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# taz.de -- Gil Ofarim und Antisemitismusvorwürfe: Sie lieben den Lügner
> Gil Ofarim hat zugegeben, dass er einen Antisemitsmusvorwurf erfunden
> hat. Aber nicht er ist schuld daran, dass Antisemitismus verharmlost
> wird.
Bild: Spontane Demonstration gegen Antisemitismus 2021 vor dem Westin Hotel in …
Eigentlich hatten wir den Antisemitismus in Deutschland schon fast besiegt.
Juden und Jüdinnen konnten endlich friedlich hier leben: Judenfeindliche
Parolen auf Demos, tägliche Angriffe und Drohungen gehörten der
Vergangenheit an. Antisemitismus spielte bei uns einfach keine Rolle mehr,
wir hatten ihn erfolgreich bekämpft. Doch dann kam [1][Gil Ofarim, erfand
eine antisemitische Tat] und hatte mit einer einzigen Lüge alles wieder
zunichte gemacht.
Dieses Szenario ist Quatsch und hat nur wenig mit der bundesdeutschen
Realität zu tun. Aber wer die Debatte um den jüdischen Sänger verfolgt hat,
kann schnell das Gefühl bekommen, Ofarim sei der Hauptschuldige für das
strukturelle Problem mit Judenhass in Deutschland. Denn nachdem er im
Prozess gestanden hatte, einen antisemitischen Vorfall erfunden zu haben,
überschlugen sich die Kommentare.
Ofarim habe eine „ganze Region in den Schmutz“ gezogen. Sein Fall erwiese
dem Kampf gegen Antisemitismus „einen Bärendienst“ oder sei gleich eine
„Katastrophe“. Denn wegen seiner Lüge würden die Menschen jetzt erst recht
ihrem Judenhass Raum geben, Opfern keinen Glauben mehr schenken und sich
nicht mehr hinter sie stellen.
Klar, es ist nicht in Ordnung, was Ofarim getan hat. Weil er keine Lust
hatte, an der Rezeption eines Hotels Schlange zu stehen, beschuldigte er
den Leipziger Hotelmanager in einem Video, dass er ihn aufgrund seiner
Halskette mit Davidstern vom Check-in abgehalten habe. Zwei Jahre ist es
her, in der Folge erfuhr er große Solidarität. Am Tag nach der
Veröffentlichung gab es eine Demo mit 600 Personen, es folgten
Boykottaufrufe gegen das Hotel – alles begleitet von einem großen
Medienecho. Doch schnell gab es Zweifel an der Schilderung, der Fall
landete schließlich vor Gericht, wo Ofarim sich wegen Verleumdung und
falscher Verdächtigung verantworten musste.
## Eine faule Ausrede
Im Prozess hat er nun seine Lüge gestanden, sich beim Hotelmanager
entschuldigt, der die Entschuldigung angenommen hat. Jetzt steht nur noch
eine Strafe von 10.000 Euro aus. Und dann ist der Fall erledigt. So unfair
seine Lüge gegenüber dem Hotelmanager und so egozentrisch sein Verhalten
gewesen sein mögen, ihm nun quasi die Schuld am Versagen im Kampf gegen
Antisemitismus zu geben, ist falsch. Denn welche Rolle seine Lüge im
hiesigen Kampf spielen wird, entscheiden wir als Gesellschaft selbst.
Gerade erst hat der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen
Antisemitismus (RIAS) neue Zahlen zu antisemitischen Vorfällen
veröffentlicht. Seit dem Angriff der Hamas auf Israel bis zum 9. November
haben sie 994 antisemitische Straftaten in der Bundesrepublik dokumentiert.
Doch 29 antisemitische Fälle pro Tag scheinen das Land nicht annähernd so
stark umzutreiben wie der Fall eines Lügners. Sie werden im schlimmsten
Fall ignoriert und heruntergespielt oder ihnen wird zumindest nicht
entschieden genug entgegengetreten.
Dass diskriminierende Strukturen verharmlost und Einzelfälle von
Lügner_innen hochgejazzt werden, kennen wir auch aus anderen Bereichen wie
etwa dem der sexualisierten Gewalt. Wenn Betroffene geschlechtsspezifischer
Gewalt ihre Erfahrungen öffentlich machen und einen Schuldigen benennen,
schlägt ihnen oft Misstrauen entgegen. „Ach, das kann ich mir bei dem gar
nicht vorstellen!“, „War es wirklich so schlimm?“ oder „Kannst du das d…
belegen?“, heißt es dann. Die letzten [2][medienwirksamen #MeToo-Fälle] in
Deutschland haben gezeigt, wie virulent noch immer das Narrativ der
lügenden Frau ist.
Doch dass die Gesellschaft Opfern von sexualisierter Gewalt keinen Glauben
schenkt, liegt nicht daran, dass es da einmal eine lügende Frau gab (die es
in Einzelfällen natürlich gibt), sondern dass wir nicht bereit sind,
anzuerkennen, wie groß unser Problem mit Sexismus ist und welchen Teil wir
selbst dabei spielen. Der oder die Lügner_in wird so zu einer faulen
Ausrede, um sich nicht mit seinen eigenen Problemen auseinanderzusetzen.
Zu so einer faulen Ausrede scheint nun auch Gil Ofarim zu werden. Denn wenn
die Aufregung über diesen einen Lügner lauter bleibt als die Aufregung über
die täglich ansteigenden antisemitischen Straftaten, dann entlarvt sich die
Gesellschaft selbst.
29 Nov 2023
## LINKS
[1] /Prozess-wegen-Antisemitismus/!5970286
[2] /Zwei-Jahre-MeToo/!5627998
## AUTOREN
Carolina Schwarz
## TAGS
Antisemitismus
Schwerpunkt #metoo
Leipzig
GNS
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Schwerpunkt Nahost-Konflikt
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