Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Push- und Pull-Faktoren: Eine dankbare Argumentationshilfe
> Die politischen Debatten um Push- und Pull-Faktoren der Migration geben
> vor, diese vorhersagbar zu machen. Doch die Realität ist wie immer
> komplexer.
Bild: Abgehangene Klamotten, olle Theorien: Szene in der Kleiderkammer einer As…
Der Deutungsversuch ist so eingängig, dass er in Deutschland quer durch die
politischen Lager verfängt: Wenn Bund und Länder am Montag über die
Einwanderungspolitik beraten, wird es auch darum gehen, inwieweit
Sozialleistungen für Geflüchtete einen so genannten Pull-Faktor darstellen.
Stimmen aus der Regierung und der Opposition werten eine ordentliche
Sozialpolitik, die für alle Menschen gleichermaßen gilt, als unerwünschten
Anreiz für eine Einreise von Geflüchteten nach Deutschland. Dabei ist die
Betrachtung von Push- und Pull-Faktoren, also Kräften, die Menschen aus
ihrer Heimat „wegdrücken“ und solchen, die sie „anziehen“, zum Verstä…
von Migrationsbewegungen wenig geeignet.
Der US-amerikanische Wissenschaftler Everett Lee formulierte das
Push-Pull-Modell in einer Weiterentwicklung der so genannten
„Wanderungsgesetze“, die der deutsche Kartograph Ernst Ravenstein 1885
aufstellte. Im Geist der 1960er Jahre, als in dem Versuch der Soziologie
eine höhere Glaubwürdigkeit zu verschaffen, alle möglichen Lebensbereiche
in ökonomischen Modellen analysiert wurden, stellte Lee einen
quasi-mathematischen Satz auf: In jedem Lebensbereich gäbe es „zahllose
Faktoren“, die dazu beitrügen, „Menschen in dem Gebiet halten“. „Und es
gibt andere, die die sie eher abstoßen.“
Lee veranschaulichte das Interpretationsschema in einem Diagramm aus zwei
Inseln mit Plus- und Minus-Zeichen, die miteinander verbunden sind. Dabei
schränkte der Wissenschaftler selbst ein: „Natürlich sind Plus- und
Minus-Faktoren am Herkunfts- und Zielort für jeden Migranten oder
potenziellen Migranten unterschiedlich definiert.“ Dieser zentrale
Vorbehalt des Verfassers findet in der aktuellen politischen Debatte kaum
Widerhall. Im Gegenteil: Die relative Beliebigkeit des Denkschemas eignet
sich hervorragend zur Stimmungsmache.
Arbeitsmarkt, Sozialstaat, Meinungsfreiheit, eine liberale Gesellschaft,
sie alle könnten Pull-Faktor für potentielle Einwanderer*innen sein.
Oder wie wäre es mit: [1][Seenotrettung], Sozialleistungen, einer
[2][Notfallversorgung beim Zahnarzt]. Haben wir alles schon gehört. Was ist
mit aufgeschlitzten Schlauchbooten in der Ägäis, dem [3][Kältetod von
Kurdinnen und Kurden an der belarussisch-polnischen Grenze]? Sind
Asylunterkünfte in Deutschland, die nicht in Brand gesetzt werden, ein
Pull-Faktor?
## Bitte setzen Sie hier ihren Pull-Faktor ein
Das Push- und Pull-Modell gilt in der Migrationsforschung als leere Hülle,
die mit beliebigen Beispielen gefüllt werden kann. Sie sollen den Anschein
erwecken, dass mit simplen Stellschrauben Fluchtbewegungen effektiv
gesteuert werden können. Hier eine Geldkarte statt Bargeldzahlungen, und
zack! 14 Prozent weniger Andrang an der deutschen Grenze. Dort
hunderttausend Euro für die Seenotrettungsorganisation gestrichen, und
schon nehmen weniger Leute die tödliche Passage über das Mittelmeer auf
sich.
Das Mittelmeer ist 2,5 Millionen Quadratkilometer groß, derzeit
durchkreuzen es etwa 16 private Rettungsschiffe. Dass da kaum jemand
ernsthaft damit kalkuliert, im Zweifel aus den Wellen gezogen werden zu
können – geschenkt. Dass kaum jemand, der für sich und zurückgebliebene
Angehörige sorgen will, mit 182 Euro Taschengeld aus den
Asylbewerberleistungsgesetz spekuliert, ist ebenfalls nicht wichtig. Es
geht um Symbolik, um den Gedanken, dass mit einfachen Parametern Migration
effektiv gesteuert werden kann. Die quasi-theoretische Untermauerung mit
der Eliminierung von „Pull-Faktoren“ ist dafür essentiell.
Die Diskussion darum, Anreize zur Einreise nach Deutschland zu minimieren,
ist letztendlich ähnlich gelagert wie Debatten um „Asylbetrüger und
Sozialschmarotzer“ in den 90er- Jahren. Doch der Verweis auf den Denkansatz
von Lee macht den den Griff nach dem alten Vokabular nicht nötig.
## Bessere Erklärversuche sind leider etwas komplizierter
Wie es häufig so ist, sind die aussagekräftigeren Deutungsmuster weniger
griffig, weil sie die Komplexität des Migrationsgeschehens anerkennen.
Aktuelle Theorien nehmen in Blick, warum sich Menschen in Bewegung setzen,
aber vor allem auch: Warum Menschen nicht fliehen (können). Weltweit gibt
es mehr Menschen, die in Kriegs- und Konfliktgebieten leben, als solche,
die sich auf der Flucht befinden.
Mit ökonomischen Ansätzen, wie bei Lee, ist dieser Umstand nicht zu
erklären. Kriege etwa sind eben nicht der simple Push-Faktor zur Flucht,
sondern auch ein Grund für die Immobilisierung von Menschen. Aktuell gilt
das für die Zivilbevölkerung des Gaza-Streifens genauso wie für ukrainische
Männer im wehrfähigen Alter.
Neben diesen rechtlichen Einschränkungen gibt es auch Fälle, in denen
Menschen zwar emigrieren könnten, aber das Vor-Ort-Bleiben – auch unter
widrigsten Umständen – bevorzugen oder schlicht erdulden; wegen ihres
Alters, wegen ihrer Rolle in der Familie. [4][Eine aktuelle Studie der
Stiftung Wissenschaft und Politik] setzt Migrationsbestrebungen
(Aspirationen) von Menschen in Verhältnis zu ihren Möglichkeiten zur
Flucht. Kosten-Nutzen-Abwägungen kommen bei Fluchtentscheidungen dagegen
sehr verallgemeinernd daher, mal ganz abgesehen davon, dass der rational
handelnde Akteur aus der ökonomischen Ideenwelt in Kriegs- und
Konfliktsituationen noch nie gesichtet wurde.
## Die Sache mit dem Rechtsstaat
Jochen Oltmer, Professor am Osnabrücker Institut für Migrationsforschung,
sagt der taz: „Ohne eine kontextspezifisches Bemühen wird kein
Erklärungsversuch funktionieren.“ Das gelte auch etwa für die Frage, warum
denn nun im EU-Schnitt verhältnismäßig am meisten Menschen in die
Bundesrepublik fliehen würden. „Wenn man individuelle Aspirationen und
individuelle Fähigkeiten im Blick behält, kann man wesentlich besser
erklären, wie Migration funktioniert.“ So sei etwa ein rechtsstaatliches
Asylverfahren in Deutschland, trotz der Aussicht auf einen prekären
Duldungsstatus, entscheidender als die Zahlung irgendwelcher
Sozialleistungen.
Bliebe die Frage: Ist der Rechtsstaat nicht auch ein misslicher
Pull-Faktor, der abgeschafft gehört?
6 Nov 2023
## LINKS
[1] /Flucht-uebers-Mittelmeer/!5952245
[2] /CDU-und-Zahnbehandlungen-fuer-Gefluechtete/!5959412
[3] /Grenze-zwischen-Polen-und-Belarus/!5816565
[4] https://www.swp-berlin.org/publications/products/studien/2023S08_stayees.pdf
## AUTOREN
Cem-Odos Güler
## TAGS
Migration
Geflüchtete
Wissenschaft
Soziologie
GNS
Migration
Asylpolitik
Migration
Friedrich Merz
## ARTIKEL ZUM THEMA
Geflüchtete in Deutschland: FDP will Asylleistungen kürzen
Der kleine Ampel-Koalitionspartner FDP wärmt flüchtlingsfeindliche
Vorschläge auf – und sperrt sich offenbar weiter gegen das
Demokratiefördergesetz.
Bund-Länder-Treffen zur Migration: Union und Ampel überbieten sich
Länder und Kommunen fordern mehr Geld für die Unterbringung von
Geflüchteten. Einige Hardliner fordern immer mehr Abschreckung – und viele
machen mit.
Verschärfte Abschieberegeln: Neue deutsche Härte
Die Bundesregierung heizt die Diskussion mit verschärften Abschieberegeln
weiter auf – und erntet Kritik. Doch was genau wurde beschlossen?
Scharfe Töne zu Migration: Der Cocktail aus der Union
Merz verrührt Antisemitismus-Vorwürfe mit Rassismus. Sein Vorschlag zum
Einbürgerungsrecht ist bereits in einem Kabinettsentwurf enthalten.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.