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# taz.de -- Israels Regierung unter Druck: Die Luft wird dünner
> Benjamin Netanjahu kämpft um sein politisches Überleben – sein Aus als
> israelischer Premier scheint eine Frage der Zeit. Was kommt danach?
Bild: Für sofortige Verhandlungen zur Geisel-Freilassung: Demonstration am Sam…
Berlin taz | Es war wohl die traurigste der vielen traurigen
Demonstrationen, die seit dem 7. Oktober vor dem Verteidigungsministerium
in Tel Aviv abgehalten wurden: „Das, wovor wir uns am meisten gefürchtet
hatten, ist eingetreten“, sagte Agam Goldshtein am Samstagabend auf der
Bühne. Die 17-Jährige wurde im November mit ihrer Mutter aus der
Hamas-Gewalt befreit. Während der wochenlangen Geiselhaft, erzählte sie,
hatten beide große Angst davor, von israelischen Bomben getötet zu werden.
Nun ist es anderen geschehen: Am Freitag sind drei israelische Geiseln im
Norden des Gazastreifens versehentlich vom israelischen Militär getötet
worden. Den Geiseln war es offenbar gelungen, den Terroristen zu
entkommen. Erste Untersuchungen ergaben, dass die Männer mit nacktem
Oberkörper und mit einer behelfsmäßigen weißen Fahne auf die Soldaten
zugegangen waren und auf Hebräisch „Hilfe“ gerufen hätten. Die israelisch…
Soldaten hatten sie allerdings für Terroristen gehalten und geschossen.
Armeechef Herzi Halevi zufolge haben die Soldaten, die das Feuer
eröffneten, damit gegen die Vorschriften verstoßen. Er betonte jedoch die
Komplexität der Kämpfe in Gaza. Die Armee hatte in den letzten Tagen über
die Tricks von Hamas-Terroristen berichtet, die sich als Zivilisten
gekleidet und hebräisches Radio abgespielt hätten, um Soldaten in einen
Hinterhalt zu locken.
Die Streitkräfte hatten prompt die Verantwortung für den tragischen Fehler
übernommen. Israels Ministerpräsident jedoch versteckte sich hinter
Armeesprecher Daniel Hagari, der die Nachricht der Öffentlichkeit
übermittelte. Verantwortung für Fehler zu übernehmen, ist Benjamin
Netanjahus Sache nicht. Bis heute warten die Israelis auf eine
Entschuldigung von ihm dafür, dass der Hamas-Überfall vom 7. Oktober nicht
verhindert werden konnte.
## Düstere Umfragewerte für Netanjahu
Tausende Demonstrant*innen forderten am Samstag gemeinsam mit
Goldshtein die sofortige Wiederaufnahme von Verhandlungen mit [1][der
Hamas], um die Freilassung der restlichen 129 Geiseln zu erreichen:
„Sofort“, skandierten sie wiederholt.
Der Unmut der Öffentlichkeit über das Versagen ist nicht zu übersehen und
-hören. Und alle wissen: Wenn sich die ersten Wogen des Krieges gelegt
haben, wird abgerechnet. Zwar hat Israel seit zwei Monaten eine
Notstandsregierung (in der auch die Opposition vertreten ist), doch der
Druck auf die gewählte rechtsreligiöse Regierung ist immens. Es scheint nur
eine Frage der Zeit zu sein, bis sie abtreten muss.
Um Netanjahus Umfragewerte steht es düster: Seine Likud würde im Fall von
Neuwahlen ihre Sitze fast halbieren und von 32 auf 18 fallen. Die anderen
Parteien seiner Regierungskoalition verlieren ebenfalls massiv an Rückhalt.
Die Werte für Oppositionspolitiker Benny Gantz hingegen schnellen in die
Höhe: Statt der 12 Sitze, die seine Partei jetzt im Parlament hat, würde
sie 43 Mandate einfahren. Doch bislang hat sich Netanjahu noch aus den
brenzligsten Situationen herauswinden können.
So versucht er auch diesmal wieder, sein politisches Überleben zu sichern.
Während der Gazakrieg tobt, ist Netanjahu in den Wahlkampfmodus
gewechselt. Die Kernaussage seiner Kampagne lässt sich laut israelischen
Kommentator*innen auf eine einfache Formel bringen: „Mit Netanjahu
wird es keinen palästinensischen Staat geben. Gantz will einen
palästinensischen Staat. Wählt Netanjahu.“
Kürzlich eröffnete er seinen inoffiziellen Beginn des Wahlkampfes mit einem
Knall: „Die Zahl der Todesopfer von Oslo“, propagierte Netanjahu: „sei
identisch mit der vom 7. Oktober.“ Netanjahu meinte damit die Osloer
Abkommen von 1993 und 1995, die den Palästinensern durch die Einrichtung
der Palästinensischen Autonomiebehörde ein gewisses Maß an Selbstverwaltung
gewährten. Die Empörung war groß angesichts dieser verzerrenden
Gleichsetzung. Selbst die Zeitung Israel Hayom, die lange als Hausblatt des
Ministerpräsidenten galt, [2][berichtete über Kritik aus dessen eigenen
Reihen]. Er habe mit dieser Äußerung eine rote Grenze überschritten, so der
Vorwurf.
## Wer auch immer nachfolgt, wird es schwer haben
Oppositionsführer Jair Lapid warf Netanjahu ein Maß an „Zynismus“ vor, das
unmöglich zu verstehen sei. Netanjahu führe in einer Zeit wie dieser eine
„üble politische Kampagne“, deren einziger Zweck es sei, die Verantwortung
von ihm abzulenken, anderen die Schuld zu geben und Hass zu schüren.
Technisch gibt es zwei Möglichkeiten, die Regierung abzulösen:
Misstrauensvotum oder Neuwahlen. Netanjahu dürfte ein Misstrauensvotum
vorziehen. Denn die Knesset bliebe in diesem Fall mit der jetzigen
Sitzverteilung bestehen. Für Netanjahu steht im Zentrum, weiter in der
Politik mitmischen zu können – selbst wenn er als Premier abgesetzt wird.
Er dürfte hoffen, in absehbarer Zukunft dann erneut Regierungschef zu
werden, wenn sein potenzieller Nachfolger gescheitert sein wird. Denn klar
ist: Wer auch immer das Amt von Netanjahu übernehmen wird, dürfte es schwer
haben. Denn es gilt, den Riss innerhalb der israelischen Gesellschaft zu
kitten.
Netanjahu bereitet sich auch für den Fall von Neuwahlen vor – und richtet
seine Kampagne entsprechend aus. Auch wenn seine Oslo-Äußerung heftig
kritisiert wurde – mit dem vermeintlichen Drohszenario eines
palästinensischen Staates trifft er einen Nerv. Zwar zeigen jetzige
Umfrageergebnisse, dass die Israelis bei Neuwahlen Parteien links von der
jetzigen Regierung wählen würden. Doch dies ist vor allem dem Umstand
geschuldet, dass es schlichtweg keine Parteien rechts von der jetzigen
Regierung gibt. Insgesamt ist die Gesellschaft mit dem 7. Oktober nach
rechts gerückt, [3][die Zustimmung zu einer Zweistaatenlösung gesunken].
## Was soll aus Gaza werden?
Ein*e Nachfolger*in wird außerdem eine Möglichkeit finden müssen, die
Gebiete an den Grenzen des Landes zu sichern, vor allem die südliche nach
Gaza und die im Norden zum Libanon hin. Noch immer sind rund 80.000
Bewohner*innen aus Ortschaften nahe der libanesischen Grenze evakuiert.
Viele befürchten, bei einer Rückkehr den Hisbollah-Angriffen ausgesetzt zu
sein.
Und dann ist da noch eine weitere zentrale Frage, die Netanjahu sich
weiterhin weigert zu beantworten: Was soll aus Gaza werden? Anders als
Netanjahu proklamiert, steht auch Benny Gantz nicht für die Idee einer
Zweistaatenlösung – und es gibt kein*e Anführer*in am Horizont, der
oder die den Mut und die Kraft hätte, die Vision in dieser Zeit
anzuschieben.
Die einzige Hoffnung in dieser Hinsicht kommt aus den USA. Das Weiße Haus
versucht, seinen langen Hebel zu nutzen, um eine Zweistaatenlösung zu
erzwingen.
Bei einer Spendengala in Washington sagte Präsident Joe Biden jüngst, dass
Netanjahus rechtsgerichtete Regierung riskiere, die internationale
Unterstützung für die militärische Kampagne seines Landes gegen die Hamas
zu untergraben, wenn sie sich weigere, eine Zweistaatenlösung für die
Palästinenser*innen zu unterstützen. Ob auf das mögliche Ende der
Regierung Netanjahu auch ein politischer Richtungswechsel folgt, scheint
derzeit auch von Washington abzuhängen.
Zuletzt wurde immerhin berichtet, dass Israel und Katar wieder über die
Freilassung von Geiseln und eine Feuerpause verhandeln. Das Treffen von
Beamten beider Staaten fand, ausgerechnet, in Oslo statt.
17 Dec 2023
## LINKS
[1] /Kritik-an-Israel-wird-schaerfer/!5976682
[2] https://www.israelhayom.com/2023/12/12/netanyahu-in-full-campaign-mode-liku…
[3] https://pcpsr.org/en/node/928
## AUTOREN
Judith Poppe
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