# taz.de -- Syrischer Geflüchteter bei Tesla: Karims langer Weg zur Schicht | |
> Unser Autor nahm 2016 einen jungen syrischen Geflüchteten bei sich auf. | |
> Der hilft mittlerweile mit, das Tesla-Werk in Brandenburg am Laufen zu | |
> halten. | |
Bild: Läuft hier: Tesla-Mitarbeitende am Band in Grünheide | |
Wie soll ich Karim nennen? Meistens sage ich „unser ehemaliger Flüchtling“, | |
wenn ich von ihm erzähle. Jetzt hält er das Land am Laufen. | |
Wir treffen uns auf einem Gleis des Bahnhofs Ostkreuz in Berlin, wo die | |
Regionalzüge nach Brandenburg abfahren. Karim, der eigentlich anders heißt, | |
trägt eine graue Arbeitshose und feste Schuhe, unter der Regenjacke baumelt | |
die Einlasskarte der Firma. Basecap mit Schirm nach hinten, Bart und | |
Augenbrauen dunkel, er guckt wie immer ein bisschen finster. „Zur Arbeit | |
jetzt, Scheiße“, sagt er, und dann: „Ich liebe meine Arbeit.“ | |
Im Zug fällt mir auf, dass einige der Passagiere ihre Schuhe ebenfalls mit | |
roten Schnürsenkeln binden, wie Karim. Die gehören zur Arbeitsuniform des | |
US-amerikanischen Autoherstellers Tesla. Eine halbe Stunde später hält der | |
Zug in Fangschleuse, einem Dorf hinter der Berliner Stadtgrenze. Auf dem | |
schmalen Bahnsteig drängeln sich nun zahlreiche junge Männer, die dasselbe | |
tragen wie Karim. Sie streben zur Bushaltestelle. Zwei Gelenkbusse kommen. | |
Im Nu sind sie voll. Es müssen an die 200 Arbeiter sein, die alle möglichen | |
Sprachen sprechen, die meisten wohl zwischen 25 und 35 Jahren alt. | |
Ein paar Minuten später an den Werkstoren treffen weitere Busse aus anderen | |
Orten ein. Die jungen Leute drängeln sich durch die Drehkreuze auf das | |
Fabrikgelände. Fast 14 Uhr: Gleich geht die Spätschicht los in Grünheide, | |
wo Tesla Tag und Nacht seine Elektroautos baut. | |
## Höhere Zäune trotz Mangel an Arbeitskräften | |
Zurzeit läuft wieder eine hitzige Debatte darüber, ob nicht zu viele | |
Einwanderer nach Deutschland kommen. Manche Politiker:innen überbieten | |
sich mit Forderungen, die Zahl der Ankommenden zu verringern. Während die | |
Europäische Union höhere Zäune baut, herrscht hierzulande ein zunehmender | |
Mangel an Arbeitskräften. Deshalb verlangt etwa der Deutsche Städte- und | |
Gemeindebund, [1][Geflüchtete sollten schneller Jobs annehmen dürfen], | |
anstatt untätig herumzusitzen. Karims Geschichte ist ein Beispiel, wie | |
Einwanderung, die viele als Problem empfinden, am Ende funktionieren kann. | |
2016 kam Karim in meiner Familie an, aus dem Krieg in Syrien, auf der | |
Flucht vor dem Islamischen Staat, seine Eltern tot, das Haus zerstört. | |
Meine Tochter hatte ihn nachts in einem Club kennengelernt. Ihm zu helfen | |
schien nötig. Wir nahmen ihn bei uns auf und versuchten, seinen Weg zu | |
ebnen: Bürokratie, Papiere, Geld, Wohnung, Sprachkurs, ein bisschen | |
Aufgehobensein. Er war oft müde, depressiv, ließ sich hängen, lag tagelang | |
im Bett. Jedenfalls sahen wir das so. Sein Hineinfinden ins neue Leben im | |
kalten Berlin ging uns nicht schnell genug. Wir waren überfordert. | |
Nach einem knappen Jahr verschafften wir ihm woanders ein Zimmer, in das er | |
zuerst nicht einziehen wollte. Er krallte sich an uns fest. Ich schrieb | |
damals in der taz über unsere Kämpfe mit ihm. Der Artikel [2][„Karim, ich | |
muss dich abschieben“ erschien 2017]. | |
Danach ging es auf und ab. Manchmal strandete er fast auf der Straße – bis | |
ein deutscher Freund eine kleine Wohnung für ihn fand, in der Karim sich | |
wohlfühlte. Allmählich kam er auf die Füße. Diese Zeit ist beschrieben im | |
Artikel [3][„Sein Name an der Tür“ von 2019]. | |
## Karim rettete mich | |
Später erzählte mir Karim, dass er einen Job gefunden habe in einer Filiale | |
der Modekette Zara. Ich holte ihn dort ab: Nun war er einer der hippen | |
Großstädter mit trickreich gefrästen Bärten, die Tourist:innen aus aller | |
Welt bedienten. Er lud mich nach Neukölln in sein arabisches | |
Lieblingsrestaurant ein. Sein Deutsch wurde besser, wir unterhielten uns, | |
hatten Spaß. | |
Einmal trafen wir uns nachts zufällig vor einem Club. Ich gehörte da | |
eigentlich nicht mehr hin. Nach zwei Stunden Anstehen hätte mich die | |
Türsteherin beinahe nach Hause geschickt. Karim rettete mich. Ohne ihn und | |
seine Freunde, die den alten Mann adoptierten, wäre ich nicht reingekommen. | |
Und jetzt Tesla. Ein unbefristeter Arbeitsvertrag mit allem Drum und Dran. | |
Karim arbeitet am Band. In einer Schicht von acht Stunden müssen er und | |
sein Team ungefähr 300 Fahrzeuge bearbeiten. Das bedeutet anderthalb | |
Minuten Zeit, um die jeweiligen Teile einzubauen. Das ist harte, oft | |
stressige Arbeit. Dafür bekommt Karim monatlich 2.200 Euro netto | |
überwiesen. | |
Das entspricht nach Angaben der Industriegewerkschaft Metall nicht dem | |
Tarifgehalt. Für Karim bedeutet diese Bezahlung jedoch, dass er im | |
deutschen Lebensstandard angekommen ist. Flucht- und Bittstellerstatus sind | |
zu Ende. Per Whatsapp schreibt er mir: „Jetzt habe ich guten Job.“ Dann | |
schickt er das listige Emoji mit der Sonnenbrille. „Ich bin auf der Suche | |
neue Wohnung. Und will auch Familie machen vielleicht.“ | |
## Plötzlich hat er kaum mehr Zeit | |
Manchen anderen in seinem Team geht es ähnlich. Mit zwei Deutschen arbeitet | |
er zusammen, sagt Karim, außerdem mit acht Kollegen die | |
Migrationshintergrund hätten, aber hier geboren seien. Und dann gäbe es | |
noch die fünf jungen Männer, die wie er selbst seit 2015 eingetroffen | |
seien, aus Afghanistan, Irak, Syrien. Das örtliche Büro der IG Metall | |
berichtet, dass in den Beratungen „viele verschiedene Sprachen“ zu hören | |
seien: Polnisch, Tschechisch oder auch Ukrainisch, Letzteres sprechen die | |
neuen Kriegsflüchtlinge. Die migrantischen Arbeiter tragen einen guten Teil | |
dazu bei, Tesla am Laufen zu halten. Ohne sie würde das Werk nicht | |
funktionieren. | |
Im Vergleich zu Benzinfahrzeugen seien die Elektroautos von Tesla „gut für | |
die Umwelt“, findet Karim. Außerdem meint er, dass Firmenchef Elon Musk | |
„ein sehr kluger Mensch ist und sorgfältig nachdenkt, bevor er etwas | |
unternimmt“. Die Einschätzungen über Musk und sein Unternehmen gehen weit | |
auseinander. So berichtete der Stern kürzlich über [4][viele Arbeitsunfälle | |
und diverse Ökohavarien] in Grünheide. | |
Karim zu sehen, ist nun nicht mehr so einfach wie früher. Er hat jetzt | |
einen eigenen Plan. Monatelang versuchen wir, einen Termin zu finden. Ist | |
ein Treffen verabredet, kommt kurz vorher eine Whatsapp: „Keine Zeit, | |
Arbeit macht mich richtig fertig.“ Beim nächsten Mal: „Freitag kann ich | |
nicht. Müssen länger arbeiten, sagt Chef.“ Nervig, aber normal. Dann klappt | |
es doch, in einem Schawarma-Grill in Kreuzberg. Karim kommt vorbei auf dem | |
Weg zur nächsten Schicht. An der Theke bestellt er auf Arabisch. Er wählt | |
aus den Speisen, die hinter der Glasscheibe auf der linken Seite der | |
Auslage warten, rechts lässt er weg. Dort liegt das Gemüse. Er bestellt | |
einen Riesenteller und bezahlt für mich mit. | |
Beim Essen zeigt er ein Video. Holztisch, drumherum stämmige Jungs mit | |
breiten Schultern und rasierten Nacken. Armdrücken, Karim gewinnt, großes | |
Palaver. Ein deutscher Kollege habe ihn zum Grillen in den Garten | |
eingeladen, erzählt er, „guter Mann“. Kürzlich verbrachte er mit einem | |
Freund und dessen Mutter eine Urlaubswoche in Slowenien. Mit seinen | |
Verwandten in Syrien telefoniert Karim kaum noch. Von dort gebe es fast nur | |
schlechte Nachrichten, die wolle er sich vom Hals halten. Hier sei das | |
Leben erfreulicher. Vermutlich wird es sehr lange dauern, bis er wieder in | |
seine Heimat reisen kann, wenn überhaupt. Er hat Angst, dass sie ihn dort | |
zum Militär einziehen und nicht mehr rauslassen. | |
Für Januar 2024 habe er einen Termin beim Amt, berichtet er, um sich für | |
den deutschen Pass zu bewerben. Dafür muss er unter anderem | |
Deutschkenntnisse auf B2-Niveau nachweisen. Das ist die vierte von sechs | |
Stufen beim Spracherwerb. „Das schaffe ich“, sagt Karim. Kann gut sein, | |
dass er Recht behält. | |
28 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Forderung-des-Staedte--und-Gemeindebunds/!5963201 | |
[2] /Unter-einem-Dach-mit-einem-Fluechtling/!5409436 | |
[3] /Ankommen-in-Deutschland/!5607599 | |
[4] https://www.stern.de/wirtschaft/tesla-gigafactory--schwere-verstoesse---wie… | |
## AUTOREN | |
Hannes Koch | |
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