| # taz.de -- Viktor Jerofejew über Putins Psyche: „Er war gelangweilt“ | |
| > Putins Verhalten ähnelt dem eines rachdurstigen Mafioso, sagt der | |
| > Schriftsteller Viktor Jerofejew. In seinem Roman „Der große Gopnik“ | |
| > analysiert er ihn psychologisch. | |
| Bild: „Der große Gopnik“: Wladimir Putin | |
| wochentaz: Versuchen wir, uns in Putins Psyche zu versetzen. Warum hat der | |
| Kreml-Zar den Krieg gegen die Ukraine entfesselt? | |
| Viktor Jerofejew: Weil er gelangweilt war. Putin war schon immer ein Mann | |
| des Krieges. Deshalb heißt mein Roman auch „Der große Gopnik“. Auf Russis… | |
| ist Gopnik der kleine Ganove, der ein unbändiges Verlangen nach Rache hat. | |
| Sein Leben ist von einer Parole geprägt: „Ich werde siegen!“ Vor dem Krieg | |
| war Putin sehr gelangweilt: Jeder in Russland lag ihm zu Füßen, jeder dort | |
| ist sein Sklave. | |
| Entschuldigen Sie, ist das nicht eine zu groteske Interpretation des | |
| Krieges? | |
| Nicht mehr, als Putins Geist grotesk ist! Er hat einen Krieg entfesselt | |
| ohne eine wirkliche Ideologie oder Strategie. Jedes Mal, wenn man versucht | |
| zu fragen, warum diese Tragödie passiert ist, kommen er und seine Sprecher | |
| mit etwas Neuem daher. Aber wenn wir jetzt in sein Gesicht schauen, sehen | |
| wir, dass der große Gopnik gelassener ist. | |
| Ist sein Krieg nur gegen die Ukraine oder auch gegen Europa oder den Westen | |
| gerichtet? | |
| Als er beim KGB war, in Dresden, war er gerne in Deutschland. Aber wie | |
| jeder russische Gopnik misstraut er Europa. Europa ist entwickelt, es ist | |
| voller Ideen und Technologie. Als die Ukrainer ihre Unabhängigkeit | |
| forderten, warnte er davor, wie gefährlich ihr „westliches Abdriften“ sei, | |
| denn es zeige die ganze Schwäche Russlands. Putin lebt in einer archaischen | |
| Welt mit primitiven Werten. | |
| Können Sie uns mehr über diese primitiven Werte erzählen? | |
| Aus seiner Sicht ist die Ukraine eine untreue Ehefrau, die sich zuerst | |
| Europa zugewandt und nun einen amerikanischen Liebhaber gefunden hat. | |
| Putins Ur-Impuls ist es, sie für den Verrat zu bestrafen und mit Bomben zu | |
| zwingen, wieder sein Land zu werden. Viel komplizierter ist es für ihn, der | |
| Welt zu erklären, warum er diesen Krieg um seine angeblich verletzte Ehre | |
| führt. | |
| Dafür sorgen Fake News und die Propaganda des Kremls. | |
| Die erste Welle von Fake News erzählte, dass die [1][Ukraine schon immer | |
| russisch gewesen sei]. Dann wurden aus dem Kreml metaphysische Erklärungen | |
| lanciert, die den Krieg in einen religiösen Kreuzzug verwandelten. [2][Wir | |
| Russen sind die Guten, ihr Ukrainer und Westler die Bösen.] Wir Russen sind | |
| die Heiligen, und ihr seid die Nazis des 21. Jahrhunderts, oder schlimmer | |
| noch, die Kinder Satans auf Erden. | |
| Welche Rolle spielt der KGB in Putins Leben? | |
| Der junge Wladimir war ein kleiner, unglücklicher Junge, und der KGB war | |
| für ihn ein heiliges Gehege, das ihn vor jeglichem Vergehen schützte. | |
| [3][Die Methoden des KGB waren für ihn eine Schule des Überlebens und des | |
| Glücks]. Sein ganzes Leben lang wollte der Große Gopnik nichts anderes, als | |
| sich beschützt zu fühlen. Und heute, isoliert in seinen Bunkern, ist dies | |
| der Grundgedanke, der ihn beseelt. | |
| Das Problem ist aber auch die russische Bevölkerung, ihre Reaktion auf | |
| einen Krieg, der seit zwei Jahren andauert und bisher über 370.000 | |
| russische Soldaten das Leben gekostet hat. Warum hat Putin immer noch so | |
| viel Zustimmung? | |
| Weil er nicht so ist wie Sie oder wie Ihre Leser. Er zählt nicht die | |
| gefallenen Soldaten, es ist ihm egal, wer lebt und wer tot ist. Ihm geht es | |
| nur um den Sieg seiner Armeen. Unter diesem Gesichtspunkt ist er völlig | |
| unmenschlich. Aber Vorsicht, wenn ich meinen Roman geschrieben habe, dann | |
| deshalb, weil die Geschichte von Putin uns alle tief interessiert, jeder | |
| von uns trägt in der Tat einen kleinen Gopnik in sich. | |
| Dies ist auch die These des Großinquisitors in Dostojewskis „Brüder | |
| Karamasow“. Wenn es in Russland so viel Bedarf für den starken Mann gibt, | |
| dann deshalb, weil wir „verängstigte Rebellen“ sind, sagt der Inquisitor zu | |
| Christus. | |
| Ich habe viel Dostojewski gelesen und bin zu dem Schluss gekommen, dass wir | |
| mehr als mutlose Rebellen Opfer unseres Menschenbildes sind. Das heißt, wir | |
| glauben, dass die Menschen an sich gut sind und dass nur die historischen | |
| und sozialen Umstände sie schlecht machen. Okay, und wer hat die schlechten | |
| Umstände geschaffen? Deshalb sind die Ideen von Rousseau sehr schöne Ideen, | |
| die leider nicht mit unserer unvollkommenen Wirklichkeit übereinstimmen. | |
| Ihrem Roman liegt also eine eher skeptische Sicht der menschlichen Natur | |
| zugrunde? | |
| „Der große Gopnik“ ist ein Roman über die menschliche Unvollkommenheit. | |
| Putins wahnwitzige Idee ist, dass Russland durch die Bestrafung des | |
| ukrainischen „Verräters“ vollkommener wird. Unsere Unvollkommenheit | |
| hingegen besteht darin, dass wir uns trotz aller digitalen Technologien | |
| weniger gut kennen als im alten Griechenland. Kurz gesagt, wir leben nicht | |
| nur in einem Zeitalter der Kriege, Diktaturen und Covids, sondern werden | |
| auch von einer tödlichen Epidemie der Dummheit heimgesucht. Und was ist | |
| Putins Diktatur anderes als der Triumph der Dummheit und der radikalen | |
| menschlichen Unvollkommenheit? | |
| Die russische Geschichte besteht nur aus tragischen Unvollkommenheiten: | |
| Zarismus, Stalinismus und heute Putinismus? | |
| In Russland haben wir keine wirkliche Geschichte, sondern ein Karussell, | |
| das sich ständig dreht, nur mit anderen Akteuren. Das russische Karussell | |
| ist mehr ein grausames Märchen als Geschichte, nach dem Zarismus und Stalin | |
| ist Putin auf das Karussell aufgestiegen, aber das Karussell ist immer noch | |
| an der gleichen Stelle. | |
| In Ihrem autobiografischen Roman „Der gute Stalin“ schreiben Sie, wie das | |
| Virus Stalin bis heute die russische Gesellschaft infiziert. | |
| Ja, und dieser Virus des Stalinismus ist auch nicht sehr rational. Wenn man | |
| alle Viren unserer Geschichte zusammennimmt, versteht man, warum wir so | |
| bedeutende Schriftsteller, Musiker und Maler haben: In Russland berühren | |
| wir die Unendlichkeit der menschlichen Unvollkommenheit, Grausamkeit und | |
| Idiotie. | |
| Sie sprechen aber auch von einem „magischen Totalitarismus“. Ist das die | |
| russische Variante des Totalitarismus? | |
| Es kam mir in den Sinn, unseren Totalitarismus in magisch umzubenennen, als | |
| ich „Der gute Stalin“ schrieb. Als Kind habe ich diese Art von Magie in | |
| meiner Umgebung in Moskau wahrgenommen. Ich wuchs unter Menschen auf, die | |
| an das sowjetische System als etwas Magisches glaubten. Ja, Putin hält den | |
| Mythos Stalin aufrecht, aber er ist kein Gläubiger. Er kann der Welt sein | |
| System nicht als magisch vorschlagen, sondern fühlt sich nur gezwungen, sie | |
| mit Bomben zu erobern. Das ist der klare Unterschied zur sowjetischen Zeit: | |
| Putin hat keine Vorstellung von der Zukunft. Der Westen mag heute sehr | |
| schwach sein, aber die Menschen, die hier leben, haben ihre eigene Zukunft. | |
| In Putins Russland hingegen fehlt den Menschen völlig der Horizont der | |
| Zukunft. | |
| Ja, aber heute erobert die extreme Rechte halb Europa: in Italien mit | |
| Giorgia Meloni, in Frankreich mit Le Pen, in Ungarn mit Orban. Ist der | |
| Nationalismus der gefährlichste Virus des 21. Jahrhunderts? | |
| Dass das Fieber des Nationalismus heute so weit verbreitet ist, ist in | |
| dieser Zeit der extremen Dummheit fast logisch. Die Idee, dass die eigene | |
| Nation die erste und besser ist als die anderen, spricht immer die | |
| Einfältigen an. Das ist es, was ich meinte, als ich von der Schwierigkeit | |
| sprach, die eigenen Unvollkommenheiten zu akzeptieren. Und dass wir alle | |
| danach streben, ein Gopnik zu sein, ein kleiner Mafioso mit einem Messer in | |
| der Tasche. | |
| Es gibt eine wunderbare Definition von Putin in dem Roman: „Er ist kein | |
| Leser“. Kurzum, Putin hasst Intellektuelle. | |
| Er hat einmal gesagt, er liebe die Philosophie Kants. Armer Kant! Ich | |
| erinnere mich an einen Abend im Jahr 2005 in Paris. Ich war dort mit | |
| anderen Schriftstellern, die von Chirac und Putin eingeladen waren. Der | |
| französische Präsident lobte „Der gute Stalin“ neben einem Putin, der | |
| bereits begonnen hatte, uns Schriftsteller zu unterdrücken. Dann betrat | |
| Putin das Podium, erwähnte Balzac und Dumas, und das war's. Als die | |
| Diskussion zu Ende war, wandte ich mich an Chirac und sprach mit ihm auf | |
| Französisch. Putin nahm mich beiseite, stellte sich mit gespreizten Beinen | |
| in seiner Bodyguard-Pose hin und rief: „Warum hast Du ihn auf Französisch | |
| angesprochen?“ Er hatte wohl Angst, dass ich ihn beim französischen | |
| Präsidenten schlecht mache. Sie sehen, auch diese Szene ist Teil des | |
| Karussells der russischen Geschichte. | |
| 26 Feb 2024 | |
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| Stefano Vastano | |
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