# taz.de -- Debatte ums Turbo-Abi in Hamburg: Mehr Zeit für Gymnasiasten? | |
> In Hamburg sammeln Eltern Unterschriften dafür, das Abitur an Gymnasien | |
> wieder nach neun Jahren zu machen, statt nach acht. Ein Pro- und Contra. | |
Bild: Am Ende sieht die Prüfung gleich aus. Aber wie viele Schuljahre sollten … | |
## Ja, Hamburgs Gymnasien sollten zu G9 zurückkehren | |
Das Ziel der [1][Schulzeitverkürzung] war ein rein ökonomisches: | |
Schülerinnen und Schüler sollten ein Jahr früher ihre Ausbildung oder ihr | |
Studium beginnen und entsprechend früher Steuern und Sozialabgaben zahlen. | |
Diese Rechnung ging jedoch nicht auf, wie eine Studie des Deutschen | |
Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) belegt. Jugendliche, die unter G8 | |
Abitur machten, nehmen etwas seltener ein Studium auf, brechen es häufiger | |
ab und wechseln häufiger das Studienfach oder legen eine Pause ein. | |
In den meisten alten Bundesländern [2][führte das zu einem Umdenken] und | |
einer Rückkehr zu G9. Obwohl also das Ziel verfehlt wurde, schweigt die | |
Bildungspolitik in Hamburg. Der Schulfrieden, der 2010 beschlossen worden | |
ist, wurde [3][ohne Einbindung der betroffenen Gremien um weitere fünf | |
Jahre] verlängert. Das blockiert nun jede kritische Reflexion des | |
G8-Projektes. Und dass, obwohl Hamburgs Schulsenator seine Versprechen wie | |
die Reduzierung von Unterrichtsausfall nicht hielt. Also fragen wir: Was | |
ist der Schulfrieden wert? Und warum wird das Projekt G8 nicht an seinem | |
Ziel gemessen und der Kurs korrigiert? | |
Unsere Initiative steht für 60.000 Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Das | |
Festhalten an G8 verkennt die Herausforderungen, vor denen unsere | |
Gesellschaft steht. Anstatt über die mutmaßliche und politisch befeuerte | |
Furcht – der theoretischen Schwächung der Stadtteilschule – zu sprechen, | |
sollten wir uns erinnern, dass es nicht um Konzepte und Strukturen geht, | |
die politisch geschützt werden wollen, sondern um das Kind. | |
Die Motivation, an G8 festzuhalten, ist rein politischer Natur und geht an | |
den emotionalen und intellektuellen Bedürfnissen der Jugend vorbei. Der | |
Stress und die psychische Belastung steigen durch das Turbo-Abitur, wie | |
neuere Studien belegen. Das Reifezeugnis muss wieder zu einer fundierten | |
Hochschulreife ohne Qualitätsverlust führen. Mehr Raum für forschenden, | |
analytischen und [4][fundierten Wissenserwerb] und vor allem für soziale | |
und psychische Reife sind nötig, um den Stoff nachhaltig zu durchdringen. | |
Eine Flexibilisierung der Oberstufe, mehr Mitbestimmung der Schülerschaft | |
über die eigene Lerndauer wären ein moderner Ansatz. Wir fordern die | |
Hamburger Bildungspolitik auf, unter Einbindung der Gremien mit Kreativität | |
und politischem Know-how moderne Konzepte für das Gymnasium zu entwickeln. | |
Natürlich müssen die Gymnasien mehr Verantwortung tragen bei der | |
Integration von Geflüchteten und Inklusion. Denn als Gesellschaft sind wir | |
politisch und moralisch verpflichtet, die Zukunft künftiger Generationen | |
bestmöglich zu gestalten. | |
Wir fordern hier eine schnelle Umsetzung, denn je länger wir zögern, desto | |
mehr Kinder bleiben auf der Strecke. [5][Viele Kinder spüren noch die | |
Auswirkungen der Coronazeit] und sind von Stundenausfall und Lehrermangel | |
betroffen. Hier könnte eine flexible Oberstufe, die Möglichkeit, | |
Klassenstufen zu wiederholen, und der erleichterte Wechsel zwischen den | |
Schulformen dem individuellen Lernen gerecht werden. | |
Das Rad muss nicht neu erfunden werden, denn fast alle anderen | |
Bundesländer, die G8 einführten, kehrten zu G9 zurück. Sobald die ersten | |
Jahrgänge fertig sind, wird die Mehrheit der Schüler und Schülerinnen in | |
Deutschland ein G9-Abitur ablegen. Erst dann werden die Konsequenzen des | |
Festhaltens an der G8-Reform in Hamburg spürbar sein. Parallel dazu wird | |
die von den Kultusministern geforderte Angleichung des Abiturs die Lage der | |
Hamburger Gymnasien noch verschärfen, denn wie sollen die neuen Fächer und | |
Lehrinhalte in acht statt in neun Jahre gepresst werden? Wollen wir hier | |
nicht noch rechtzeitig das Ruder in die Hand nehmen, anstatt uns treiben zu | |
lassen? Sammar Rath | |
## Nein, Hamburgs Gymnasien sollten bei G8 bleiben | |
## | |
Die Forderung der Volksinitiative „G9 Hamburg“ nach „Mehr Zeit zum Lernen… | |
fürs Abitur unterstützt zwar grundsätzlich jeder, so auch ich. Aber diese | |
Zeit gibt es in Hamburg bereits – an den Stadtteilschulen. Deshalb ist eine | |
Ausweitung der Lernzeit für das Abitur an Gymnasien von acht Jahren (G8) | |
auf neun Jahre (G9) zunächst einmal unnötig. Sie ist darüber hinaus auch | |
teuer, schwer umsetzbar und anscheinend für die meisten Schüler und | |
Schülerinnen nicht wirklich attraktiv. | |
Allein die Kosten, die für den Umbau von Gebäuden anfallen, weil ein | |
zusätzlicher Jahrgang zusätzliche Räume bräuchte, belaufen sich auf rund | |
300 Millionen Euro. Und dabei sind Raumbedarfe für inklusive und | |
integrative Ansätze an Gymnasien noch gar nicht einkalkuliert. | |
Schlimmer: Inklusive und integrative Ansätze werden im Wortsinn sogar auf | |
lange Sicht verbaut, weil enge Klassenzimmer und fehlende Nebenräume diese | |
gar nicht mehr zulassen würden. Bei diesen Einmalkosten, die 20 Prozent | |
eines Schulhaushaltsjahres ausmachen, sind die zusätzlichen jährlichen | |
Kosten für Personal und Energieversorgung noch gar nicht berücksichtigt. | |
Doch selbst wenn genügend Geld da wäre, was in Hamburg bei einem ständig | |
angespannten Haushalt unwahrscheinlich erscheint, ist G9 nicht machbar, | |
weil dafür [6][die Fachkräfte fehlen]. Woher bitte sollen in Zeiten des | |
Personalmangels die zusätzlich benötigten Lehrkräfte, Sonderpädagogen, | |
Beratungslehrer und Sozialpädagoginnen kommen? | |
Schon heute sind in Hamburg für das Schuljahr 2023/2024 mehr als 500 | |
Stellen allein für Lehrkräfte nicht besetzt. Darüber hinaus gehen in den | |
kommenden zehn Jahren die „Baby-Boomer-Lehrer“ in Rente – und gleichzeitig | |
werden knapp zehn Prozent mehr Schülerinnen und Schüler an die Schulen | |
kommen. Vor diesem Hintergrund ist es herausfordernd genug, diese | |
absehbaren Entwicklungen zu stemmen. „Sonderlocken“ wie ein G9 an Gymnasien | |
verschärfen die Situation nur unnötig. | |
Zumal das G9 als Option nur für eine Minderheit der Absolventen und | |
Absolventinnen der gymnasialen 10. Klasse attraktiv zu sein scheint. Sie | |
könnten nämlich zur [7][Stadtteilschule wechseln] und dort die dreijährige | |
Oberstufe besuchen. Doch die allermeisten – mehr als 92 Prozent von ihnen – | |
nutzen das nicht und besuchen die Sekundarstufe II auf dem Gymnasium. Die | |
große Mehrheit entscheidet sich also für das schnellere G8. Und sie | |
erzielen sehr gute Ergebnisse. So war im Schuljahr 2022/2023 der Hamburger | |
Schnitt 2,22 – welcher deutschlandweit im oberen Drittel liegt. Die | |
G9-Initiative will diese Mehrheit bevormunden, indem sie das von den | |
Schülerinnen und Schülern bevorzugte Modell abschafft. | |
Unterm Strich spricht nichts für G9 am Gymnasium. Denn es gibt signifikante | |
Einmalkosten und zusätzliche Personalkosten, und dass bei fehlenden | |
Lehrkräften und mangelnder Nachfrage seitens der Schüler und Schülerinnen. | |
Auf der anderen Seite gibt es ein G9-Angebot an den Stadtteilschulen, in | |
dem „Mehr Zeit zum Lernen“ seit Jahren akzeptiert, bewährt und für alle | |
möglich ist. | |
In Zeiten enormer schulpolitischer und gesellschaftspolitischer | |
Herausforderungen müssen wir eine Vielzahl von Problemen und Aufgaben | |
zeitnah lösen. Hierzu zählen die Integration, die Inklusion und die | |
Digitalisierung, wo wir uns teilweise noch in den ersten Ansätzen befinden. | |
Diese Bereiche benötigen aktuell all unsere Kräfte und Ressourcen. Daher | |
bleibe ich dabei: G8 an Gymnasium, G9 an Stadtteilschulen. Torsten Schütt | |
9 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Sammar Rath | |
Torsten Schütt | |
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