| # taz.de -- Jurist über Zukunft des Gazastreifens: „Das wäre keine Besatzun… | |
| > Wie könnte es politisch weitergehen mit Gaza? Verfassungsexperte Naseef | |
| > Naeem hat da ein paar Ideen – unter anderem eine arabische | |
| > Sicherheitsmission. | |
| Bild: Folgen israelischer Angriffe: Zerstörte Häuser in Gaza am 12. Dezember | |
| wochentaz: Herr Naeem, seit mehr als zwei Monaten bombardiert Israel den | |
| Gazastreifen, ohne dass es einen Plan für die Zeit danach gibt. Sie und Ihr | |
| Kollege Daniel Gerlach haben da eine Idee. Wie sieht die aus? | |
| Naseef Naeem: Unser Vorschlag basiert auf dem Prinzip „arabische | |
| Verantwortung“. Bis 1967 war Gaza ein Protektorat Ägyptens und wurde aus | |
| Kairo verwaltet. Statt aber nur Ägypten in die Verantwortung zu nehmen, | |
| könnte es eine arabische Sicherheitsmission in Gaza geben, die für die | |
| innere Ordnung sorgt und garantiert, dass keine Raketen auf Israel | |
| geschossen werden. Mit der Führung dieser multinationalen Streitmacht würde | |
| ein integerer arabischer Interimsgouverneur beauftragt. Im Gegenzug stellen | |
| die Israelis das Feuer ein und legen nicht auch noch den Rest Gazas in | |
| Schutt und Asche. Wichtig wäre, dass es eine Trennung gibt zwischen | |
| Sicherheitsaufgaben und einer noch zu bildenden Zivilverwaltung, in deren | |
| Zentrum die alteingesessenen Familien Gazas, die Notabeln, stünden. | |
| Sie sagen Sicherheitsmission, aber vor dem Hintergrund, dass noch über | |
| 20.000 Hamas-Kämpfer im Gazastreifen sind, müsste das eine robuste | |
| Militärmission sein. Wenn man ehrlich ist, wäre das eine arabische | |
| Militärbesatzung des Gazastreifens, oder? | |
| So würde ich das nicht bezeichnen. Die Israelis werden nicht aufhören, | |
| bevor sie die Machtstrukturen der Hamas zerstört haben. Wenn sie dann aber | |
| – wie angekündigt – nicht die Verantwortung übernehmen, bleibt ein Vakuum. | |
| Dies zu füllen wäre keine Besatzung. Außerdem geht es um eine Übergangszeit | |
| von wenigen Jahren. | |
| Im Zweifelsfall werden aber Soldaten aus Ägypten, Jordanien, Marokko oder | |
| den Emiraten gegen palästinensische Militante vorgehen müssen. Ansonsten | |
| wird Israel nicht mitmachen. Aber zur Zivilverwaltung: An welche Familien | |
| denken Sie? | |
| Gaza-Stadt ist eine alte Kultur- und Handelsmetropole am Mittelmeer mit | |
| alteingesessenen Händlerfamilien. In jeder dieser Familien gibt es | |
| herausragende Persönlichkeiten, die auch mit Hamas-Kämpfern reden können. | |
| Sie sollten zunächst einen Rat bilden. So würde man die spezifischen | |
| gesellschaftlichen Verhältnisse im Nahen Osten nutzen, um den Gazastreifen | |
| neu zu strukturieren. | |
| Wer wählt die Ratsmitglieder aus? | |
| Eine ständig tagende Gaza-Konferenz bestehend aus einigen arabischen | |
| Staaten, Israel, den USA, der EU und den UN. Die anfänglichen Verhandlungen | |
| sollten bilateral zwischen Israel und den arabischen Staaten geführt | |
| werden. So würde man mehr erreichen, als wenn das über die UN läuft. | |
| Baut Ihr Vorschlag auf historischen Erfahrungen in anderen Weltregionen | |
| auf? | |
| Ich denke an die Besatzungsmächte in Deutschland nach dem Zweiten | |
| Weltkrieg. Unter den vier Militärgouverneuren wurde zunächst die | |
| Zivilverwaltung aufgebaut. Die späteren Bundesländer wurden in ihren | |
| Verwaltungsstrukturen gebildet, während die Besatzungsmächte für die | |
| Sicherheit und außenpolitische Fragen zuständig blieben. Durch | |
| Verabschiedung des Grundgesetzes gingen die Länder schließlich in der | |
| Bundesrepublik auf. | |
| Eine Perspektive hin zu etwas Größerem, zu einem palästinensischen Staat | |
| etwa, fehlt in Ihrem Vorschlag für Gaza aber. Diese Woche erst hat die | |
| emiratische UN-Botschafterin gesagt, dass es einen ernsthaften Fahrplan hin | |
| zu einer Zweistaatenlösung brauche, bevor man über irgendein Engagement in | |
| Gaza sprechen könne. | |
| Es geht zunächst um eine provisorische Stabilisierung des Gazastreifens, um | |
| aus dieser verfahrenen Situation herauszukommen. Eine Lösung des | |
| Nahostkonflikts steht nicht zur Diskussion, auch wenn man sie natürlich im | |
| Auge behalten muss. Um das Problem der Palästinenser dauerhaft zu lösen, | |
| braucht das Volk einen Staat. Aber wie unser Vorschlag in einen Prozess hin | |
| zu einer Zweistaatenlösung eingebettet wird, ist Zukunftsmusik. Erst mal | |
| geht es um eine schnelle punktuelle Intervention, die auf die Kunst der | |
| Verhandlung setzt, bevor der Gazastreifen komplett zerstört ist. | |
| Unklar bleibt mir der Zeithorizont: Jetzt sagen Sie, es müsse schnell | |
| gehen, und fordern eine Feuerpause, aber eingangs sagten Sie, die Hamas | |
| werde komplett zerstört sein, wenn die arabische Militärmission ihre Arbeit | |
| aufnimmt. | |
| Seien wir realistisch! Die Israelis werden nicht aufhören, bevor es in Gaza | |
| keine Kraft mehr gibt, die Israel militärisch bedrohen kann. Wann die | |
| Feuerpause in Kraft tritt, das kann man nicht sagen. | |
| Dann plädieren Sie also zunächst für eine Fortführung des Krieges, bis die | |
| Hamas zerstört ist? | |
| Das sind die Fakten, danach sieht es aus. Als politische Kraft wird die | |
| Hamas aber möglicherweise fortbestehen. | |
| Wie stellen Sie sich vor, dass Israel das akzeptiert nach dem grauenhaften | |
| Massaker vom 7. Oktober? | |
| Die Hamas war bis 2006 eine politische Kraft unter anderen. Ob sie in | |
| Zukunft politisch aktiv ist ohne eigene Waffen, sei dahingestellt. Wenn die | |
| Israelis sagen, sie wollen die Hamas zerstören, kann damit nur die | |
| militärische Struktur gemeint sein, denn die Menschen kann man nicht alle | |
| umbringen. Politisch wird sie weiter existieren, vielleicht unter einem | |
| anderen Namen, aber das ist in der jetzigen Diskussion keine essentielle | |
| Frage. Jetzt muss es darum gehen, die Lage zu stabilisieren. | |
| Demokratisch ist Ihr Vorschlag aber nicht: Autokratische Staaten besetzen | |
| Gaza und ein nicht gewählter Rat übernimmt die Zivilverwaltung. | |
| Wie gesagt, wäre das keine Militärbesatzung, sondern ein Mandat. In der | |
| jetzigen Situation müssen wir pragmatisch sein, denn alle Lösungen für Gaza | |
| sind bislang gescheitert. Selbstverständlich bleiben viele Probleme, zum | |
| Beispiel auch die Ideologie, dass man Israel zerstören will, die tief | |
| verankert ist im gesamten arabischen Raum. | |
| Sind denn die alteingesessenen Familien frei von dieser Ideologie? | |
| Frei davon ist niemand. Aber die Diskussion über die Ideologie zu führen, | |
| führt zu nichts. | |
| Bevor wir über Israel sprechen: Welche Anreize hätten die arabischen | |
| Staaten, dabei mitzumachen? | |
| Erstens würden sie die flächendeckende Zerstörung des Gazastreifens stoppen | |
| und eine Lösung präsentieren können. Zweitens würden sie eine alte | |
| Tradition wiederbeleben und den Gazastreifen wieder unter arabische | |
| Herrschaft stellen, Gaza war ja nie ein unabhängiges Territorium. Drittens, | |
| und das ist wesentlich, wäre die israelische Besatzung des Gazastreifens | |
| beendet. | |
| Wäre Israel nicht verrückt, die Kontrolle über Gaza aus der Hand zu geben? | |
| Ägypten und Jordanien haben zwar schon lange Frieden geschlossen mit | |
| Israel, [1][andere Staaten wie Bahrain, die Emirate oder Marokko haben | |
| kürzlich ihre Beziehungen normalisiert.] Aber hervorgetan in seiner | |
| Freundschaft zu Israel hat sich keiner. | |
| Die Israelis wissen genau, dass die Hamas in zwei oder drei Jahren wieder | |
| aufersteht, wenn es einen militärischen Sieg ohne politische Lösung gibt. | |
| Für Israel ist es eine Frage der Sicherheit. | |
| Welche Konzessionen müsste Israel machen, damit sich arabische Staaten | |
| engagieren? | |
| Die Israelis müssen die Zerstörung Gazas stoppen und gewährleisten, dass | |
| Wasser, Strom, Treibstoff und so weiter geliefert wird. Inwiefern dafür die | |
| Blockade aufgehoben wird und Gaza über Land, Meer und eventuell auch über | |
| einen Flughafen versorgt wird, muss verhandelt werden. Außerdem braucht es | |
| ein sofortiges Moratorium für den Bau und die Erweiterung von Siedlungen im | |
| Westjordanland. Das ist ein Bonbon, das die Israelis in der Tasche haben. | |
| Gerade Israels aktuelle Regierung wird dazu aber kaum bereit sein. | |
| [2][Einige Minister sind Teil der Siedlerbewegung, leben selbst im | |
| Westjordanland.] Das sind überzeugte Ideologen. | |
| Im Gegenteil. Nur eine Regierung wie die aktuelle mit ihrer extremen | |
| Ausrichtung könnte das durchsetzen. Denken Sie an [3][Ariel Scharon, | |
| der 2005 als Regierungschef durchgesetzt hat, dass sich Israel aus dem | |
| Gazastreifen zurückzieht.] Ein gemäßigterer Politiker hätte das nie | |
| gemacht. | |
| 15 Dec 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jannis Hagmann | |
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