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# taz.de -- Autoverkehr muss beschränkt werden: Fetisch, der Gerechtigkeit sti…
> Autos sind Waffen. Das zeigt der tödliche Unfall einer 11-jährigen
> Fußgängerin – und das milde Urteil für den Fahrer.
Bild: Männerhände am Steuerrad
Was den US-AmerikanerInnen die Waffe, ist den Deutschen das Auto: Ohne
sind viele nur halb, fühlen sich amputiert, es fehlen ihnen Omnipotenz und
Potenz. Als „erweiterte Selbstobjekte“ bezeichnen PsychoanalytikerInnen
diese Verbundenheit mit den Dingen. Jenseits des Atlantiks das kalte Metall
an der Haut, diesseits die schützende Blechhaut um den Körper. Deshalb
gelten dort lächerliche Waffengesetze und hier Autoprivilegien sowie eine
autofreundliche Rechtsprechung, die zum Heulen ist.
Konkretes Beispiel: 2022 wurde ein [1][elfjähriges Mädchen in Berlin
überfahren]. Es überquerte eine Fußgängerampel an einer vierspurigen
Straße. Diese stand auf Grün und ordnungsgemäß hatten AutofahrerInnen, bei
denen folglich rot war, angehalten. Die rechte Spur allerdings war noch
frei, als ein Typ, geschützt von einem 218 PS starken Blechpanzer, mit über
65 Kilometern pro Stunde angerauscht kam und über die nun seit über 23
Sekunden rote Ampel raste. Er habe vor seinem inneren Auge Grün gesehen,
wie er später sagte.
Der Autofahrer fuhr das Mädchen an; es starb. Das Urteil, das jetzt
ergangen ist: neun Monate Gefängnis auf Bewährung. Im April 2024 kann der
Täter auch seinen eingezogenen Führerschein wiederbekommen.
Dieses Urteil stört das Rechtsempfinden nicht nur des Vaters, [2][der in
Berufung gehen will], sondern das vieler Menschen. Angesichts
[3][drastischer Strafen für die Leute der Letzten Generation] umso mehr.
Zumindest den Führerschein dürfe der Autofahrer nie mehr bekommen, finden
viele. Selbst die Bild, Lobbyorgan der Autowelt, wütet und [4][nennt den
Fahrer „Totraser“]. Eine [5][Petition fordert jetzt], dass das Gesetz dem
Gerechtigkeitssinn der Bevölkerung gemäß geändert werde. Denn der
Autoverkehr muss dringend beschränkt werden – und wer verantwortlich fährt,
müsste genau das wollen.
Anders als in Zügen, wo sich Reisende als Gemeinschaft verstehen (oder
verstehen müssen), begreifen sich Autofahrende als Individuen. Deshalb aber
gibt es so großes Tamtam, wenn Beschränkungen gefordert werden. Dabei muss
es einen Paradigmenwechsel geben: Denn das Auto ist kein Objekt der
Befreiung mehr, sondern eins der Unterdrückung und Bedrohung. Entsprechend
vorsichtig muss damit umgegangen werden.
Die Rechtsprechung in Deutschland jedoch tut bisher alles dafür, dass
Autofahrenden keine Steine in den Weg gelegt werden, selbst wenn Leute
durch sie zu Schaden kommen. Genau wie die Waffenlobby und auch die
politische Rechtsprechung in den USA alles dafür tun, dass alle jederzeit
eine Waffe besitzen dürfen.
2022 wurden in den USA über 20.000 Menschen durch Schusswaffengebrauch
getötet. Darunter mehr als 6.000 Kinder und Jugendliche. Fast doppelt so
viele wurden zudem verletzt. In Deutschland [6][starben im Jahr 2022 bei
Verkehrsunfällen 2.788 Menschen], verletzt wurden 361.134. Menschlich sind
das ungeheure Verluste und volkswirtschaftlich ungeheure Schäden. Hätte
Deutschland so viele EinwohnerInnen wie die USA, wären es hochgerechnet
dann viermal so viele. Gut, diese Analogie ist müßig, eine andere nicht.
Unterm Strich nämlich sind Waffenbesitzer und Leute am Lenkrad gleich: Sie
sind wie Cyborgs, wie Mensch-Maschinen-Wesen, wie Auto-Automaten. Einen
Unterschied indes gibt es auf den zwei Seiten des Atlantiks. In den USA
heißt eine Waffe Waffe. In Deutschland aber heißt das Auto nicht Waffe,
obwohl es eine ist.
Hätte der Mann in Berlin vor seinem inneren Auge eine grüne Ampel gesehen,
wäre dabei aber nicht Auto gefahren, seine Fata Morgana würde als geistige
Verwirrung gewertet, die Zweifel an seiner Zurechnungsfähigkeit zwingend
anzeigen. So aber sticht Fetisch Gerechtigkeit.
29 Oct 2023
## LINKS
[1] https://louisa-unvergessen.de/presse.php
[2] https://www.berlin-live.de/berlin/verkehr/verkehr-auto-raser-urteil-vater-o…
[3] https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-09/letzte-generation-st…
[4] https://www.bild.de/regional/berlin/berlin-aktuell/louisa-11-tot-gefahren-t…
[5] https://www.change.org/p/strafversch%C3%A4rfung-f%C3%BCr-t%C3%B6tungsdelikt…
[6] https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Verkehrsunfaelle/Tabe…
## AUTOREN
Waltraud Schwab
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