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# taz.de -- Teilwiederholungswahl zum Bundestag: „Eine merkwürdige Sache“
> Berlin wiederholt wegen der Wahlpannen die Bundestagswahl von 2021. Die
> Beteiligung ist schwach, das Ergebnis kommt erst weit nach Mitternacht.
Bild: In Berlin wurde am Sonntag die Bundestagswahl vom 26. September 2021 teil…
Berlin taz | So richtig weiß er nicht, was er sagen soll, auch wenn er der
Stargast des Abends ist. „Wir haben ja leider noch keine Zahlen“, sagt
Berlins CDU-Chef Kai Weger, Regierender Bürgermeister und damit sozusagen
Ministerpräsident des Stadtstaats. „Eine merkwürdige Sache“, fügt er noch
hinzu, als er um kurz nach 19 Uhr vor seinen Partyfreunden bei einer
Wahlparty im Bezirk Pankow im Nordosten Berlin steht. Tatsächlich ist so
vieles anders als sonst, als am Sonntagabend um 18 Uhr die Wahllokale für
die Teilwiederholung der Bundeswahl von 2021 schließen. Es gibt keine
Prognose, keine Hochrechnungen, keine Bildschirme mit hochschnellenden
Balken – und absehbar bis weit nach Mitternacht keine Klarheit, wer diesen
Wahltag dominiert hat.
54 Tage liegt bei Wegners Worten jener Dienstag kurz vor Weihnachten
zurück, an dem [1][das Bundesverfassungsgericht sein Urteil fällte], das
nun die von Wegner so beschriebenen merkwürdigen Folgen hat. Anders als das
Landesverfassungsgericht ein Jahr zuvor, [2][das die Wahlen zum
Landesparlament komplett wiederholen ließ], hielten die Bundesrichter eine
Teilwiederholung für ausreichend – in nur 455 von über 2.200 Wahlbezirken,
also gerade mal einem Fünftel. Hintergrund der Verfahren waren die
zahlreichen Wahlpannen am 26. September 2021, als in Berlin nicht bloß der
Bundestag, sondern auch das Landesparlament gewählt wurde
Schnell war klar: Auswirkungen auf die Mehrheit im Bundestag würde das
nicht haben. Auch Änderungen in den Wahlkreisen würden absehbar nur in zwei
von zwölf möglich sein – zu wenig Wahlberechtigte würden in den anderen
abstimmen dürfen, um an dem Ergebnis von 2021 etwas ändern zu können. Auch
[3][die fürs politische Überleben der Linkspartei im Bundestag
unabdingbaren beiden Berliner Direktmandate] würden ungefährdet sein.
Was wohl möglich war und schnell ins Zentrum bundespolitischer Bemühungen
um eine trotzdem hohe Wahlbeteiligung geriet: Die Angst, die AfD könne,
auch ohne Wahlkreisegewinne, ihre Anhängerschaft hochgradig mobilisieren
und prozentual stark zulegen. Gerade nach den Enthüllungen um ein Treffen
von Rechtsextremen in Potsdam riefen alle Parteien diesseits der AfD dazu
auf, mit einer hohen Wahlbeteiligung ein Signal auszusenden.
## Geringere Wahlbeteiligung
Diese Aufrufe zeigen bis zum späten Nachmittag nur beschränkt Wirkung. Bis
16 Uhr haben nur rund 40 Prozent der Wahlberechtigten gewählt – 2021 waren
es zum selben Zeitpunkt 57 Prozent, also fast die Hälfte mehr.
Bei der CDU-Wahlparty laufen die ersten Ergebnisse ein – man macht sich
Hoffnungen, zwei Wahlkreise übernehmen zu können, die 2021 an die SPD und
die Grünen gingen, und in denen nun in vielen der 455 Wahlbezirke nochmal
gewählt wird. In Charlottenburg-Wilmersdorf lag damals der frühere
Regierende Bürgermeister Michael Müller für die Sozialdemokraten vorne, in
Pankow der Grüne Stefan Gelbhaar. Wenn die Leute an diesem Sonntag so
abgestimmt haben wie in den jüngsten Wahlumfragen, könnte nun die CDU vorne
sein. Doch auch die Grünen, deren Kandidatin Lisa Paus seit 2022 als
Bundesfamilienministerin zusätzliche Bekanntheit hat, machen sich
Hoffnungen, Müller abzulösen
Skurrilerweise würde ein neuer CDU-Wahlkreissieg eine Frau um ihr Mandat
bringen, die mit Parteichef Wegner zur Wahlparty gekommen ist: Berlins erst
seit einem halben Jahr amtierende CDU-Generalsekretärin Ottilie Klein, mit
39 eine große Nachwuchshoffnung der Partei, rückte 2021 über die
Landesliste in den Bundestag. Die aber kommt nur zum Tragen, wenn die CDU
weniger Wahlkreise gewinnt, als ihr Parlamentssitze zustehen. Anders als
Klein würde SPD-Mann Müller im Bundestag bleiben, weil ihn die
SPD-Landesliste absichern würde.
Eine weitere landespolitische Folge wird an diesem Abend angesichts der
geringen Wahlbeteiligung immer wahrscheinlicher: Die Berliner Grünen
dürften, wegen weniger absoluter Stimmen bei den Zweitstimmen, einen
Bundestagssitz verlieren. Das beträfe ausgerechnet die Landesvorsitzende
der Partei, Nina Stahr, die wie Klein erst 2021 in den Bundestag kam.
## Auch SPD-Mann rechnete sich Chancen aus
Die ersten Ergebnisse, die von der Landeswahlleitung bei der CDU-Party
einlaufen, sehen zwar Gewinne bei CDU und AfD. Das Direktmandat der Grünen
in Pankow scheint allerdings nicht gefährdet. Doch sind die Zahlen in
keiner Weise gewichtet – es ist reiner Zufall, ob zuerst Ergebnisse aus
traditionellen Grünen-Hochburgen etwa im angesagten Ortsteil Prenzlauer
Berg oder aus ländlicheren, CDU-näheren Regionen des Bezirks einlaufen.
Erst für 1.30 Uhr am Montagmorgen hat Landeswahlleiter Stephan Bröchler das
Endergebnis angekündigt.
Der 2021 am Grünen Gelbhaar gescheiterte Pankower SPD-Direktkandidat Klaus
Mindrup zeigt sich schon zu Beginn seiner Wahlfeier, nur wenige Kilometer
von der CDU entfernt, skeptisch, dass es ihm gelingt, den Wahlkreis zu
gewinnen. „Ich hatte viel Unterstützung im Wahlkampf, aber ob das reicht?“,
sagt er zur taz. Klar sei, dass die Politik der Ampelregierung und damit
auch der SPD für ihn „weniger Rückenwind als Gegenwind“ gewesen seien.
Daher: „Wenn es heute klappen sollte, wäre es eine Sensation. Aber ich
könnte jetzt genauso gut versuchen, die Lottozahlen vorauszusagen.“
Die Laune ist trotzdem bestens im passabel besuchten kleinen Theater „Varia
Vineta“ in einem inzwischen auch bereits ordentlich durchgentrifizierten
Teil des Ostberliner Großbezirks Pankow. Rund 50 Genoss:innen und
Mindrup-Unterstützer:innen sind es, die sich zu der
„Wahlabend-Veranstaltung“ der SPD aufgemacht haben. Immerhin. Beim
offiziellen Gesamtberliner Wahlkampfabschluss in der Parteizentrale der
Bundes-SPD am Freitagabend waren es auch nicht mehr.
Einen „musikalischen Stargast“ hat sich der Mietenpolitiker Mindrup auch
noch ins Abendboot geholt: Der 2021 nach recht unschönen Machtmanövern der
Spitze der Hauptstadt-SPD aufs Abstellgleis geschobene Berliner
Umweltpolitiker Daniel Buchholz singt unter anderem „Strangers in the
Night“ von Frank Sinatra. Es gibt ein paar laut quietschende
Rückkopplungen. Stört aber keinen, es wird fleißig applaudiert. Buchholz
obliegt es, ab kurz vor 19 Uhr die Zeit des Wartens mit seinem
Unterhaltungsprogramm zu überbrücken.
## Warten auf neue Zahlen
Es ist ein Warten auf Zahlen. Warten aber auch auf die SPD-Landeschefin
Franziska Giffey, die sich als eine Art Reisekaiserin von der Veranstaltung
von Generalsekretär Kevin Kühnert, der sein Direktmandat in
Tempelhof-Schöneberg zu verteidigen hatte, weiter nach Pankow chauffieren
lässt.
Mindrup sagt: „Persönlich war das der beste Wahlkampf, den ich je erlebt
habe.“ Und der Parteilinke hat einige erlebt. Sowohl 2013 als auch 2017 und
2021 unterlag er dabei zunächst jeweils dem Kandidaten der Linken, zuletzt
dann eben dem der Grünen. Anders als Kühnert oder Exregierungschef Müller
ist Mindrup nicht über die Landesliste abgesichert. In diesem Winter warb
er mit dem Slogan „Neuanfang“ um Erststimmen. „Weil ich der Meinung bin,
dass die Ampel das braucht bei den Themen, in denen ich unterwegs bin:
Mieter- und Klimaschutz“, so Mindrup.
Lag der SPD-Politiker aufgrund der eigenartigen Ausgangslage mit rund 20
Prozent selbst im besonders wiederholungswahlbedürftigen Pankow
nicht-annullierten Erststimmen am Anfang des Wahlabends erst einmal vorn,
robbte sich der Grüne Gelbhaar recht bald immer näher an Mindrup ran. Als
Franziska Giffey gegen 20 Uhr dann auf ihrer City-Tour verspätet die kleine
Feier in Pankow erreicht und rund 70 Prozent der fast 260 Wahllokale im
Bezirk ausgezählt sind, liegt der SPD-Mann mit unter 17 Prozent bereits 9
Punkte hinter Gelbhaar mit 26 Prozent – und gefährlich nah am
drittplatzierten Kandidaten der rechtsextremen AfD, der zu dem Zeitpunkt
auf knapp unter 16 Prozent kam.
„Ich gehe gleich Kotzen, das hier bei uns in Pankow“, sagt eine
Landespolitikerin vom linken Parteiflügel mit Blick auf den AfD-Balken zur
taz. „Es sieht verheerend aus. Das ist gelaufen“, sagt Mindrup. „Man kommt
hier rein und denkt, die Stimmung ist jetzt nicht am Kochen“, ruft Giffey
den Gästen von der Theaterbühne aus zu. „Die Ergebnisse für die SPD sehen
gut aus. Und das ist eine gute Nachricht“, versucht sich die ehemalige
Regierende Bürgermeisterin als Motivatorin. Klaus Mindrup wird dann auch
noch mal von Giffey auf die Bühne geholt. Wieder Applaus. „Ja, dit hatta
auch vadient“, berlinert die Chefin munter ins Mikrofon. Der
Grünen-Kandidat liegt da bereits 10 Prozentpunkte vor Mindrup.
## Großer Andrang bei der Linkspartei
Einige hoffnungsvolle Gemüter haben sich zuvor durch den Regen in das
Karl-Liebknecht-Haus, die Parteizentrale der Linken gekämpft. „Der Saal ist
voll“, sagt die Abgeordnete und Moderatorin des Abends, Katalin Gennburg,
„das ist toll“. Bei ausreichend Proviant – und vor allem alkoholischer
Versorgung – feiern Kandidat*innen, Wählkämpfer*innen und
Parteimitglieder*innen den „skurrilsten Wahlkampf, den Berlin je
gesehen hat“.
Obwohl die Partei in den letzten Monaten „die eine oder andere Krise“
gesehen habe, wie ihr Berliner Landesvorsitzender Maximilian Schirmer
einräumt, habe der Landesverband einen „fantastischen Wahlkampf“ hingelegt.
Parteimitglieder berichten vom Straßenwahlkampf und Haustürgesprächen
an den über 6.000 Türen, die man abgeklappert habe. Dabei seien einem vor
allem von Herausforderungen berichtet worden, wie Mietpreiserhöhungen,
ausgefallenen Heizungen, fehlenden Aufenthaltsräumen für Jugendliche sowie
mangelnder Barrierefreiheit im ÖPNV, erzählen sie.
„Mit den Forderungen nach bezahlbarem Wohnraum, guter Gesundheitsversorgung
sowie ausreichend ausgestatteten Schulen und Kitas haben wir in diesem
Wahlkampf konkrete politische Themen vorgestellt“, ist vom Bundeschef der
Partei zu hören, Martin Schirdewan. „Hoffentlich hat das genug Leute
überzeugt, sodass wir mit unseren 4 Bundestagsabgeordneten weiterarbeiten
können.“
## Abgeordneter Meiser muss bangen
Um diese muss die Linke heute bangen. Zu befürchten ist, dass Pascal Meiser
aus Friedrichshain-Kreuzberg, der 2021 über die Berliner Landesliste der
Linken in den Bundestag einzog, sein Mandat nach Hessen, an Christine
Buchholz, abgeben muss. „Wir drücken die Daumen für Pascal“, sagt die
Co-Landesvorsitzende Franziska Brychcy.
„Ich bin stoisch, kämpferisch, gelassen“, sagt der Noch-Abgeordnete Meiser.
Man habe einen „unfassbar geilen“ Wahlkampf hingelegt. „Egal wie der Abend
ausgeht, darauf können wir aufbauen. Ich bin zuversichtlich gestimmt.“ Von
der Partei erhält er Rückenwind. Er sei immer sichtbar und habe für eine
positive Öffentlichkeit gesorgt, lobt ihn Schirdewan. Aber auch wenn es der
Linken nicht gelingen sollte, sein Mandat zu verteidigen, betont Brychcy:
„Pascal, wir sind stolz auf dich.“
11 Feb 2024
## LINKS
[1] /Urteil-zur-Pannenwahl-von-2021/!5977935
[2] https://wahlen-berlin.de/wahlen/BE2023/AFSPRAES/agh/index.html
[3] /Bundestagswahl/!5978606
## AUTOREN
Stefan Alberti
Rainer Rutz
Lilly Schröder
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