# taz.de -- Kampf gegen Rassismus: Für ihn ist Hanau jeden Tag | |
> Vor vier Jahren ermordete ein Rechtsextremist in Hessen neun Menschen. | |
> Çetin Gültekin verlor seinen Bruder. Er fordert politische Konsequenzen. | |
Bild: Der Anschlag hat Çetin Gültekin zu einem anderen gemacht | |
Da ist dieses eine Bild, das Çetin Gültekin nicht mehr aus dem Kopf geht. | |
Der Körper seines Bruders Gökhan, übersät mit offenen Wunden, seine Arme, | |
Beine, sein Hinterkopf – fast überall wurde er aufgeschlitzt. Die Wunden | |
nur grob zusammengenäht, zugetackert oder offen gelassen, eine | |
Frischhaltefolie um den Bauch, um sie zuzuhalten. „Wenn du sowas siehst, | |
dann macht das einen anderen Menschen aus dir“, sagt Gültekin an einem | |
verregneten Tag Mitte Februar in Berlin, wo der Hanauer für eine Lesung zu | |
Gast ist. | |
Drei Tage lag der Körper seines Bruders am Tatort und in der | |
Gerichtsmedizin. Dann erst wurde er obduziert. Gültekin konnte sich vor der | |
Obduktion nicht von seinem Bruder verabschieden. Das wird er den Behörden | |
niemals verzeihen. Dunkle Schatten liegen unter den Augen des 50-Jährigen, | |
der leicht gebeugt auf einem Stuhl sitzt. Bis heute schläft er nur wenige | |
Stunden pro Nacht, mehr als zehn Kilo hat er seit dem 19. Februar 2020 | |
abgenommen. | |
Vier Jahre sind seit dem Attentat in Hanau vergangen, bei dem ein | |
Rechtsextremist neun Menschen und seine eigene Mutter brutal ermordete. | |
Vier Jahre, in denen Gültekin gemeinsam mit anderen Angehörigen im Rahmen | |
der Initiative 19. Februar für die Aufklärung des Attentats und gegen | |
Rassismus kämpft. | |
Ein Untersuchungsausschuss im hessischen Landtag kam Ende 2023 zu dem | |
Schluss, dass die Polizei und die Waffenbehörde Fehler gemacht haben. Doch | |
folgten keine politischen oder juristischen Konsequenzen. Mittlerweile sind | |
[1][alle Verfahren eingestellt]. Noch immer gibt es Streit zwischen der | |
Stadt und der Angehörigen-Initiative über den [2][Standort eines Mahnmals]. | |
Çetin Gültekin gilt als einer der lautstärksten Vertreter der Initiative. | |
## Schreiben als Therapie | |
Es gibt noch ein anderes letztes Bild mit Gökhan. Am Tisch beim gemeinsamen | |
Abendessen am 18. Februar. Als die Familie lachte und feierte. Der Vater | |
hatte verkündet, dass sich sein Krebs langsam zurückbildete, seine Werte | |
sich stabilisiert hatten. Alle freuten und umarmten sich. | |
Doch da ist auch Reue: „Jedes Mal, wenn Gökhan mich gebraucht hat, war ich | |
nicht da. Ich war ein Scheißbruder, deswegen versuche ich jetzt so viel für | |
ihn zu kämpfen“, sagt Çetin Gültekin heute. Ein Lächeln huscht nur am | |
Anfang und Ende des Gesprächs über seine Lippen. Es lässt erahnen, wer | |
dieser Mensch vor dem 19. Februar war. Sonst spricht vor allem die Wut, der | |
Schmerz und die Trauer. Das rassistische Attentat bestimmt auch vier Jahre | |
später Çetin Gültekins Alltag, Hanau ist für ihn jeden Tag. Der Kampf gegen | |
Rassismus ist zu seinem Lebensinhalt geworden. | |
Neben der Arbeit in der Initiative hat Çetin Gültekin gemeinsam mit Mutlu | |
Koçak ein Buch geschrieben. Die beiden lernten sich nach dem 19. Februar | |
kennen. Koçak ist Marketingberater, engagiert sich in seiner Freizeit in | |
der antirassistischen Bildungsarbeit. Das Buch erzählt vom Anschlag, den | |
Jahren danach, aber vor allem die Geschichte eines Bruders. | |
Aus diesem Buch liest Çetin Gültekin an diesem Februarabend im Berliner | |
Gorki-Theater. Der Saal ist voll, knapp 100 Leute sind gekommen, um etwas | |
vom Leben Gökhan Gültekins zu erfahren. Çetin Gültekin sitzt vorne, mit | |
seinem Mitautor Mutlu Koçak. Neben der Bühne sind Plakate von den beiden zu | |
sehen, auf denen sie Kapuzenpullover mit dem Gesicht Gökhans tragen: | |
#TeamGökhan. | |
Nach der Lesung wird ein Rapsong gespielt, der Gökhans Geschichte erzählt. | |
Koçaks kleiner Bruder hat ihn produziert. „Das ist nicht mein Buch, das ist | |
euer Buch“, ruft Gültekin dem Publikum entgegen. Er spricht, wie schon so | |
oft, über die fehlende Aufarbeitung des Hanau-Attentats, über das Leid der | |
Familien und von seinem eigenen Schmerz. Çetin Gültekin ist, ohne es zu | |
wollen, längst zu einer öffentlichen Person geworden. | |
## Hoffen auf Konsequenzen | |
Seit dem 19. Februar 2020 werden die Namen der Opfer immer wieder genannt, | |
der Hashtag #saytheirnames verbreitete sich weit im Internet, aber die | |
Biografien dahinter blieben oft verborgen. Das will Çetin Gültekin ändern. | |
Wenn politischer Aktivismus nicht ausreicht, um Konsequenzen aus dem | |
Anschlag von Hanau zu erwirken, kann er die Menschen vielleicht mit der | |
Geschichte seines Bruders wachrütteln, so seine Hoffnung. Und im Kleinen | |
dem Rassismus etwas entgegensetzen. | |
„Ich habe wirklich alles ausgepackt, in der Hoffnung, dass ich mit der | |
Geschichte die Sichtweise auf Menschen mit Migrationsgeschichte verändern | |
kann“, sagt Çetin Gültekin. Lange hat er mit der Frage gekämpft, ob er die | |
Biografie seines Bruders aufschreiben will. Auch in seiner Familie gab es | |
Vorbehalte. Denn zu dieser Geschichte gehört auch, dass Gökhan eine Zeit | |
lang auf eine kriminelle Bahn geriet. Dass er Opfer von Schlägereien und | |
Messerattacken wurde. Und seinen Lebensunterhalt eine Weile mit dem Dealen | |
von Cannabis verdiente. | |
Das tat er Çetin Gültekin zufolge auch deshalb, weil er nicht dem Stereotyp | |
eines „faulen Ausländers“ entsprechen wollte. Aufgrund eines Busunfalls war | |
Gökhan Gültekin jahrelang arbeitsunfähig, weigerte sich aber, Sozialhilfe | |
zu beantragen. Der Vater lebte ihm das vor, er kam als „Gastarbeiter“ aus | |
der Türkei nach Deutschland, sammelte selbst im Rentenalter noch Flaschen, | |
um seine Rente aufzustocken. Für Gökhan sei es deshalb eine größere Sünde | |
gewesen, Geld vom Staat zu nehmen, als sich selbst Geld auf kriminelle Art | |
und Weise zu verdienen, sagt sein Bruder. | |
Auch auf Schmerzensgeld verzichtete Gökhan Gültekin nach seinem Unfall. Der | |
Busfahrer hatte damals gerade erst seinen Führerschein gemacht, er war | |
selbst stark traumatisiert von der Tat, besuchte Gökhan zwei Mal im | |
Krankenhaus. „Mein Bruder hat gesehen, wie der Fahrer selbst unter dem | |
Unfall litt, deswegen wollte er kein Schmerzensgeld, so ein Mensch war er“, | |
sagt Çetin Gültekin. Kurz vor dem Attentat schien es in Gökhans Leben zum | |
ersten Mal wieder zu laufen, er startete eine Umzugsfirma, war | |
gesundheitlich wieder fit. Dann kam der 19. Februar. | |
## Weitermachen dem Bruder zuliebe | |
„Gökhan hat immer gesagt: mein Leben ist so krass, man sollte darüber ein | |
Buch schreiben“, sagt Çetin Gültekin. An seinem Grab habe er ihm | |
versprochen, bis an sein Lebensende Gökhans Geschichte zu erzählen. Die | |
Speditionsfirma, mit der Çetin Gültekin zuvor seinen Lebensunterhalt | |
verdiente, musste er aufgeben. Gemeinsam mit seinem 29-jährigen Sohn zog er | |
wieder bei den Eltern ein. Der Vater starb nur wenige Wochen nach dem | |
Attentat. Auch die Mutter wurde schwer krank, mittlerweile muss sie | |
permanent gepflegt werden. | |
Drei Jahre sei er durch die Hölle gegangen, aber das Schreiben war eine Art | |
Therapie, sagt Çetin Gültekin. Er wühlte in Erinnerungen, die er jahrelang | |
verdrängt hatte. Gemeinsam mit Mutlu Koçak führte er Gespräche mit der | |
Mutter, Freunden von Gökhan, seiner letzten Partnerin. Manchmal mussten | |
Koçak und er die Interviews abbrechen, konnten erst Tage später | |
weitermachen. Manche Gespräche musste Koçak alleine führen. | |
Zwischen den beiden Autoren entwickelte sich so eine tiefe Freundschaft. | |
„Gott hat mir einen Bruder genommen, aber mit Mutlu einen neuen Bruder | |
geschenkt“, sagt Çetin Gültekin über Koçak. Vieles von dem, was im Buch | |
erzählt wird, hat Gültekin erst durch die Recherche erfahren. Etwa, dass | |
sein Bruder Vater werden sollte, und davon selbst erst kurz vor dem | |
Attentat erfuhr. Wenige Tage nach dem Attentat verlor die Partnerin das | |
Kind. | |
Eng verbunden mit dem Schmerz sind die Schuldgefühle. Gültekin macht sich | |
Vorwürfe, dass er seinen Bruder nicht besser unterstützt hat, nicht genug | |
für ihn da war, um ihn davon abzuhalten, mit den falschen Leuten in Kontakt | |
zu kommen. Er bereut, dass er ihm nach dem Unfall nicht mehr beiseite | |
stand. Sein heutiges Engagement ist ein Weg, mit diesen Gefühlen umzugehen. | |
Spricht man mit Çetin Gültekin über die AfD oder die aktuellen Demos gegen | |
Rechtsextremismus, dann sagt er Sätze wie: „Irgendeine Staatsanwaltschaft | |
hat gerade ein rechtsextremes Manifest vor sich liegen und wartet darauf, | |
dass es in die Tat umgesetzt wird.“ Oder: „Was bringt es auf die Straße zu | |
gehen, wenn ich weiß, dass trotzdem ein Drittel der Bevölkerung ihr Häkchen | |
bei der AfD setzen würde? Die Leute müssen aufpassen, wen sie wählen.“ | |
## Auftanken am Jahrestag | |
In diesen Momenten spricht Frust aus Çetin Gültekin. Die fehlenden | |
Konsequenzen aus dem Anschlag haben sein Vertrauen in die demokratischen | |
Strukturen ins Wanken gebracht. Der einzige Moment, in dem er Hoffnung | |
schöpfte: Kurz nach dem Anschlag kündigte der damalige Bundesinnenminister | |
Horst Seehofer (CSU) an, das Waffenrecht verschärfen zu wollen. Die | |
Initiative 19. Februar war damals im Gespräch mit Seehofer. Doch das Gesetz | |
scheiterte. Zu groß war der Druck der Schützenlobby, wie der Spiegel damals | |
berichtete. | |
Trotzdem will und kann Çetin Gültekin nicht aufgeben. „Sein Kampf ist das | |
Einzige, was seinem Leben gerade Sinn verleiht“, sagt Mutlu Koçak. Gökhan | |
gebe ihm Kraft, sagt Çetin Gültekin immer wieder. Und auch die Liebe und | |
Wärme der anderen Angehörigen hielten ihn über Wasser. | |
Es sind nur noch wenige Tage bis zum 19. Februar. „Wir sind wie ein Auto, | |
einmal im Jahr kommen wir zusammen, um uns für den Rest des Jahres | |
aufzutanken“, beschreibt der 50-Jährige das jährliche Gedenken. Für | |
Freitag, Samstag und Montag sind bundesweite Demonstrationen angekündigt. | |
In Hanau wird es nur ein stilles Gedenken am Friedhof, aber keine | |
Gedenkfeier geben. [3][Das kritisierten Angehörige scharf]. | |
Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) wird wohl nicht kommen. Doch für den | |
Samstag planen die Hinterbliebenen eine eigene Gedenkdemo. „Kommt alle nach | |
Hanau!“, bittet Çetin Gültekin am Schluss seiner Lesung das Publikum in | |
Berlin. | |
18 Feb 2024 | |
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## AUTOREN | |
Sabina Zollner | |
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