# taz.de -- Proteste gegen die AfD: Da geht noch mehr | |
> Zehntausende gehen gegen den Faschismus auf die Straße. Um dessen Wurzeln | |
> zu beseitigen, sollte die Bewegung auch für Umverteilung streiten. | |
Bild: Antifaschismus vor repräsentativer Kulisse | |
In der vergangenen Woche ist das demokratische Deutschland aus seiner | |
Schockstarre erwacht. Regungsunfähig hatte die Zivilgesellschaft den | |
Vormarsch der Faschisten zuletzt nur noch passiv zur Kenntnis genommen. | |
Doch [1][die „Correctiv“-Recherche] hat die unverhohlene Brutalität | |
offengelegt, wie die Deportation von Millionen Menschen auf einem | |
Geheimtreffen geplant wurde, an dem finanzkräftige Unternehmer, | |
Rechtskonservative der Werte-Union der CDU, prominente AfD-Mitglieder und | |
Führungskader der neonazistischen Szene teilnahmen. Das endlich hat das | |
Fass zum Überlaufen gebraucht. | |
In Berlin haben in nur einer Woche drei Großkundgebungen mit vielen tausend | |
Teilnehmer:innen stattgefunden. Bundesweit zieht der Kampf gegen den | |
Aufstieg des Faschismus plötzlich wieder Zehntausende auf die Straße. Das | |
Momentum ist gekippt, [2][Antifaschismus ist wieder „in“]. Die Hoffnung ist | |
geweckt, dass hier tatsächlich eine Demokratiebewegung entstehen könnte, | |
die die offene Gesellschaft und die demokratischen und rechtsstaatlichen | |
Ideale gegen ihre Feinde zu verteidigen vermag. | |
Dafür wird es in den kommenden Wochen von entscheidender Bedeutung sein, | |
das gegenwärtige Moment der Entrüstung in eine längerfristig | |
handlungsfähige und schlagkräftige Bewegung zu kanalisieren. Es mag kein | |
guter Stil sein, journalistisch vom Seitenrand belehrende Texte zu | |
schreiben. Doch seien in diesen jungen Stunden der Bewegung einige | |
solidarisch-kritische Punkte angeführt, in der Hoffnung, dass in ein paar | |
Monaten nicht wieder die Antifas allein auf Anti-Nazi-Demos herumstehen. | |
## Protest muss dahin, wo er wehtut | |
Protestpsychologisch scheint zum Beispiel nicht ideal, dass alle drei | |
Berliner Proteste nicht als Demonstrationen, sondern als Kundgebungen | |
stattfanden – trotz Minusgraden und Schneefall. Denn auf Kundgebungen | |
friert man sich die Füße ab und lauscht passiv Redebeiträgen. Demos sind | |
dagegen eine kollektive Erfahrung: Man läuft zusammen, ruft Sprechchöre, | |
verleiht der Wut gemeinsam Ausdruck. So kanalisiert sich jenes magische | |
Gefühl, dass jede:n Einzelne:n spüren lässt: Hier und jetzt kann | |
Geschichte geschrieben werden, es macht Sinn, an diesem Ort zu sein, | |
gemeinsam mit den Menschen um mich herum. | |
Ebenfalls bezeichnend ist der Ort der Proteste. Zu allen drei Kundgebungen | |
wurde [3][zu repräsentativen Plätzen] mit hohem Symbolgehalt für die | |
Berliner Republik oder das Land Berlin gerufen: dem Kanzleramt, dem | |
Brandenburger Tor, dem Roten Rathaus. Die Wahl dieser Orte zeigt bereits, | |
nach welcher politischen Logik die Proteste organisiert wurden: Es ist die | |
des moralischen Appells, gewissermaßen die einer Petition an die | |
Herrschenden. Stattdessen sollte die Bewegung dahin, wo es weh tut: vor die | |
Parteibüros von CDU und AfD, die sich [4][in ihrer Hetzerei] viel zu sicher | |
fühlen – weil sie nicht damit rechnen müssen, auf den entschlossenen | |
Widerstand der Menschen zu treffen. | |
Nicht zufällig erinnert die bisherige Politstrategie an Fridays for Future, | |
eine der federführenden Organisationen hinter dem Großprotest am | |
vergangenen Sonntag auf dem Pariser Platz. Klimaaktivistin Luisa Neubauer | |
brachte diese Logik mit einem Satz auf den Punkt: „Wir liefern hier die | |
Bilder, vor denen Faschisten Angst haben.“ Es geht um die Produktion | |
eindrucksvoller Szenen für die Abendnachrichten, die Aufmerksamkeit | |
generieren und Politiker:innen von der Sache überzeugen sollen. | |
## Demoverbot für Olaf Scholz | |
Nur zeigt aber gerade das Scheitern der Klimabewegung, dass die Generierung | |
von Aufmerksamkeit nicht ausreicht, weil es für Veränderung auch den Aufbau | |
von Druck, von Gegenmacht, benötigt. Grundvoraussetzung dafür ist, dass | |
sich kein Olaf Scholz und auch kein:e andere:r Politiker:in der | |
Ampelregierung in die Proteste einreihen darf. Denn so wichtig es nun ist, | |
ein möglichst konsensfähiges Ziel zu formulieren: Die Bewegung kann nur | |
scheitern, wenn sie zu einer stumpfen Verteidigung der Regierung gegen ihre | |
Kritiker:innen degradiert wird. | |
Denn was beinhaltet das Ziel, die Verteidigung der offenen Gesellschaft? | |
Natürlich einerseits, dass man den Faschismus bitte nicht bekämpft, indem | |
man die Ziele der Faschos umsetzt. Genau diese Politik verfolgen aber | |
inzwischen auch SPD und Grüne, die mitmachen in dem würdelosen Wettstreit, | |
wer die Entrechtung migrantisierter Menschen schneller vorantreibt. Um es | |
klar zu sagen: Wer „im großen Stil“ (Olaf Scholz) und insgesamt schneller | |
(Ricarda Lang) abschieben will, dem muss ein deftiges antifaschistisches | |
Demoverbot ausgesprochen werden. | |
Aber auch darüber hinaus kann die Verteidigung von offener Gesellschaft und | |
Demokratie nicht bedeuten, die bestehenden Verhältnisse zu bejahen. Theodor | |
W. Adorno hat faschistische Bewegungen einmal als „Wundmale der Demokratie“ | |
bezeichnet, also als Folge davon, dass in der Klassengesellschaft das | |
Versprechen von demokratischer Freiheit und Gleichheit unerfüllt bleibt. | |
Eigentlich ist es eine banale Erkenntnis: Antifaschismus darf kein | |
moralischer Appell bleiben, sondern muss dem Faschismus seine Bedingungen | |
entziehen. | |
## Hunderttausende für Demokratie und Umverteilung | |
Schon 2004 sprach der Soziologe Colin Crouch von postdemokratischen | |
Verhältnissen. Es folgte die autoritäre Bewältigung der Finanz- und | |
Eurokrise, die deutlich machte, dass die Interessen der Banken und Konzerne | |
die des demokratischen Staatsvolkes im Zweifel übertrumpfen. Erst vor | |
wenigen Tagen hat [5][Oxfam einen neuen Bericht] vorgelegt, aus dem | |
hervorgeht, dass sich das Vermögen der reichsten fünf Menschen seit 2020 | |
verdoppelt hat, während 60 Prozent Weltbevölkerung ärmer geworden sind. | |
Soll die Demokratie verteidigt werden, muss das deshalb bedeuten, sie | |
überhaupt erst wieder richtig herzustellen. Bisher dreht sich die Strategie | |
der neuen Demokratiebewegung aber primär um [6][ein mögliches Parteiverbot | |
der AfD]. Und ja: Um die immanente Gefahr einer faschistischen | |
Machtergreifung zu stoppen, kann dieses Mittel eine entscheidende Rolle | |
spielen. Doch um die Millionen von AfD-Wähler:innen in die demokratische | |
Gesellschaft zurückzuholen, muss es darum gehen, konkrete materielle | |
Verbesserungen für die breite Masse der normalen Leute zu erstreiten. | |
Wäre das nicht ein gutes Etappenziel für die Demokratiebewegung: Dass | |
vielleicht im Sommer in Berlin Hunderttausende zusammenkommen, um für echte | |
Demokratie und Umverteilung auf die Straße zu gehen. | |
20 Jan 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://correctiv.org/aktuelles/neue-rechte/2024/01/10/geheimplan-remigrati… | |
[2] /Proteste-gegen-die-AfD/!5982930 | |
[3] /Demonstration-fuer-AfD-Verbot/!5985229 | |
[4] /CDUler-diffamiert-Anti-AfD-Proteste/!5983130 | |
[5] /Ungleichheit-vorm-Weltwirtschaftsgipfel/!5982853 | |
[6] /49-Abgeordnete-fuer-Pruefung/!5986396 | |
## AUTOREN | |
Timm Kühn | |
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