# taz.de -- Künstliche Intelligenz im Verkehr: Autonom bis vier Grad Celsius | |
> Selbstfahrende Autos sind ein alter Technologietraum der Menschheit. Nun | |
> wird er langsam Realität. Dabei sind bei Weitem nicht alle Probleme | |
> gelöst. | |
Am 21. Mai 2023 um 10:56 Uhr wird auf der Toland Street in San Francisco | |
ein kleiner Hund überfahren. Der Unfallbericht, der bei der kalifornischen | |
Verkehrsbehörde eingeht, beschreibt das Wetter als bewölkt, aber trocken, | |
auch die Straße war dem Bericht zufolge nicht nass und ohne | |
außergewöhnliche Schäden. Die Welt hätte von diesem Unfall nicht erfahren, | |
wäre das Fahrzeug nicht ein selbstfahrendes Auto gewesen, in diesem Fall | |
von der [1][Google-Schwesterfirma Waymo]. | |
Warum es zu dem Unfall kam, ist noch unbekannt. Doch unabhängig davon, ob | |
Mensch oder Technik oder beide hier versagten – in der Branche ist jeder | |
Unfall oder Beinahe-Unfall ein Politikum. Nicht nur, weil die meisten | |
selbstfahrenden Fahrzeuge eben doch unfallfrei unterwegs sind und ein Crash | |
daher die Ausnahme ist. Sondern auch, weil Sicherheit ein Kernversprechen | |
für autonomes Fahren ist. | |
Zwar soll die Technologie auch viele Vorteile haben: Gebündelte Fahrten, | |
die umweltschonender sind als der heutige „Ein-Auto-ein-Insasse“-Standard, | |
oder bessere Versorgung ländlicher Gegenden zum Beispiel. Doch das | |
Schlüsselargument für das autonome Fahren lautet: Unfallvermeidung. | |
Expert:innen, etwa von der Sachverständigengesellschaft Dekra, führen 90 | |
Prozent der Unfälle auf menschliches Fehlverhalten zurück. 2.788 Menschen | |
sind im vergangenen Jahr in Deutschland bei Verkehrsunfällen getötet worden | |
– im Schnitt acht pro Tag. | |
Die Zahl liegt etwas niedriger als vor den Coronajahren. Während der | |
Pandemie waren das Verkehrsaufkommen und damit auch die Zahl der Unfälle | |
ungewöhnlich niedrig, weswegen die Jahre davor als Referenz gelten. Doch | |
ein Marker ist gestiegen: Die Zahl der Unfälle unter Alkoholeinfluss, | |
sowohl mit als auch ohne Verletze und Tote. In den Jahren 2015 bis 2019 | |
erfasste die Polizei jährlich zwischen 13.000 und 14.000 Unfälle unter | |
Alkoholeinfluss, bei denen Personen zu Schaden kamen. Im vergangenen Jahr | |
waren es 16.807 Unfälle. | |
## Menschliche Fehler führen zu 90 Prozent der Unfälle | |
Würde man dem Faktor Mensch also die Gelegenheit nehmen, Fehler zu machen – | |
wäre die sogenannte Vision Zero nicht in greifbarer Nähe? Also ein Verkehr | |
ohne tödliche Unfälle? | |
Die [2][Vision Zero] steht eigentlich für einen Wechsel im Denken: Alles | |
rund um die Verkehrsteilnahme muss so gestaltet sein, dass der Mensch und | |
dessen Unversehrtheit im Zentrum stehen. Ein klares Ziel also und damit | |
etwas, auf das sich die Software, die selbstfahrende Autos steuert, hin | |
programmieren lässt. Die Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass sich die | |
Branche auf dem Weg dahin befindet, dass Autos eines Tages tatsächlich ohne | |
menschliche Hilfe unterwegs sind. Ist das der Fall? | |
Spricht man mit Wissenschaftler:innen über die Technologie, zeigen sie | |
sich sicher, dass ein Computer unfallärmer fährt als der Mensch. „Ich bin | |
überzeugt davon, dass es deutlich weniger Unfälle geben wird“, sagt | |
beispielsweise Dan Greiner, Projektleiter Automatisiertes und Vernetztes | |
Fahren am Institut für Fahrzeugtechnik der Universität Stuttgart. Auf Null | |
werde die Zahl aber nicht zurückgehen. Denn man dürfe nicht vergessen, dass | |
der Mensch derzeit zwar haufenweise Unfälle verursacht – aber auch durch | |
schnelles oder besonnenes Verhalten einige verhindere. | |
San Francisco, wo im Mai der kleine Hund überfahren wurde, ist so etwas wie | |
die Experimentierstadt für die Auto- und die Techindustrie, die das Thema | |
autonomes Fahren vorantreiben. Wie emotional das Thema auch in den USA | |
debattiert wird, zeigte sich zuletzt Ende Oktober: Da kündigte | |
Waymo-Konkurrent Cruise an, seine selbstfahrenden Taxis vorerst aus dem | |
Verkehr zu ziehen. Vorangegangen waren einige Unfälle, die schwer am Image | |
der Branche kratzen. | |
So kritisierten etwa Einsatzkräfte wiederholt, dass ihre Fahrzeuge von | |
Robotaxis blockiert würden. Bei einem weiteren Unfall wurde eine Person von | |
einem menschengesteuerten Pkw angefahren und unter ein Robotaxi | |
geschleudert. Im Zentrum der Kritik stand nach dem Unfall nicht der Mensch | |
hinter dem Steuer des herkömmlichen Pkw, der den Berichten zufolge nach dem | |
Aufprall Fahrerflucht beging. Sondern der Betreiber des Robotaxis – das | |
nicht sofort stehengeblieben war. | |
Deutschland ist längst nicht so weit wie die USA, wo in mehreren | |
Bundesstaaten autonome Fahrzeuge im öffentlichen Verkehr erlaubt sind. | |
Hierzulande setzt man eher auf Pilotprojekte in geschütztem Rahmen, etwa | |
auf Werks- oder Industriegeländen. Außerhalb dessen ist der Einsatz am | |
weitesten auf Autobahnen fortgeschritten: Dort dürfen seit Anfang des | |
Jahres Fahrzeuge im [3][Selbstfahrmodus mit bis zu 130 Kilometern pro | |
Stunde] unterwegs sein – unter folgenden Bedingungen: Ein Mensch muss am | |
Steuer sitzen, er darf sich kurz vom Verkehrsgeschehen abwenden, um etwa | |
eine Nachricht zu tippen. | |
Aber er darf nicht schlafen oder Dinge unternehmen, die dazu führen | |
könnten, dass er die Aufmerksamkeit nicht sofort wieder auf die Straße | |
lenken kann. Auch wenn die Technologie autonomes Fahren heißt, kann von | |
Autonomie noch nicht die Rede sein. In der Branche unterscheidet man fünf | |
Automatisierungslevel: Von Level 1, bei dem zum Beispiel ein | |
Spurhalteassistent zum Einsatz kommt, geht es über Einparkhilfen und | |
Fahrzeuge, in denen ein Mensch nur noch die Aufsicht übernimmt, bis hin zu | |
Level 5 und erst da zum wirklich autonomen Fahren: Dann, wenn alle | |
Fahrzeuginsassen nur noch Passagiere sind und sich das Auto auch ohne | |
Fahrer:in fortbewegt. Der auf deutschen Autobahnen erlaubte | |
Selbstfahrmodus liegt auf Level 3. | |
## „Die Systeme sind immer noch Schönwetter-Fahrer“ | |
Doch auch dabei kommt den Autos noch oft die Realität in die Quere – etwa | |
die Meteorologie. Zum Beispiel beim Drive Pilot. Der Fahrzeugassistent für | |
die [4][S-Klasse von Mercedes] ist der erste Autopilot, der in Deutschland | |
im Regulärbetrieb auf Autobahnen auf Level 3 fährt. Also auf dem Level, wo | |
sich der Mensch am Steuer auch mal abwenden darf. Doch wäre ein Mensch beim | |
Fahren so eingeschränkt wie der Drive Pilot – es wären kaum Autos auf der | |
Straße. Denn der Beipackzettel des Herstellers ist lang: Unter anderem | |
Tunnel, Baustellen, Dachgepäckträger, Regen, Dunkelheit oder niedrige | |
Temperaturen – Berichten zufolge unter vier Grad Celsius – verhindern die | |
Nutzung. | |
„Die Systeme sind immer noch Schönwetter-Fahrer“, sagt Oliver Wasenmüller, | |
der an der Hochschule Mannheim unter anderem zum autonomen Fahren und dem | |
Einsatz von [5][Künstlicher Intelligenz (KI)] forscht. Die Probleme der | |
Selbstfahrtechnik sind kleinteilig: Niedrige Temperaturen sind | |
problematisch, weil es dann Glätte geben kann, und auf glatter Straße | |
verlängern sich etwa die Bremswege recht unvorhersehbar. | |
Kann die Kamera keine zuverlässigen Daten mehr liefern, weil es stark | |
regnet und das Bild zu verrauscht ist, führt das zu weiteren Problemen: | |
Denn die Systeme sind in der Regel redundant aufgebaut. Sie verlassen sich | |
also bei der Auswertung der Umgebungs- und Fahrzeugdaten nicht auf eine | |
Quelle, sondern es müssen zwei Quellen eine gleiche Information liefern. | |
Zum Beispiel können die Kamera und eine Linienerkennung per Infrarot den | |
Spurverlauf verfolgen. | |
Manchmal bringt auch schon über den Straßenrand wachsende Vegetation die | |
Fahrzeuge zum Halten – weil die Software nicht erkennt, um welches Objekt | |
es sich handelt und der Mindestabstand nicht eingehalten werden kann. Kein | |
Wunder, dass Verkehrsteilnehmer:innen auf kalifornischen Straßen, wo | |
zahlreiche selbstfahrende Autos unterwegs sind, vor allem über ein Problem | |
berichten: Fahrzeuge, die den Verkehr blockieren, weil sie eine | |
Verkehrsregel brechen müssten, um beispielsweise ein Hindernis zu umfahren. | |
Im Sommer entwickelten Aktivist:innen dort eine Art Protest-Hack. Sie | |
stellten bei unbesetzten Robotaxis Verkehrshütchen auf die Motorhaube. Die | |
Software, auf derartige Situationen nicht eingestellt, verhinderte eine | |
Weiterfahrt. „Die größte Herausforderung ist die Erfassung der Umgebung, | |
die zweitgrößte ist es, das in die richtigen Steuerkommandos umzusetzen“, | |
sagt Wasenmüller. Das heißt: Zunächst müssen Sensoren und Kameras korrekt | |
identifizieren, ob das Objekt vor ihnen ein Auto ist, eine Werbetafel oder | |
ein Mensch, der ein Plakat hält. Dann muss die Software daraus die | |
richtigen Schlussfolgerungen ziehen: Spur wechseln, weiterfahren oder | |
Vollbremsung? | |
## Kann KI die Systeme zuverlässiger machen? | |
„In 99 Prozent der Fälle klappt das schon ziemlich gut, aber wir wollen | |
nicht, dass in dem restlichen Prozent ein Unfall passiert“, sagt | |
Wasenmüller. Und dieses eine Prozent, das gelte es nun in den | |
Promillebereich zu drücken – schließlich soll die Technik nicht nur ein | |
bisschen, sondern deutlich sicherer fahren als der Mensch. Und wie? Den Weg | |
dahin beschreibt Wasenmüller mit dem Begriff „vertrauenswürdige KI“. | |
Gemeint ist eine das Auto steuernde Software mit Künstlicher Intelligenz, | |
die im Gegensatz zu vielen üblichen KI-Modellen keine Black Box ist, bei | |
der also nicht einmal die Entwickler:innen selbst wissen, warum sie | |
welche Entscheidungen trifft. Sondern bei der jede Informationsaufnahme und | |
jede Entscheidung transparent ist – und zwar im Detail. Zum Beispiel müsse | |
die Software so angeben, mit welcher prozentualen Sicherheit sie den | |
Spurverlauf erkennt. Aus allen Einzelwahrscheinlichkeiten werden dann die | |
Steuerkommandos abgeleitet. „Und am Ende sollte eine Gesamtsicherheit von | |
ganz nahe 100 Prozent stehen“, sagt Wasenmüller. | |
Und wann wird es nun soweit sein, dass selbstfahrende Fahrzeuge tatsächlich | |
zum Standard auf den Straßen werden? Der Stuttgarter Forscher Greiner | |
prognostiziert: „Wenn wir darüber reden, dass ein Auto alles kann, was wir | |
Menschen können, dann sprechen wir über Jahrzehnte.“ Aber er sagt auch: | |
Dass einzelne Systeme zum Beispiel zum Spurhalten oder Einparken Standard | |
würden, das sei bereits jetzt der Fall. | |
Wir stehen also, auch in Deutschland, am Anfang einer Entwicklung, bei der | |
Greiner für die nahe Zukunft einen Technologie-Mix erwartet: Komplett | |
selbstfahrende Fahrzeuge in abgeschlossenen Bereichen wie Firmengeländen. | |
Level-4-Fahrzeuge, die also weitgehend autonom, aber mit | |
Sicherheitsfahrer:in oder durch einen Tower beaufsichtigt werden (s. | |
Kasten), auf definierten Strecken, etwa als Teil des öffentlichen | |
Nahverkehrs im ländlichen Raum. | |
Privat- und Carsharing-Autos, die immer mehr Assistenzsysteme eingebaut | |
bekommen und bei der die menschlichen Fahrer:innen immer weniger | |
eingreifen müssen. Dass von Menschen gefahrene Autos vollständig von der | |
Straße verschwinden, glaubt keine:r der Expert:innen. Aber wie bei anderen | |
Technologien von Waschmaschine bis Smartphone gelte: Je länger sie am Markt | |
seien, desto größer die Verbreitung und Akzeptanz. | |
4 Nov 2023 | |
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Svenja Bergt | |
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