# taz.de -- Frauenkampf in Berlin: Im Stadtbild unsichtbar | |
> Über 100 Exkursionen bietet ein Netzwerk von Forscherinnen zur Geschichte | |
> der Frauenbewegung an. Die taz war mit auf Tour. | |
Bild: Die Victoria-Statue am Mehringplatz. Dort fand 1847 der Kartoffelaufstand… | |
BERLIN taz | Es ist 36 Jahre her, dass Claudia von Gélieu das erste Mal auf | |
dem Mehringplatz in Kreuzberg steht und über die Geschichte dieses Ortes | |
einen Vortrag hält. Eigentlich sollte es eine einmalige Aktion sein, | |
anlässlich des internationalen Frauenkampftags am 8. März 1988 wollte sie | |
zeigen, wie Frauen in der offiziellen Geschichte nicht vorkommen – obwohl | |
sie sie entscheidend mitprägen. | |
An diesem Platz, unweit des taz-Gebäudes, lässt sich das besonders gut | |
zeigen: Denn genau hier fand am 21. April 1847 der sogenannte | |
Kartoffelaufstand statt. Weil die Preise für Kartoffeln – dem | |
Hauptnahrungsmittel der armen Leute – infolge von Missernten im ganzen Land | |
rapide gestiegen und für die meisten nicht mehr bezahlbar waren, stürmten | |
die Frauen die Marktstände und nahmen sich, was sie brauchten. | |
Doch dabei sollte es nicht bleiben: Aus Unzufriedenheit über die Zustände | |
im Land zogen sie weiter durch die Stadt, schmissen Scheiben von Geschäften | |
ein, bis sie schließlich vor dem Palast des preußischen Königs ihren Unmut | |
kundtaten. Auch an anderen Orten, am Gendarmenmarkt und am Molkenmarkt | |
etwa, kam es zu Unruhen von „rabiaten Weibern“, wie es damals hieß. | |
[1][Die Proteste weiteten sich in den nächsten Tagen aus, die Menschen | |
strömten aus den Vororten nach Berlin], um sich den Frauen anzuschließen | |
und Freiheit und Demokratie zu fordern. Erst am dritten Tag gelang es dem | |
König, den Aufstand niederzuschlagen. Aber danach wurde es nicht mehr ruhig | |
in Berlin. „Das ganze mündete ein Jahr später in der Revolution 48. Aber | |
bezeichnenderweise steht in keinem Geschichtsbuch, dass die Frauen den | |
Anfang gemacht haben“, sagt Claudia von Gélieu. | |
## Denn genau am Mehringplatz fand am 21. April 1847 der sogenannte | |
Kartoffelaufstand statt | |
Mittlerweile hat die Frau mit den kurzen, grauen Haaren die Geschichte | |
schon sehr oft erzählt. Die 63-Jährige steht mit einer knallroten Jacke und | |
dazu passender Tasche mit dem Aufdruck „Frauentouren“ in der Sonne und | |
berichtet routiniert über die Ereignisse, die aus dem Aufbegehren der | |
Frauen folgten. „Dieser Kartoffelaufstand hat nicht nur für die allgemeine | |
Geschichte Bedeutung, sondern war auch für die Frauengeschichte ganz | |
zentral“, weiß Gélieu, die mittlerweile ein Netzwerk von | |
Frauengeschichtsforscherinnen aufgebaut hat, die über Orte in Berlin | |
informieren, an denen Frauen gelebt und gewirkt haben, die aber im | |
Stadtbild unsichtbar sind. | |
„Nach dem Scheitern der Revolution wurden in Preußen Gesetze erlassen, um | |
künftige Aufstände und Revolutionen zu verhindern. In denen stand, dass | |
Frauen sich nicht politisch organisieren dürfen“, sagt Gélieu der taz. Das | |
habe die Entstehung der Frauenbewegung zwar nicht verhindern können, aber | |
deutlich erschwert. „Die Mächtigen wussten genau, vor dem sie Angst haben | |
mussten.“ | |
Um sich trotzdem vernetzen zu können, [2][gründeten die Frauen | |
unverdächtige Organisationen], wie etwa den Kindergartenverein. Dort | |
organisierten sie nicht nur ganz praktisch die Kinderbetreuung, sondern | |
nutzten den Raum auch für politische Debatten. „Damit zog ein neuer Geist | |
bei den Frauen ein“, zitiert Gélieu Lina Morgenstern. Ungefährlich war das | |
nicht: Linke Frauengruppen und Arbeiterinnenvereine wurden drakonisch | |
bestraft. „Die Frauen wurden vor Gericht gestellt und ins Gefängnis | |
geworfen“, so Gélieu. | |
Ende des 19. Jahrhunderts änderten die Frauen dann ihre Strategie: Statt | |
sich in Vereinen zu organisieren, wählten sie Vertrauensfrauen, die | |
Versammlungen organisieren konnten, ohne unter die restriktiven | |
Vereinsgesetze zu fallen. Eine von ihnen ist Marie Juchacz, die auch | |
Gründerin der Arbeiterwohlfahrt ist. | |
## Linke Frauengruppen und Arbeiterinnenvereine wurden drakonisch bestraft | |
Mittlerweile ist eine Kollegin von Gélieu dazugestoßen, die sich auf die | |
Geschichten von Frauen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus | |
spezialisiert hat. Nicht weit vom Mehringplatz entfernt steht sie an einem | |
schmalen Grünstreifen vor einem bronzenen Denkmal, während hinter ihr die | |
Autos am Halleschen Ufer vorbeirasen. | |
„Hier ganz in der Nähe ist 1919 die Arbeiterwohlfahrt entstanden, deshalb | |
wurde 2017 am historischen Ort das Denkmal für Juchacz errichtet“, erzählt | |
Trille Schünke. Die meisten Passant*innen laufen achtlos an dem Gebilde | |
vorbei, erst bei näherem Hinsehen sind der Name Marie Juchacz und die | |
Wörter Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität zu erkennen. Entworfen wurde | |
das unauffällige Frauendenkmal von einem Mann. | |
Dabei war Juchacz eine bedeutende historische Persönlichkeit. „Ursprünglich | |
hat sie als Dienstmädchen gearbeitet, dann ist sie zur Fabrikarbeiterin | |
aufgestiegen, was damals mehr Freiheit bedeutete“, erzählt Schünke. „Spä… | |
war Juchacz die erste Frau, die in der verfassungsgebenden Weimarer | |
Nationalversammlung gesprochen hat.“ Das habe ihr damals einiges an | |
Gelächter von den Männern eingebracht. „Aber das ist ja heute teilweise | |
immer noch so, dass Frauen in Parlamenten nicht ernst genommen werden.“ | |
[3][Doch Marie Juchacz ist das egal. Bis 1933 sitzt sie für die | |
Sozialdemokrat*innen im Reichstag.] Nachdem die Nationalsozialisten | |
an der Macht sind, flieht sie zunächst ins Saarland, nach dessen Anschluss | |
an das Deutsche Reich nach Frankreich und schließlich in die USA, wo sie | |
ebenfalls die Arbeiterwohlfahrt aufbaut. „Sie war eine sehr bedeutende | |
Politikerin der SPD, aber der Parteivorstand, dem sie angehörte, hatte sich | |
entschieden, sie nicht mit ins Exil mitzunehmen“, erzählt Schünke. Auch | |
nach ihrer Rückkehr nach Deutschland nach Ende des Zweiten Weltkrieges sei | |
ihr nie die Anerkennung zuteil geworden, die sie verdient hätte. | |
## Marie Juchacz und die Wörter Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität | |
Geschichten wie diese gibt es in Berlin an vielen Orten zu erzählen, mehr | |
als 100 verschiedene Exkursionen bieten Frauentouren deshalb mittlerweile | |
in der Hauptstadt an. Die Frauen finden es wichtig, darauf hinzuweisen, wie | |
diese Geschichten bis heute nachwirken. „Sowohl Parteien als politische | |
Organisationsform als auch Parlamente in ihren Grundstrukturen sind in | |
einer Zeit entstanden, als Frauen sich nicht politisch engagieren durften. | |
Wenn es um Parität in Parlamenten geht, wird bis heute gesagt, dass sich | |
Frauen ja gar nicht für Politik interessieren“, sagt Claudia von Gélieu. | |
Die einzige Möglichkeit, die Frauen hatten, war, sich im sozialen Bereich | |
zu engagieren. „Doch wie kann Care-Arbeit nicht politisch sein? Schließlich | |
ist es die Grundlage unserer Gesellschaft.“ | |
Das Thema der unbezahlten und unsichtbaren Care-Arbeit war schließlich auch | |
eines der zentralen Themen der Frauenbewegung der 1970er Jahre. Um sichtbar | |
zu machen, was diese bis heute erreicht hat, hat Franziska Benkel eine | |
Karte erstellt, auf der zentrale Orte der Frauenbewegung und ihre | |
Geschichte zu finden sind. „Die offizielle Geschichtsschreibung der | |
deutschen Frauenbewegung ist sehr weiß und westdeutsch“, sagt Benkel der | |
taz. Diesen Diskurs, der die wichtige Rolle von migrantischen und | |
ostdeutschen Frauen ausblendet, will die Historikerin durchbrechen. | |
Aus Archiven und durch Zeitzeuginnenberichte hat sie mit Kolleginnen | |
Informationen gesammelt, die wichtige Orte in der Stadt markieren. Die | |
Karte beginnt in den 70er Jahren mit dem Frauenzentrum in Kreuzberg, über | |
die 80er Jahre etwa zu den Wirkungsorten von Audre Lorde. Die | |
afroamerikanische Feministin und Aktivistin, die in diesem Jahr 90 Jahre | |
alt geworden wäre, war oft in Berlin, gab Lesungen und Uni-Seminare. „Audre | |
Lorde hat den intersektionalen Feminismus nach Deutschland gebracht“, so | |
Benkel. Dass bei Diskriminierungserfahrungen Geschlecht, Ethnie und Klasse | |
zusammengedacht werden müssen, ist heute im Feminismus selbstverständlich – | |
damals war es das nicht. | |
Nicht nur Schwarze Frauen, insbesondere auch türkische Frauen sogenannter | |
Gastarbeiter aus der Türkei haben eine zentrale Rolle in der Frauenbewegung | |
gespielt, sie sei nur nicht so sichtbar gewesen, sagt Benkel. Das habe | |
durchaus auch zu Konflikten geführt. „Bei den weißen Feministinnen gab es | |
eine Farbenblindheit, die sich zum Teil bis heute durchzieht.“ Eine der | |
Stationen in Kreuzberg sind daher die migrantische Lesbenberatung und Las | |
Migras – seit den 70er Jahren bis heute wichtige Projekte für migrantische | |
Frauen und Queers. | |
## Auch türkische Frauen sogenannter Gastarbeiter aus der Türkei haben eine | |
zentrale Rolle in der Frauenbewegung gespielt | |
Die Karte endet in den 90er Jahren mit der ostdeutschen Frauenbewegung. | |
Diese sei zwar stark, aber nicht so institutionalisiert wie in | |
Westdeutschland gewesen. So sei das erste ostdeutsche Frauenhaus erst 1990 | |
entstanden – in Weltberlin war es 1976. „Häusliche Gewalt gab es in der DDR | |
offiziell nicht“, sagt Benkel. Auch an anderen, nichtkonformen | |
Frauenorganisationen habe das Regime kein Interesse gehabt. Häufig sei es | |
zunächst um Arbeitskämpfe gegangen – bis die Frauen dann gemerkt hätten, | |
dass sie auch in anderen Bereichen, etwa bei sexualisierter Gewalt, | |
ähnliche Erfahrungen teilen. | |
Heute sei die FLINTA-Bewegung, also für Frauen, Lesben, Inter-, Non-binäre | |
und Trans Personen, zwar nach wie vor stark, stehe aber häufig vor dem | |
Problem, angesichts explodierender Mieten an bezahlbare Räume zu kommen. | |
„Viele Anti-Gewalt-Projekte sind momentan gefährdet“, sagt Benkel. Die | |
Historikerin wundert das nicht: „Emanzipatorische Räume sind in einer | |
kapitalistisch-patriarchalen Gesellschaft natürlich nicht erwünscht.“ Das | |
betreffe nicht nur Frauen, sondern alle marginalisierten Gruppen. „Dort | |
formiert sich Widerstand, das ist selbstverständlich nicht gerne gesehen.“ | |
## Zumindest Audre Lorde soll nun den Respekt bekommen, den sie verdient, | |
und mit einer Straße in Berlin | |
Mit der Karte wollten Franziska Benkel und ihre Mitstreiterinnen all die | |
verschiedenen Projekte verbinden und zeigen, was für ein großes Netzwerk es | |
in Berlin gibt. Und es geht auch um Respekt: „Wir stehen auf den Schultern | |
der Menschen von damals.“ | |
Zumindest Audre Lorde soll nun den Respekt bekommen, den sie verdient, und | |
mit einer Straße in Berlin – dem nördlichen Teil der Manteuffelstraße in | |
Kreuzberg – geehrt werden. Vielen anderen feministischen Vorkämpferinnen | |
ist dies nicht vergönnt. Noch immer ist ein Großteil der Straßen und Plätze | |
der Hauptstadt nach Männern benannt. „In den vergangenen 30 Jahren hat sich | |
das verdreifacht, aber von Parität sind wir weit entfernt. Es gibt knapp | |
500 Straßen, die nach Frauen benannt sind – gegenüber 3.000 Männerstraßen… | |
sagt Claudia von Gélieu. | |
Das liegt auch daran, dass nach wie vor Männer bei Umbenennungen bevorzugt | |
werden, man denke etwa an den Rio-Reiser-Platz in Kreuzberg oder die | |
Debatte um die Umbenennung der M*-Straße in Anton-Wilhelm-Amo-Straße in | |
Mitte. Sicherlich ein Fortschritt zu vorher – aber nicht für die | |
Sichtbarkeit von Frauen. | |
7 Mar 2024 | |
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## AUTOREN | |
Marie Frank | |
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