# taz.de -- Neuer Tatort-Kommissar Martin Wuttke: "Ich kann keinen Linksruck er… | |
> "Kommissare sind Linie edel, hilfreich und gut", sagt Martin Wuttke. | |
> Jetzt ist er selbst einer. Der Schauspieler über sein neues Medium | |
> Fernsehen und das Funktionärswesen der 68er. | |
Bild: "Ein negativer Held bleibt in jedem Fall undenkbar": Martin Wuttke. | |
taz: Herr Wuttke, was hätten Heiner Müller oder Einar Schleef zu Ihrem | |
neuen Engagement als Leipziger "Tatort"-Kommissar gesagt? | |
Martin Wuttke: Herzlichen Glückwunsch! | |
Eine Rolle im populären Medium Fernsehen wäre kein Tabu gewesen? | |
Nein, zumindest kann ich mir das nicht vorstellen. Ganz abgesehen davon | |
hätten sie keinen Einfluss auf meine Wahl von Rollen gehabt. Einen | |
Regisseur wie Schleef hätte weniger das Medium gestört als die Tatsache, | |
dass es mich aus seinem Arbeitsbereich entfernt hätte. | |
Auf eine Art erfüllt der "Tatort" im Fernsehen ja die Rolle des Berliner | |
Ensembles in der Theaterlandschaft: sozialkritisch, links, politisch. | |
Sagen wir so: Man muss sich immer durch den Speck durchschneiden, in dem | |
man gerade steckt. Fernsehen ist ein anderer Arbeitsbereich mit anderen | |
Bedingungen, aber gerade der "Tatort" erreicht ein Massenpublikum, | |
dementsprechend sind die Widerstände gegen bestimmte Stoffe noch massiver | |
als im Theater. | |
Welche wären das? | |
Es geht immer um die Anderen. Immer wenn es etwa um Drogen geht, nimmt das | |
Fernsehen eine bestimmte Perspektive ein: Man redet von Leuten, die man | |
nicht kennt, blickt auf sie herab. Dabei nehmen gerade im Fernseh- und | |
Filmbereich eine Menge Leute selbst Drogen. Das weiß auch jeder. In den | |
Filmen, die sie produzieren, tauchen aber immer nur | |
Klischee-Drogenabhängige auf: Fixer aus den unteren Schichten. Jedenfalls | |
immer die Anderen. | |
Weshalb wollen Sie unter diesen Umständen in Zukunft als Kommissar | |
ermitteln? | |
Mich hat das Serielle gereizt. Anders als in einem Spielfilm geht es bei | |
der Serie nicht darum, eine Figur über eine geschlossene Geschichte zu | |
erzählen. Dieser Kommissar wird immer wieder in ganz verschiedenen | |
Situationen auftauchen, in denen man ihn vielleicht erst kennenlernt. | |
Sie kennen ihn selbst noch nicht? | |
Nein, das empfinde ich ja gerade als Chance: eine Figur über mehrere Folgen | |
und eine gewisse Zeitspanne zu verfolgen. Leider ist dieser Zugang zur | |
Rolle eine Arbeitsweise, die schwer kompatibel ist mit dem Fernsehen, wo | |
mir zunächst andere Ansätze begegnen. Wir werden sehen, ob wir sie | |
synchronisieren können. "Tatort"-Kommissare sind in erster Linie edel, | |
hilfreich und gut. Egal, ob sie einen Arm haben oder stottern. Ein | |
negativer Held bleibt in jedem Fall undenkbar. | |
In Ihrer Zeit an der Volksbühne unter Frank Castorf haben Sie in vielen | |
medienkritischen Inszenierungen mitgewirkt, die vor allem das | |
voyeuristische Big-Brother-Wesen im Blick hatten. Und Sie wirken immer noch | |
sehr kritisch dem Medium gegenüber. | |
Ich glaube, da muss man unterscheiden. Wenn in diesen Aufführungen | |
Videotechnik benutzt wurde, um das Publikum den Blick in intime Räume auf | |
der Bühne zu ermöglichen, handelte es sich um eine Art Experiment: Wie | |
verhalten sich Menschen, wenn Kameras sie angucken oder wenn sie den Zugang | |
zu verschlossenen Räumen freigeben? Das kann man als Medienkritik lesen, | |
muss man aber nicht. | |
Ist dieser Blick noch ein Thema für Sie? | |
Ja, aber seine Dimension hat sich verändert. An einen bestimmten Grad von | |
Voyeurismus hat man sich mittlerweile gewöhnt. Nun rücken die Kameras | |
näher. Nehmen Sie nur diese Dschungel-Camp-Shows. Die Kameras rücken näher | |
und näher - bis sie irgendwann endoskopisch sein werden und den | |
Speichelfluss bei irgendeiner Reizung dokumentieren. Aus dem soziologischen | |
Experiment ist ein biologisches geworden. | |
Wie reagiert eigentlich das Theater darauf? Mit einer Bertolt Brechtschen | |
Distanziertheit? | |
Ganz ähnlich eigentlich. Beim vorletzten Theatertreffen war das sehr | |
auffällig. Günther Rühle, mein ehemaliger Intendant, brachte es dort bei | |
einem Gespräch auf den Punkt: Es gab zwei große, widerstreitende Pole im | |
Theater, Brecht und Beckett. Der Brechtsche geht mittlerweile gegen null. | |
Man rutscht lieber nahe an den Menschen vor dem offenen Kühlschrank. | |
Als den gefüllten Kühlschrank an sich zu fokussieren? | |
So ungefähr, ja. Bei jenem Theatertreffen gab es zahlreiche | |
Tschechow-Inszenierungen, die insofern bemerkenswert waren, als sie keinen | |
gesellschaftlichen Zusammenhang mehr erkennen ließen, in dem Menschen | |
agieren. Die Bedingungen, unter denen etwa die "Drei Schwestern" handeln, | |
blieben außen vor. Warum sind da Soldaten, warum ziehen sie weiter, in | |
welcher Zeit bewegen sie sich - all das rückt in den Hintergrund. Im Fokus | |
stehen nur noch die Menschen, die sich in ihrem Menschsein äußern. Das kann | |
man jetzt als Mangel sehen, aber ich will es gar nicht bewerten. | |
Vielleicht wollen Sie es ja erklären? | |
Offenbar ist das Bedürfnis sehr groß, sich im Theater zu erzählen, dass wir | |
Menschen sind. Ein Selbstvergewisserungsprozess. Die soziologische | |
Einordnung oder die gesellschaftlichen Zusammenhänge führen zu keiner | |
Orientierung mehr. Wenn die "Drei Schwestern" von ihrer Langeweile reden | |
und der Sehnsucht nach Moskau - Moskau als Chiffre für einen Sehnsuchtsort, | |
an den man sich wünscht -, teilen sie nur noch ihre Langeweile mit den | |
Zuschauern. Eine spezielle Spielart des Humanismus. Danach kümmert man sich | |
wieder um die Biologie. | |
Da scheint der "Linksruck" der Gesellschaft, von dem alle reden, ja genau | |
zum richtigen Zeitpunkt zu kommen. | |
Den kann ich ehrlich gesagt nirgendwo wahrnehmen, schon gar nicht | |
empfinden. Für mich existiert er nur auf dem Papier, eine Art Pappe, die | |
einige plötzlich hochhalten. Woran man dieses gesellschaftliche Projekt | |
wirklich festmachen soll, kann ich nicht orten. Reine Polemik, politische | |
Grabenkämpfe. | |
Vielleicht ist die Zeit der linken Projekte und Entwürfe einfach vorbei? | |
Heiner Müller hat einmal hier im Berliner Ensemble ein Mai-Gedicht von | |
Brecht gelesen und sagte dazu nur: Das klingt jetzt alles sehr, sehr | |
lächerlich, aber diese Utopien werden wiederauftauchen. Ich glaube, er | |
hatte Recht. Die Sehnsucht nach diesem Land, von dem in dem Gedicht geredet | |
wird, ist nach wie vor da. Man kann die Position vertreten, dass das | |
Projekt gescheitert ist. Na gut. Aber die Sehnsucht nach einer solchen | |
Utopie wird an einem anderen Horizont wiederauftauchen. | |
Wäre das Theater ein denkbarer Horizont? | |
Das wäre schön, ist aber eher unwahrscheinlich. Momentan gibt es niemanden | |
in dieser Gesellschaft, der aufstehen und ein Stoppschild hochhalten | |
könnte. Das Theater selbst ist zu stark in den Gesellschaftsentwurf | |
eingearbeitet. Was passiert denn, wenn sich Herr Peymann zu politischen | |
Vorgängen äußert? Ganz egal, welche Position er vertritt, ihr Stellenwert | |
lässt sich nicht vergrößern. Selbst wenn ein ganzes Theater sich gemeinsam | |
für etwas stark machen würde, hieße es doch nur: die Theaterleute, die | |
brauchen PR. | |
Vielleicht will diese demokratische und friedliche und saturierte | |
Gesellschaft gar keinen Aufbruch? | |
Dieses Land ist extrem sediert. Da wirken die unterschiedlichsten Drogen | |
zusammen: Angst, eine Form von mittlerem Wohlstand und betäubendem Luxus, | |
die sich in Dumpfheit niederschlagen. Selbst dieser hitzige Fleiß, jener | |
Arbeitseifer, der ein Land aufbauen wollte, ist völlig verschwunden. Wo | |
sollte da Raum für ein Projekt sein. | |
Fehlt Ihnen persönlich eines? Wäre Ihnen danach, dass Ihr Theater kollektiv | |
aufsteht und gehört wird? | |
Das ist schwierig. Ich würde lieber mit Rainald Goetz sagen: Dont cry, | |
work. Mich interessiert das Spezielle einfach mehr als der große Entwurf, | |
dazu wäre ich auch nicht in der Lage. | |
Vielleicht hat die 68er Bewegung in der Hinsicht ja auch gesiegt - jetzt | |
kann es um das Spezielle gehen? | |
Von 68 habe ich als Kind nur die Schatten miterlebt. Woran ich mich aber | |
gut erinnere, ist die dauernde Auseinandersetzung mit dem Thema Autorität. | |
Meine Arbeitgeber waren ja größtenteils 68er. Und genau diese Leute hatten | |
ein explizites Autoritätsproblem. Am Theater, das ja in Westdeutschland ein | |
Forum dieser Bewegung war, wurde eine bestimmte Form des Diskurses | |
gepflegt. Wenn ich erkennen ließ, dass mich nun nicht interessiere, ob in | |
Don Carlos die eine oder andere Figur wie Filbinger ist, war das definitiv | |
der falsche Diskurs. Dabei wollte ich nur wissen, warum dieser Satz nun | |
gestrichen wurde. | |
Sie waren also mit Autoritäten konfrontiert, die den Autoritäten den Kampf | |
angesagt hatten? | |
Jeder, der eine andere Sichtweise einnahm und zum Teil immer noch einnimmt, | |
gilt als Dissident oder gar Sektierer. Zudem setzt sich auch am Theater | |
unter zunehmendem ökonomischem Druck das Funktionärswesen durch. Vielleicht | |
sollte man all die Intendanzen einfach mal schließen, am besten zunageln. | |
Die autoritären 68er könnten jetzt sagen: Na, dann nagelt sie doch am | |
besten zu! Erkämpft es euch, haben wir doch auch gemacht. | |
Vielleicht liegt darin das größte Missverständnis des legendären Marschs | |
durch die Institutionen. Diese Plätze und Posten blieben ja unangetastet. | |
Egal wer aber auf den Stühlen sitzt, er findet sich dort in der Rolle des | |
Funktionärs wieder. Das ist tatsächlich tragisch. | |
Haben Sie deshalb bereits nach einem Jahr die Leitung des Berliner Ensemble | |
1996 wieder abgegeben? | |
Ja. Ich war nur mit Dingen beschäftigt, die im Grunde völlig unerheblich | |
sind für das, was Theater eigentlich machen sollte. Nichts von dem, was | |
oben in den Intendanzen besprochen wird, hat irgendeine Relevanz für das | |
Bühnengeschehen. Erschwerend kam hinzu, dass ich als relativ junger Mann | |
mit 35 an einem Theater wie dem BE Intendant wurde. Das war ein Sakrileg. | |
Aus der 68er-Generation gab es absolut keine Solidarität. | |
Obwohl Sie genau die auf der Bühne propagiert haben. Ist das denn | |
dialektisch oder eher paradox? | |
Wenn die Utopien, die übergeordneten Projekte realisiert werden sollen, | |
geraten sie aus dem Blickfeld und es tauchen offenbar die alten | |
Herrschaftsformen und Machtverhältnisse umgehend wieder auf. Heiner Müller | |
hat das nach dem Mauerfall auf eine Formel gebracht: Aus dem | |
kommunistischem "Kein oder alles" wird dann ganz schnell "Für alle reicht | |
es nicht!". Das Problem der Selektion tritt in den Vordergrund. Schluss mit | |
Solidarität. | |
Wieso sind Sie denn mit dieser Erfahrung am Berliner Ensemble geblieben? | |
Abgesehen von dem Problem, Geld verdienen zu müssen, möchte ich da doch | |
eines festhalten: Der Aufbruch damals durch die 68er-Bewegung war doch | |
enorm. Ich kannte das Klima in der Gesellschaft und in den Familien, wie | |
sie es erlebt haben müssen, ja gar nicht mehr. Meine beiden älteren Brüder | |
sind aber noch so aufgewachsen. Sie haben 68 als großen Befreiungsakt | |
erfahren und sich mit meinem Vater auch immer sehr gestritten. Ich dachte | |
da nur: Was wollt ihr denn von dem alten Mann, lasst ihn doch in Ruhe. | |
Worum ging es Ihren Brüdern? | |
Sie träumten einen anderen Traum und haben ja auch versucht mich zu | |
missionieren, mit Musik, mit einer bestimmten Form der Kleidung, mit dem | |
Gedanken, ein kreatives Leben zu führen. Heute dominiert diese Lebensweise, | |
die meisten versuchen sich in kreativen Projekten. Unvorstellbar in der | |
damaligen Gesellschaftsstruktur des Ruhrgebiets. | |
Sie haben selbst drei Söhne, inwiefern wachsen die noch mal anders auf als | |
Ihre Nach-68-Generation? | |
Sehr anders. Einerseits haben sie ein ganz anderes Selbstbewusstsein, als | |
ich es in dem Alter jemals hatte, andererseits erleben sie größere | |
Widersprüche. In den Familien sind Jugendliche wirklich aufgehoben, man | |
redet miteinander und passt aufeinander auf. Dann treten sie aber auf die | |
Straße, in den öffentlichen Raum, der sehr brutal sein kann. Neulich habe | |
ich eine Sendung über jugendliche Dauerstraftäter gesehen, die sich genau | |
in diesem Dilemma befinden. Womit ich aber nun nicht sagen möchte, dass | |
meine Söhne kriminell sind. | |
Aber auf eine Art überbehütet? | |
Ich weiß nicht, vielleicht. Jedenfalls stelle ich mir den Riss zwischen | |
Familienwelt und dem Draußen enorm vor. Jeder ist sein eigener Verräter. | |
Die soziale Kälte ist größer. | |
Was thematisch wieder zu Ihrer Rolle im "Tatort" zurückführt. Gibt es | |
eigentlich einen Grund, warum Sie im Osten ermitteln werden? | |
Nein, das ist Zufall. Ich hätte genauso gerne im Westen ermittelt. Während | |
der jahrelangen Arbeit am Theater habe ich mich finanziell nicht gerade | |
saniert. | |
Glauben Sie, die 68er am Theater hatten irgendwann ein ähnliches | |
unideologisches Erwachen: Ich muss arbeiten, um mich zu ernähren? | |
Ich glaube ja. Jeder kann sich sehr lange vormachen, wie unabhängig er sei. | |
Habe ich ja auch getan. Bis Mitte dreißig war ich in einer unglaublichen | |
Blindheit der Überzeugung, dass ich das alles nur vorübergehend mache. | |
Schauspielschule, Engagements, aber eigentlich will ich Kunst studieren - | |
nur nicht festlegen lassen. | |
Wann kam der Punkt des Festlegens? | |
Na ja, hier im Berliner Ensemble, als ich plötzlich als junger Mann als | |
Intendant rumsaß, da dachte ich: Jetzt kannst du dir das Provisorium von | |
der Backe putzen. | |
INTERVIEW: SUSANNE LANG | |
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18 Mar 2008 | |
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