# taz.de -- Ukrainische Kriegsdienstverweigerer: „Ich bin kein Actionheld“ | |
> Tausende ukrainische Männer sind in die Europäische Union geflohen, statt | |
> zu kämpfen. Hier sprechen zwei Geflohene über ihre Gründe. | |
Bild: Fehlt da einer? Einige ukrainischen Männer gehen lieber ins Ausland als … | |
Seine Flucht erfüllt ihn nicht mit Stolz, aber er werde sich auch nicht | |
rechtfertigen, sagt Stepan. Auch er wünsche sich, dass Putin gestürzt werde | |
und die Ukraine den Krieg gewinne. „Vielleicht bin ich nicht patriotisch | |
genug.“ Stepan zuckt mit den Schultern. „Wem es wichtig ist, der soll | |
selbst an die Front gehen“, fügt er hinzu. | |
Stepan redet nur ungern über seine Flucht. Der Ukrainer will weder kämpfen | |
noch in einem Krieg sterben. Im September vergangenen Jahres, als die | |
Schlangen mit Freiwilligen vor den Rekrutierungsbüros der ukrainischen | |
Armee verschwunden waren und immer mehr Männer auch ohne Militärerfahrung | |
eingezogen wurden, floh der 39-jährige Familienvater über Tschechien nach | |
Deutschland. Er will anonym bleiben, deshalb soll er hier Stepan heißen. | |
Sein richtiger Name ist der taz bekannt. | |
Dass Kriegsdienstverweigerer wie Stepan unerkannt bleiben wollen, ist | |
verständlich. In der ukrainischen Öffentlichkeit und besonders in den | |
sozialen Medien werden sie oft beschimpft und bedroht, Politiker fordern | |
im Parlament, ihren Besitz zu konfiszieren. Im [1][Januar wurde ein neues | |
Gesetz verabschiedet], das Gefängnisstrafen von fünf bis zwölf Jahren für | |
Deserteure vorschreibt. | |
„Wenn ich mich öffentlich zu erkennen gebe, kann ich vielleicht nie wieder | |
in die Ukraine reisen“, sagt Stepan. Die hohen Verluste und der Bedarf nach | |
mehr Soldaten für den Krieg sind nur ein Grund für die | |
Gesetzesverschärfung, ein anderer ist, dass das Phänomen inzwischen wohl | |
größer ist, als offiziell zugegeben wird. | |
Von einer „sehr kleinen Minderheit“ hatte der ukrainische Grenzschutz | |
bislang gesprochen. Doch [2][den Zahlen von Eurostat zufolge sind knapp | |
650.000 männliche Ukrainer in wehrfähigem Alter in der EU registriert]. | |
Allein in Deutschland halten sich nach aktuellen Angaben des | |
Bundesinnenministeriums knapp 190.000 Ukrainer im Alter von 18 bis 60 | |
Jahren auf. Lange nicht alle davon sind desertiert, viele werden einen | |
legalen Grund für ihre Ausreise haben – etwa die Pflege von Angehörigen | |
oder eine Krankheit. | |
Stepan hat eine Dienstreise nach Tschechien genutzt, um sich illegal nach | |
Deutschland abzusetzen. Seiner Chefin sei klar gewesen, dass er nicht | |
zurückkehren werde. Sie habe Verständnis für seine Situation gehabt und ihm | |
sogar die Genehmigung für die Reise besorgt. Bevor Stepan sich zu einem | |
Treffen bereit erklärt, schreiben wir uns länger über den | |
Kurznachrichtendienst Telegram. Er will Kopien von einem Presseausweis und | |
einem Personalausweis sehen – nur zur Sicherheit. Wie lange der Arm des | |
ukrainischen Polizeiapparats reicht, will er lieber nicht austesten. | |
Schließlich treffen wir uns in einem Café in Berlin-Kreuzberg. Stepan trägt | |
eine Jeansjacke, darunter ein knallbuntes T-Shirt, das ihn einige Jahre | |
jünger aussehen lässt. Vor dem Krieg hat er als Kameramann für einen | |
Privatsender gearbeitet, so viel verrät er mit einem Lächeln. In | |
Deutschland hat er noch keine Arbeit gefunden. Doch eigentlich will er | |
sowieso bald, wenn es ginge, direkt nach Kriegsende zurück in die Ukraine, | |
wo ein Großteil seiner Familie ausharrt. | |
Er erzählt, wie schwer die Familientrennung für ihn gewesen sei. Seine Frau | |
und ihr gemeinsamer Sohn waren schon zu Beginn des Krieges nach Deutschland | |
ausgereist. In seinem Freunds- und Bekanntenkreis hätten sich seit | |
Kriegsbeginn viele Paare getrennt. Sie im Ausland, er an der Front – das | |
habe für viele auf Dauer nicht funktioniert. „Ich wollte nicht, dass meine | |
Familie zerbricht“, sagt Stepan. | |
Mitte Oktober sorgte ein Fall in der Ukraine für Aufsehen, bei dem zwei | |
Männer flüchteten, die beruflich den Frauenfußballclub FC Krivbass für ein | |
Champions-League-Spiel nach Belgien begleitet hatten. Dienstreisen ins | |
Ausland müssen von einer staatlichen Behörde genehmigt werden. Die Auflagen | |
dafür würden seit Monaten immer mehr verschärft, erzählt Stepan. Für manche | |
bleibt so nur die Flucht zu Fuß über die Grenze. | |
## Ein Attest für 2.500 Dollar | |
Seit Februar 2022 wurden 14.600 Männer bei dem Versuch festgenommen, die | |
Grenze illegal zu überqueren, sagte der Sprecher des ukrainischen | |
Grenzschutzes, Andriy Demtschenko, Anfang Oktober. Weitere 6.200 Männer | |
seien zudem mit gefälschten Papieren erwischt worden. Allerdings ist | |
anzunehmen, dass nur ein Teil der Kriegsdienstverweigerer die riskante | |
Flucht über die Karpaten oder die polnische Grenze nehmen. Bestechung oder | |
Urkundenfälschung sind angesichts der Braunbären im Grenzgebiet der | |
sicherere Weg. Für 2.500 Dollar werden in einer Telegram-Gruppe Atteste | |
angeboten, die vom Militärdienst befreien sollen. | |
Inzwischen verschärft die ukrainische Regierung allerdings die Regeln. Seit | |
August werden auch Männer mit leichten Krankheiten und geringfügigen | |
motorischen Störungen eingezogen. „Du hast einen kaputten Rücken oder ein | |
chronisches Magenleiden – egal, sie nehmen inzwischen fast jeden mit“, sagt | |
Stepan. | |
[3][Dass Selenski im August alle regionalen Rekrutierungschefs aufgrund von | |
Korruptionsvorwürfen entlassen hat], zeigt, wie weit verbreitet das | |
Phänomen ist. | |
Aber auch die neuen Regeln werden umgangen. Wer etwa seine kranken Eltern | |
pflegt, darf weiterhin ausreisen. „Es ist einfacher und sicherer, einen | |
Arzt dafür zu bestechen, die eigenen Eltern zum Pflegefall zu erklären“, | |
sagt Stepan. Ein Freund habe so mit seinem Vater ausreisen können. Würden | |
mehr Männer wie er fliehen, könnte das für die Ukraine zum Desaster werden, | |
gesteht Stepan selbstkritisch ein. „Jeder muss das für sich selbst | |
entscheiden dürfen. Die große Politik und das individuelle Leben sind zwei | |
verschiedene Ebenen.“ | |
Doch in den vergangenen Monaten wurde der Unmut gegen | |
Kriegsdienstverweigerer immer größer – zumindest in der Öffentlichkeit. | |
[4][Ein Mann, der offen über seine Flucht mit der BBC sprach], erhielt | |
Todesdrohungen. Stepan hat jedoch bisher keine Anfeindungen erlebt. „Der | |
Hass kommt nur von der Politik oder im Internet.“ Er sei überzeugt, dass | |
viele Menschen in der Ukraine auch Verständnis für seine Flucht hätten. | |
Dafür spricht auch, wie sensibel in der Ukraine auf die gewaltsame | |
Einziehung von Männern reagiert wurde. Im Internet kursieren etliche | |
Videos, die solche Fälle dokumentieren – in Russland, aber auch in der | |
Ukraine. [5][Ein verifizierter Videoclip, der vom amerikanischen | |
Nachrichtenportal „Radio Free Europe“ geteilt wurde], zeigt, wie das | |
ukrainische Militär bisweilen für Soldaten-Nachschub sorgt. Darin zu sehen | |
sind ukrainische Militärpolizisten, die einen Mann in einen Van zerren, | |
während dieser sich mit aller Kraft wehrt. Als ein Shitstorm folgte, | |
versprach die ukrainische Armee, in Zukunft behutsamer vorgehen zu wollen. | |
Stepan ist jedoch skeptisch: „Solche Szenen gibt es in der Ukraine immer | |
noch jeden Tag.“ | |
Dmytro ist ebenfalls nach Deutschland geflohen. Auch seinen Vornamen haben | |
wir geändert. Seine Fluchtgeschichte sei eher untypisch, sagt er. Für ihn | |
sei noch am 24. Februar 2022 klar gewesen, dass er das Land verlassen | |
wolle. „Ich bin kein Actionheld“, sagt der 50-Jährige. Dmytro hat in seinem | |
ganzen Leben noch nie körperlich gearbeitet. Er sei an der Front | |
wahrscheinlich sowieso nutzlos, sagt er. „Ich bin eher der Bürotyp, was | |
soll ich in einem Schützengraben?“ | |
Er hat bei einem engen Freund erlebt, was der Krieg auslösen kann. Dieser | |
habe sich 2014 freiwillig gemeldet, um im Donbass gegen die russischen | |
Separatisten zu kämpfen. „Als er wiederkam, war er nicht mehr derselbe“, | |
erzählt Dmytro. Der Freund habe sich zunehmend zurückgezogen. „Plötzlich | |
verschwand er und später fanden wir heraus, dass er sich in einem Wald das | |
Leben genommen hat.“ | |
Dmytro hat auch eine israelische Staatsbürgerschaft. Weil er so an der | |
Grenze verschweigen konnte, dass er Ukrainer ist, gelang ihm die Ausreise. | |
„Das war gar nicht so einfach. Ich hatte in meinem israelischen Pass nicht | |
den Stempel, den man bekommt, wenn man in die Ukraine einreist.“ Dmytro war | |
deshalb auf die Mithilfe der israelischen Botschaft angewiesen. „Sie hat | |
mir die Dokumente ausgestellt. Ohne sie hätten ich es nicht geschafft.“ | |
Er habe deshalb kein schlechtes Gewissen, sagt er. Ob der Donbass oder | |
Luhansk zu Russland oder der Ukraine gehörten, sei ihm letztendlich egal. | |
„Wichtig ist nur, dass Putin verschwindet.“ Dafür müsse sich etwas in | |
Russland selbst tun. | |
Dmytro geht es aber auch um die Regierung von Präsident Selenski. Er hält | |
sie für korrupt und verlogen. „Sie geben sich patriotisch, aber ihre | |
eigenen Kinder und ihr Geld haben sie längst im Ausland in Sicherheit | |
gebracht“, sagt er. Dmytro verweist auf einen Skandal um den ehemaligen | |
Parlamentsabgeordneten und Berater des Innenministeriums, Vadym Denysenko. | |
Denysenko fiel Anfang August mit der Forderung auf, das Ausreiseverbot für | |
ukrainische Männer bis zu drei Jahre nach Kriegsende zu verlängern, damit | |
das Land wieder aufgebaut werden könne. Gleichzeitig wurde bekannt, dass | |
sein Sohn Andrey Denysenko durch Europa tourt. „Für solche Leute kämpfe ich | |
sicher nicht“, sagt Dmytro. | |
11 Nov 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.nzz.ch/international/ukraine-krieg-haertere-strafen-fuer-desert… | |
[2] https://ec.europa.eu/eurostat/web/products-eurostat-news/w/ddn-20231006-2 | |
[3] https://www.spiegel.de/ausland/ukraine-krieg-wolodymyr-selenskyj-entlaesst-… | |
[4] https://www.bbc.com/news/world-europe-65792384 | |
[5] https://www.rferl.org/a/ukraine-scandals-problems-military-enlistment-refor… | |
## AUTOREN | |
Jan Schroeder | |
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