| # taz.de -- Pollesch-Stück an der Volksbühne: Das eine Gefühl, das nie entt�… | |
| > Mit Irritationen in homöopathischen Dosen inszeniert René Pollesch | |
| > „Fantômas“ an der Berliner Volksbühne. Martin Wuttke ist darin eins der | |
| > Highlights. | |
| Bild: Charlie Chaplin hätte seine helle Freude an diesem Nachfolger: Martin Wu… | |
| „Buckel,“ [1][schreit Martin Wuttke]. Sein Oberkörper klappt wie ein | |
| Taschenmesser zusammen und wölbt sich nach hinten. Wuttke rast durch die | |
| endlose Beschreibung körperlicher Eigenschaften. Er tigert über die | |
| Bühnenrampe, steigert sich hinein in einen Wortrausch, den sein Körper mit | |
| immer neuen Bildern kommentiert. | |
| Charlie Chaplin hätte seine helle Freude an diesem Nachfolger, der von | |
| O-Beinen über Spreizfüße bis zu sämtlichen Gesichtsdeformationen alles im | |
| Repertoire hat und dieses vielleicht längste Stück Slapstick weltweit mit | |
| einer Leichtigkeit umsetzt, die beim Zusehen einfach nur glücklich macht. | |
| Und gleichzeitig fröstelt man innerlich, [2][denn René Pollesch] hat „diese | |
| Nummer“ in seinem neuen Stück „Fantômas“ in der Mitte angesiedelt. Da i… | |
| bereits ausgiebig über den Gefühlszustand Angst reflektiert worden, | |
| FBI-Mitarbeiter und/oder KGB-Personal (das ist ständig im Fluss) wurden | |
| eingeführt, und es wurde über das extrem subversive Potenzial von Lachen | |
| direkt vor der Hinrichtung kollektiv nachgedacht. | |
| Und so ergötzt man sich an Wuttkes bizarren Körperverrenkungen und an | |
| seiner Stimme, die die unendliche Flut von Substantiven und Adjektiven in | |
| den Raum pflanzt, und erstarrt in dem Bewusstsein, dass es hier um | |
| praktisches Rüstzeug der erkennungsdienstlichen Behandlung geht. Wuttke | |
| beendet seine Tirade mit „Fantômas kann alles sein“. | |
| ## Pollesch inspiriert vom Meisterverbrecher | |
| Denn Pollesch hat sich diesmal von der gleichnamigen französischen | |
| Filmtrilogie über den Meisterverbrecher, der verschiedene Identitäten | |
| annehmen kann, inspirieren lassen. René Pollesch, Dramatiker und Regisseur | |
| in Personalunion, kopiert den Titel, lässt sein Bühnenpersonal drei Stunden | |
| lang um das nicht zu fassende Fantômas-Phantom kreisen und bleibt sich | |
| treu. | |
| Das heißt, es geht nicht um Figurenentwicklung, nicht um Spannungsaufbau, | |
| sondern um Diskurs. Martin Wuttke und Benny Claessens reden sich immer mal | |
| wieder mit Nikolai Apollonowitsch oder Alexander Iwanowitsch an. Das spielt | |
| figurentechnisch keine Rolle, bringt aber ein bisschen Dostojewski-Flair | |
| [3][in die Volksbühne.] Das funktioniert, weil Pollesch sich hier | |
| sprachlich an den russischen Schriftsteller anlehnt und auch inhaltlich | |
| tief schürft. | |
| In seinen besten Momenten wirken Polleschs Texte wie frischer Wind, der | |
| beim Zuhören alle Fasern neu aufstellt. Das gelingt ihm nicht jedes Mal, | |
| nicht bei jeder Inszenierung, aber definitiv mit „Fantômas“. Man möchte am | |
| liebsten sofort in Klausur gehen und nachdenken über die These: „Es gibt | |
| nur ein einziges Gefühl, das uns nicht täuscht, die Angst.“ Pollesch aber | |
| lässt sein Personal von philosophischen Höhen sehr schnell ins Tal der | |
| vermeintlichen Banalität purzeln. | |
| Der vielschreibende Dramaturg hat seit den 1990ern immer mehr Leichtigkeit | |
| in seine Texte einfließen lassen. Hat er das richtige Personal wie hier mit | |
| Wuttke, Claessens und Kathrin Angerer, die die Übergänge vom Boulevard zu | |
| Erkenntnistheorie in einer Nanosekunde meistern und sich zum ganzen Text | |
| mit derselben Ernsthaftigkeit verhalten, dann entsteht eine Bühnenqualität, | |
| die singulär ist. Und was immer wieder neu besticht in seiner Dramatik als | |
| Folie beim Blick vom Theater nach draußen ist der friedliche ergebnisoffene | |
| Diskurs, der auf der Bühne leichtfüßig demonstriert wird. | |
| ## Drei Stunden langer Gedankenspaziergang | |
| Polleschs Texte lassen die Protagonist:innen oft in ihrer Blase, sie | |
| schrammen verbal nicht selten aneinander vorbei, darum wird es situativ | |
| leicht absurd. Bei „Fantômas“ springen die Themen, werden aber durch eine | |
| kreisförmige Dramaturgie immer wieder eingefangen. | |
| So ist es nach drei Stunden (ohne Pause!), als hätte man einen langen | |
| Gedankenspaziergang gemacht mit Fantômas, der nicht einfach greifbar ist | |
| und auf den gerade deshalb so viel projiziert werden kann. Campell Caspary | |
| und Sonja Weisser rasen immer wieder als Fantômas-Phantome in Schwarz über | |
| die Bühne. | |
| Leonard Neumann hat eine offene, begehbare Holzkonstruktion und eine Jurte, | |
| in der gefilmt wird, auf die Bühne gestellt. Wuttke & Co tun, egal wo sie | |
| gerade auf der Bühne sind, dasselbe, sie sind einander zugewandt und reden. | |
| Kathrin Angerer spricht das Wort „Terror“ aus, als hätte sie es vorher noch | |
| nie gehört. | |
| Und Wuttke sagt: „Ich bin entschlossen, mich in einen Hinterhalt locken zu | |
| lassen.“ Produktive Irritationen in homöopathischen Dosen. Und mittendrin | |
| als Highlight der Wuttke-Slapstick, wegen dem die Inszenierung zu einem | |
| Renner werden wird. | |
| 13 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katja Kollmann | |
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