# taz.de -- Hamburger Abschiebebeobachter hört auf: „Da wurde es mir zu viel… | |
> Nahezu täglich gibt es Abschiebungen über den Hamburger Flughafen. Moritz | |
> Reinbach hat die Abzuschiebenden in den Stunden vor dem Abflug begleitet. | |
Bild: Will künftig unabhängige Abschiebebeobachtung an der EU-Außengrenze er… | |
taz: Herr Reinbach wie haben Sie die [1][Abschiebungen zur Beobachtung] | |
ausgewählt? | |
Moritz Reinbach: Ich habe immer eine Liste der Abschiebungen des folgenden | |
Tages bekommen. Daraus habe ich ausgewählt, welche ich beobachte. Zu einer | |
Abschiebung nach Rumänien bin ich eher gefahren als zu einer Überstellung | |
in die Niederlande. Auch die Überstellung einer Familie mit Kleinkindern | |
habe ich priorisiert. Und in der Liste der Bundespolizei gab es die Spalte | |
„Sonstiges“ – die ist die interessanteste, weil darin polizeiliche Hinwei… | |
über die Abzuschiebenden stehen. „Mit Widerstand ist zu rechnen“, steht | |
dann da etwa oder ob jemand suizidal ist. | |
Wie häufig sind Sie zum Flughafen gefahren? | |
Im Schnitt etwa drei Mal die Woche. | |
Was wussten Sie über die Menschen, die abgeschoben werden? | |
Von ein paar Eckdaten abgesehen, lernte ich die Menschen erst dort kennen. | |
Etwa zwei Stunden vor dem Flug werden sie von den Ausländerbehörden der | |
Bundespolizei am Flughafen zugeführt. Als die Personen dann warteten, zum | |
Flugzeug gebracht zu werden, war das der Moment, in dem ich in Kontakt | |
trat, mich vorstellte und versuchte, Vertrauen aufzubauen. | |
Setzten die Menschen dann Hoffnungen in Sie? | |
Man muss am Anfang klarmachen, wo die Grenzen liegen – dass ich also nicht | |
die Kompetenz habe, diese Maßnahme zu unterbinden, sondern ich die Person | |
dort unterstütze, wo es geht. | |
Wie haben die Menschen reagiert? | |
Da erlebte ich Menschen, die nicht mehr reden wollten, als Sie erfuhren, | |
dass ich die Abschiebung nicht verhindern kann, bis hin zu Menschen, die in | |
Tränen ausbrachen und die ich dann erst mal umarmte. | |
Also waren Sie kein reiner Beobachter. | |
Das stimmt insofern, als dass ich während einer Beobachtung Gespräche | |
führe. Aber erst in den Gesprächen erfahre ich ja etwas über die Menschen | |
und ihre Abschiebungen. Wenn ich im Gespräch den Verdacht bekomme, dass | |
gewisse rechtliche Voraussetzungen für die Abschiebung nicht gegeben sind, | |
frage ich nach. Vielleicht teilt die Bundespolizei die Einschätzung, dass | |
die Abschiebung so nicht stattfinden darf. Oder ein Betroffener berichtet | |
mir, dass es bei der nächtlichen Abholung zum Flughafen aus seiner | |
Perspektive zu fragwürdigen Situationen kam. Ich kann das zwar nicht | |
verifizieren, aber die Zuführkräfte danach befragen und am Ende auch die | |
Schilderung der Betroffenen in meinen Bericht mitaufnehmen, um ihrer Stimme | |
Gehör zu verleihen. | |
Was bringt so ein Bericht? | |
Die Rolle des Abschiebebeobachters wurde geschaffen, um humanitäre | |
Mindeststandards zu wahren. Meine Berichte dienen dazu, mit den Behörden | |
[2][diskussionswürdige Fälle zu besprechen] und zu überlegen, wie man in | |
solchen Situationen anders reagieren kann. Aber das bedeutet eben auch: | |
Wenn wir über solche Fälle reden, sind die Menschen bereits abgeschoben. Es | |
gibt Stimmen, die die Rolle des Abschiebebeobachters als zahnlosen Tiger | |
ansehen oder sagen, dass man sich gemein machen würde mit dem bestehenden | |
Abschiebesystem. Ich glaube, dass es darüber kritische Debatten braucht, | |
allerdings komme ich zu dem Schluss: Wenn aus dieser Kritik folgt, dass es | |
keine unabhängige Beobachtung mehr geben soll, wäre das kein Fortschritt. | |
Haben Sie den Impuls verspürt, in kritischen Situationen einzugreifen? | |
Am Anfang sicherlich mehr. Die Routine führt dazu, dass dieser Impuls nicht | |
mehr so häufig da ist. Dennoch beschäftigen mich viele Fälle noch eine | |
längere Zeit, weil ich mich mit den Betroffenen über ihre Lebensgeschichte | |
unterhalte und ich die Fluchtgründe aus ihrem Heimatland erfahre. Da kommen | |
dann, wie ich finde, ganz natürlich Reflexe: Man wünscht sich, mehr | |
ausrichten zu können. Aber da muss ich auch professionell meine Rolle | |
einnehmen. Den Abschiebebeobachter gibt es nur unter der Voraussetzung, | |
dass er keine Maßnahme gefährden darf: Wenn ich das täte, gäbe es das ganze | |
Projekt nicht mehr. | |
Wie haben Sie reagiert, wenn Sie den Eindruck hatten, dass die | |
Bundespolizei humanitäre Mindeststandards nicht wahrt? | |
Natürlich darf ich nicht dazwischengehen, wenn die Polizei Gewalt anwendet. | |
Ich besitze auch nicht die Expertise, situativ die Rechtswidrigkeit einer | |
Zwangsmaßnahme festzustellen. Die Polizei hat das Recht, auch unmittelbaren | |
Zwang anzuwenden. Aber ich kann in solchen Momenten nachfragen, warum das | |
so ist, ob das sein muss und ob es nicht eine Alternative gibt. | |
Und bringen solche Nachfragen etwas? | |
Es gab mal eine Situation, in der eine Person auf dem Weg zum Flugzeug | |
mitteilte, dass sie zuvor Benzin getrunken hatte. Die Person begann sich | |
dann zu übergeben, es roch nach Benzin und nach der medizinischen | |
Behandlung sagte der Sanitäter, dass er so einen Fall zwar auch noch nicht | |
hatte, aber er die Person nun für flugreisetauglich hält. Da ging ich dann | |
zum Polizisten, teilte ihm meine Zweifel daran mit. Dann stimmte mir der | |
Polizist zu und die Abschiebung wurde abgebrochen. | |
War das als Erfolg Ihrer Tätigkeit zu werten? | |
Was die individuelle Ebene angeht: Wenn ich brenzlige Situationen | |
beobachte, ist das schon ein Erfolg, weil solche Abschiebungen ja Vorgänge | |
sind, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit geschehen. Die Arbeit des | |
Abschiebebeobachters dient andererseits dazu, im Flughafenforum, dem | |
Begleitgremium des Projekts, gewisse Praktiken genereller zu betrachten. | |
Kürzlich hatten wir einen Sachverständigen geladen, der ein Referat zur | |
Zwangsmedikation bei Abschiebungen hielt, weil das auch vorkommen kann. Die | |
Behördenvertreter*innen hatten mir bislang immer gesagt, dass sie | |
sich kein Urteil über den Einsatz von Zwangsmedikation anmaßen, weil sie | |
selbst ja keine Mediziner sind. Mir schien jedoch, dass die | |
Mediziner*innen damit fast schon einen Freifahrtschein haben. Der | |
Sachverständige hat dann die brisante Rolle von Ärzt*innen bei | |
Abschiebungen geschildert und ich hatte den Eindruck, dass sich die | |
Behördenmitarbeiter*innen während des Vortrags fleißig Notizen | |
machten. Wenn es gelingt, dass es bald eine Handreichung an die | |
eingesetzten Ärzt*innen gibt, werde ich das als Erfolg werten. | |
Als Sie [3][im Frühjahr ihren Jahresbericht vorstellten,] sagten Sie, dass | |
Ihre Aufgabe „emotional schwer auszuhalten“ ist. Haben Sie es auch mal | |
nicht ausgehalten? | |
In der Anfangszeit gab es Momente, in denen ich mit Tränen in den Augen aus | |
der Beobachtung kam. Da half es, hinterher mit Kolleg*innen zu sprechen, | |
die ein offenes Ohr für mich hatten. Strukturell verankert ist ohnehin eine | |
regelmäßige Supervision. | |
Gab es Situationen, denen Sie nicht ausgesetzt werden mochten? | |
Ein Fall bleibt mir in Erinnerung: Eine Person sollte nach Mali abgeschoben | |
werden. Der erste Versuch war gescheitert, weil die Person sich im Flugzeug | |
gewehrt hatte. Ich gab ihr meinen Kontakt, sie meldete sich später auch ein | |
paar mal bei mir und natürlich entwickelt sich im Lauf der Gespräche eine | |
gewisse Nähe. Irgendwann wusste ich, wann die Person abgeschoben werden | |
soll. Ich wusste, dass die Person nicht auf einem normalen Linienflug oder | |
in einer Sammelabschiebung nach Mali gebracht werden soll, sondern mit | |
einem gecharterten Kleinflugzeug nur für sie und eine weitere Person. Der | |
Abschiebetag war zudem mein Geburtstag und ich durfte das alles der Person | |
nicht sagen. Das war dann ein Moment, in dem es mir zu viel wurde. | |
Gibt es Ansichten zu Abschiebungen, die Sie jetzt anders sehen? | |
Wahrscheinlich habe ich vor dieser Tätigkeit mehr in Utopien und weniger in | |
der Realpolitik gelebt. Auch in der Realpolitik wünsche ich mir, [4][dass | |
es keine Abschiebungen braucht,] aber wenn wir uns die aktuelle Stimmung | |
anschauen, sind wir ja weit davon entfernt. Was manche Einzelfälle | |
betrifft: Wenn ich von einer Person im direkten Gespräch erfahren habe, | |
dass sie Schwerstkriminalität begangen hat, denke ich mir: Sie hat alles | |
dafür getan, kein Bleiberecht zu bekommen. Das ist dann der realpolitische | |
Blick auf Verfahren, den ich mir angeeignet habe – auch wenn ich weiterhin | |
denke, in vielen Fällen gäbe es bessere Alternativen als eine Abschiebung. | |
27 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Abschiebung-am-Flughafen-Hamburg/!5930503 | |
[2] /Abschiebungen-vom-BER/!5950889 | |
[3] https://www.diakonie-hamburg.de/de/presse/pressemitteilungen/Diakonie-Absch… | |
[4] /Asyldrama-in-Hamburg/!5898243 | |
## AUTOREN | |
André Zuschlag | |
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