zieht
wieder nach Brüssel. Reintke wird dort weiter kämpfen.
Mitarbeit: Eric Bonse
23 Feb 2024
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