| # taz.de -- Ausstellung über Um- und Anbau: Am besten nichts Neues | |
| > Eine Ausstellung in Hannover zeigt: Statt Leerstand und Abriss wäre ein | |
| > kreativer Umgang mit Bausubstanz denkbar. Die Wohnungsnot würde er | |
| > lindern. | |
| Bild: Nach ihrer Teilzerstörung wurde die Kirche von Vilanova de la Barca zum … | |
| Eigentlich ist das Um-, An- und Weiterbauen eine uralte Kulturtechnik. | |
| Allerdings fordert sie fantasievolle, undogmatische, mitunter auch | |
| langwierige Herangehensweisen aller Beteiligten, wie die Ausstellung | |
| „[1][Nichts Neues – Besser Bauen mit Bestand“] derzeit in Hannover vor | |
| Augen führt. Die [2][Übernahme aus dem Deutschen Architekturmuseum] | |
| Frankfurt zeigt 24 internationale Projekte aus allen Kontinenten, | |
| verschiedenen Größenordnungen und Nutzungen, von Wohnen, Arbeiten, über | |
| Grünräume bis zur Kultur. Anhand von sechs Themenbereichen werden Um- oder | |
| Anbau oder das Reaktivieren brachliegender Substanz analysiert. | |
| Wie dringlich dieses Anliegen ist, verdeutlicht ein Blick auf die reale | |
| Wohnungsnot, ihre Ursachen und die gängigen Ansätze, wie sie zu lindern | |
| wäre. So würden [3][nach dem Wunsch der Bundesregierung jährlich 400.000 | |
| Wohnungen] fertiggestellt, um einem Mangel an kostengünstigem Wohnraum zu | |
| begegnen. Jenseits der unrealistischen Zahl stellt wohl niemand in Frage, | |
| dass diese Wohnungen neu gebaut werden sollen. Mit all den Konsequenzen wie | |
| Grundflächenverbrauch, aufwendiger technischer Erschließung und Maßnahmen | |
| sozialer Infrastruktur sowie den so kostenträchtigen wie umweltbelastenden | |
| Faktoren, die Planen und Bauen heutzutage nun mal bedeuten. | |
| Anderseits weisen Statistiken seit Jahren erstaunliche Leerstände im | |
| deutschen Wohnungsmarkt aus. Um 2016 sollen es gut zwei Millionen Wohnungen | |
| und Eigenheime gewesen sein, wohl bereits bereinigt um sogenannte | |
| „Schrottimmobilien“. Zum Ende des Jahres 2021 waren es rund 607.000 | |
| Einheiten, so die Erhebung von Statista aus dem August 2023. Abgebildet | |
| wurde der „marktaktive Leerstand von Geschosswohnungen. Dazu zählen leer | |
| stehende Geschosswohnungen, die unmittelbar disponibel (vermietbar) sind, | |
| sowie leer stehende Wohnungen, die aufgrund von Mängeln derzeit nicht zur | |
| Vermietung anstehen, aber gegebenenfalls mittelfristig aktivierbar wären“, | |
| sprich in weniger als einem halben Jahr. | |
| ## Erneuern statt Verfall und Abriss | |
| Spitzenreiter in Sachen Wohnungsleerstand ist dabei der Bund. Zum Stichtag | |
| 31. März 2022 stand gemäß einer Antwort der Bundesregierung auf die | |
| schriftliche Frage der Linkspartei jede sechste der insgesamt [4][rund | |
| 38.000 bundeseigenen Wohnungen leer]. Der Grund: Sanierungsrückstände. | |
| Darf man eine Dunkelziffer bei den Leerständen privater und gewerblicher | |
| Vermieter vermuten, da ihre Angaben auf Freiwilligkeit beruhen, so gibt es | |
| ein noch größeres Informationsdefizit bezüglich des Abrisses von | |
| Immobilien. Denn viele Bundesländer verlangen überhaupt keine Anzeige mehr. | |
| Ein Abriss ist gemäß amtlicher Terminologie „verfahrensfrei“ – Ausnahme | |
| sind Baudenkmale, Hochhäuser oder Gebäude, in denen sich geschützte | |
| Tierarten angesiedelt haben. | |
| Allerdings lassen sich aus dem fachgerecht zu entsorgenden Bauschutt | |
| Rückschlüsse auf die Abrisstätigkeit ziehen, das jährliche Volumen soll | |
| etwa dem Materialbedarf von 422.000 Wohnungen entsprechen. In den | |
| Baumaterialien gebundene „graue Energie“ wird in der Regel vernichtet, | |
| zermahlen etwa zu minderwertigen Füllstoffen für den Straßenbau. Ein | |
| zweites Ziel der Bundesregierung, neben besagten 400.000 Wohnungen pro Jahr | |
| nämlich die CO2-Neutralität bis 2045, rückt so ebenfalls in weite Ferne. | |
| Lange hat sich der Berufsstand der Architekt:innen und | |
| Bauingenieur:innen wenig um diese Zusammenhänge gekümmert, galt der | |
| Neubau doch als prestigeträchtiger und auch berechenbarer in der Umsetzung. | |
| Durch Programme wie „Shrinking Cities – Schrumpfende Städte“ ab 2004 oder | |
| die Städtebauförderung „Soziale Stadt“ wurde bis vor wenigen Jahren zudem | |
| selbst der großflächige Abriss, euphemistisch „Rückbau“, offiziell | |
| favorisiert, gar staatlich gefördert. | |
| Erst vor zehn Jahren begann ein langsames Umdenken. Das spiegelt sich | |
| vorrangig – als Lippenbekenntnis – in den internationalen Auszeichnungen | |
| der Branche wider. So erhielt das französische Duo Anne Lacaton und | |
| Jean-Philippe Vassal, ausgesprochene Spezialist:innen für die | |
| Neuprogrammierung baulichen Bestands und von der Presse schon mal als | |
| „Abrissgegner“ tituliert, 2020 den Großen BDA-Preis des Bundes Deutscher | |
| Architekt:innen, gefolgt 2021 vom US-amerikanischen Pritzker-Preis, einer | |
| Art Nobel-Preis für Architektur. | |
| Die Ausstellung in Hannover wirft auch einen Blick auf komplexe Prozesse | |
| wie das „Erneuern“ in Dorf und Stadt. Beispiel hierfür: das Gängeviertel … | |
| Hamburg, 2009 durch die „kulturelle Inbesitznahme“ vor Verfall und Abriss | |
| gerettet. Mittlerweile ist der Weiterbestand durch eine Genossenschaft | |
| gewährleistet, ausgestattet mit einem 75-jährigen Erbbauvertrag, bis 2027 | |
| soll sukzessive saniert werden. Das Viertel bleibt ein Stück | |
| selbstverwalteter Stadt – ohne Gentrifizierung oder sonstige ökonomische | |
| wie soziale Verdrängung, die häufig auf Sanierungs- und | |
| Aufwertungsmaßnahmen folgt. | |
| Der Hannoveraner Ausstellungsort, eine leer stehende Kaufhaus-Filiale, ist | |
| als [5][„aufhof“] von der Kommune bis Anfang 2024 als temporäres | |
| Kommunikationszentrum gefördert und thematisiert selber ein aktuelles, | |
| großes Problem deutscher Innenstädte: Was tun mit den Kaufhausmonstern nach | |
| dem Erodieren ihres großflächigen Einzelhandels? | |
| Ergänzt wird die Schau durch acht studentische Projekte der | |
| Leibniz-Universität zu umbauwerten Objekten im Hannover, darunter auch eine | |
| Masterarbeit zu diesem Kaufhaus. Die Verfasserin will die robuste | |
| Baustruktur durch eingeschnittene Innenhöfe in ein luftiges, mischgenutztes | |
| Stadthaus transformiert sehen. Denn anders als der etablierte Berufsstand | |
| beackern Studierende, junge Gruppierungen wie Architects for Future oder | |
| auch Hochschulen schon seit Geraumen das ressourcenschonende Bauen im | |
| Bestand. | |
| Tim Rieniets, Professor für Stadt- und Raumentwicklung in einer | |
| diversifizierten Gesellschaft und Betreuer der Hochschulprojekte, sieht | |
| allerdings noch Defizite im Curriculum. Die Studierenden kontern mit | |
| selbstinitiierter Kreativität. Sieben „Detektivinnen“ haben während des | |
| vergangenen Semesters einen Abriss(be)fundbericht zur Region Hannover | |
| erstellt. Der umfasst mehrere Hundert beseitigte oder gefährdete Bauten, | |
| darunter so stadtbildprägende Immobilien wie das Kröpcke Center oder das | |
| Postscheckamt. Sie bildeten zunächst das Herzstück eines ansonsten recht | |
| schütteren, von Theatrum und den Projektpartnern gestalteten online | |
| Abriss-Atlas'. Dass dieser eine Woche nach Freischaltung über 800.000 | |
| Aufrufe generiert hat, und weit über 500 Einträge erstellt worden sind, | |
| zeigt, dass es gelingen kann, dem Thema eine Öffentlichkeit zu verschaffen, | |
| die seiner Bedeutung entspricht. | |
| 22 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.aknds.de/aktuelles/veranstaltungskalender/detail?tx_sfeventmgt_… | |
| [2] https://dam-online.de/veranstaltung/nichts-neues/ | |
| [3] /Bundesregierung-nach-den-Landtagswahlen/!5963297 | |
| [4] https://dip.bundestag.de/vorgang/leerstehende-wohneinheiten-im-bestand-der-… | |
| [5] https://www.aufhof-hannover.de/ | |
| ## AUTOREN | |
| Bettina Maria Brosowsky | |
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