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# taz.de -- Prozess wegen Antisemitismus: Schläge für Kritik an Gepöbel
> Nach einer tätlichen Auseinandersetzung in einer Kneipe steht ein Bremer
> vor Gericht. Der Auslöser sollen antisemitische Äußerungen gewesen sein.
Bild: Nicht für alle selbstverständlich: Solidarisierung gegen Antisemitismus
Bremen taz | Als Roland E. am 26. August 2022 in seine Stammkneipe, den
Druiden, geht, freut er sich auf den Feierabend. Stattdessen kommt es zur
Auseinandersetzung mit einem anderen Gast: Roland E. wirft diesem vor,
wiederholt antisemitische Beleidigungen – unter anderem „Judensau“ –
gerufen zu haben und will ihn aus der Kneipe werfen. Zur Hilfe kommt ihm
dabei niemand. Es kommt zu Handgreiflichkeiten, die Situation eskaliert.
Roland E. erleidet in der Folge einen Schlaganfall.
Mehr als ein Jahr später, am 1. Dezember 2023, sitzen beide im
Gerichtssaal, Roland E. als Nebenkläger und Zeuge, Yvo S. als Angeklagter.
Der Vorwurf: Misshandlung mit einem Werkzeug und Widerstand gegen
Vollstreckungsbeamte. Die antisemitischen Beleidigungen werden in der
Anklage der Staatsanwältin nicht erwähnt, Rückfragen stellt sie dazu auch
nicht.
[1][Antisemitismus ist in Deutschland alltäglich]: Da sind nicht nur die
Übergriffe, die sich seit dem Terrorangriff der Hamas am siebten Oktober
häufen. Da gibt fast ein Drittel der Deutschen [2][in einer Umfrage im
Auftrag von Statista an, schon einmal an Verschwörungserzählungen geglaubt
zu haben]. Da ist Hubert Aiwanger, der trotz seiner Nazi-Flugblatt-Affäre
wiedergewählt wird.
Da gibt es jahrhundertealte antisemitische Reliefs am Bremer St. Petri Dom
und den jahrelangen Widerstand gegen [3][das Mahnmal vor der Spedition
Kühne + Nagel, die im Nationalsozialismus von der „Arisierung“ jüdischen
Eigentums profitiert] hat. Trotzdem fokussiert sich die gegenwärtige
politische Debatte auf vermeintlich „importierten“ Antisemitismus und
rassistische Vorschläge zu dessen Bekämpfung.
## Einsame Stimme
Der Fall vor dem Bremer Amtsgericht zeigt: Man könnte auch einfach vor der
eigenen Kneipentür anfangen, Antisemitismus zu bekämpfen. Als Zeuge
geladen, berichtet Roland E., er habe schon durch die offene Tür die
Stimmen der beiden jungen Männer gehört, die antisemitische Beleidigungen
gebrüllt hätten.
Daraufhin habe er sie konfrontiert und zum Gehen aufgefordert – als
Einziger, das betont er immer wieder. „Weil ich Antisemitismus und
Rassismus nicht haben kann“, erklärt der Anfang 60-Jährige schlicht.
Mittlerweile hat er sich von dem Schlaganfall erholt, muss aber weiterhin
Medikamente nehmen.
Der Beschuldige – er nennt ihn nur „die Person zu meiner Linken“ – habe…
Konflikt eskaliert, ihn mit einem Bierhumpen angegriffen. Er selbst habe
eine Säge aus seinem Lastenrad genommen und zur Verteidigung vor sich
gehalten. Ab da könne er sich nur an wenige Details der Situation erinnern:
Eine Folge des Schlaganfalls.
Yvo S. wird während der Zeugenaussage unruhiger. Er ist Anfang 30, nur halb
so alt wie der Mann, den er angegriffen haben soll. Zu Beginn der
Verhandlung hat er angegeben, sich nicht mehr an den Abend erinnern zu
können. Er habe alles vergessen oder verdrängt, sei sehr betrunken gewesen.
Eine Blutuntersuchung hat laut dem Anwalt des Nebenklägers lediglich 0,4
Promille ergeben.
Der Angeklagte sitzt allein auf dem zweiten von fünf Stühlen der
Anklagebank. Er ist blass und sein Gesicht wirkt angespannt. Einen
Rechtsbeistand hat er nicht und Pflichtverteidiger*innen stellen
deutsche Gerichte nur in manchen Fällen. Für Vergehen, bei denen das
Mindeststrafmaß unter einem Jahr Freiheitsentzug liegt und die auch sonst
keine besonderen Kriterien wie ein drohendes Berufsverbot erfüllen, müssen
sich Angeklagte eine Anwältin selbst leisten können.
Die meiste Zeit schaut Yvo S. geradeaus, manchmal knibbelt er an seinen
Händen herum. Aber als Roland E. erklärt, er wisse nicht, ob der Angeklagte
sich zur Provokation oder aus politischer Überzeugung antisemitisch
geäußert habe, schüttelt er erst stumm den Kopf und sagt dann aufgebracht,
aber deutlich: Nie habe er ein Wort wie „Judensau“ gesagt, er sei
keinesfalls rechts, habe Roland E. nicht beleidigt.
Aber er entschuldigt sich auch: Als er von dem Schlaganfall erfahren habe,
habe er sich wochenlang Sorgen gemacht. Die Richterin fragt Roland E., ob
er die Entschuldigung annehme. Der hat den Kopf abgewandt. Er nehme sie
erst mal zur Kenntnis.
## Kaum Fragen zum Antisemitismus
Nach und nach werden fünf weitere Zeugen geladen. „Bisschen eskaliert“, sei
der Abend, stellt einer fest. Alle bestätigen, dass der Angeklagte sich
antisemitisch geäußert habe. Zwar erwähnt keiner das Wort „Judensau“, ab…
„Du Jude“, „Scheiß Jude“, „Judenfreund“ oder „Judenarsch“ habe…
gehört.
Trotzdem hat nur Roland E. Haltung gegen Antisemitismus gezeigt. Die
anderen Zeugen haben sich erst eingeschaltet, als es zur tätlichen
Auseinandersetzung kam – auch die, die die Äußerungen bereits zuvor gehört
hatten. Einer berichtet sogar, er habe versucht, Roland E. zu
beschwichtigen: „Wir haben zu ihm gesagt, er soll einfach reinkommen und
fertig.“ Ob er und seine Bekannten danach weiter über den Vorfall geredet
hätten, fragt der Anwalt des Nebenklägers. Der Zeuge verneint. Sie seien ja
zum Dartspielen dagewesen.
[4][Rückfragen zum Vorwurf des Antisemitismus] stellt die Richterin nur
einmal, die Staatsanwältin gar nicht. Am 22. Dezember 2023 soll die
Verhandlung fortgesetzt werden. Ob die mutmaßlichen Äußerungen im Urteil
erwähnt werden, ist noch unklar.
3 Dec 2023
## LINKS
[1] /Gedenkstaette-geschaendet/!5967083
[2] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1181801/umfrage/glauben-an-v…
[3] /Arisierungs-Profiteur-Kuehne--Nagel/!5956480
[4] /Diskussion-Antisemitismus-und-Justiz/!5974718
## AUTOREN
Selma Hornbacher-Schönleber
## TAGS
Antisemitismus
Prozess
Justiz
Gericht
Bremen
Juden
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Postkolonialismus
Schwerpunkt Stadtland
Antisemitismus
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