# taz.de -- Tierrechte in der Kunst: Schakale aus Styropor | |
> Lin May Saeed war Bildhauerin und Tierschützerin. Eine Berliner | |
> Ausstellung stellt ihre Kunst den Tierplastiken von Renée Sintenis | |
> gegenüber. | |
Bild: Überlebensgroß sind die Styropor-Tiere von Lin May Saeed. Installations… | |
Mit einem traurig-spekulativen Titel ist [1][die erste große | |
Einzelausstellung der Künstlerin Lin May Saeed in Deutschland] versehen: | |
„Im Paradies fällt der Schnee langsam“, lautet er. Der Satz öffnet einen | |
weiten, ja existenziellen Assoziationsraum – Lin May Saeed starb nur zwei | |
Wochen vor der Eröffnung an den Folgen eines Gehirntumors. | |
Was die in Würzburg als Tochter eines irakischen Vaters und einer deutschen | |
Mutter geborene Künstlerin uns hinterlassen hat, ist vor allem die Mahnung, | |
die Verhältnisse zwischen Mensch und Tier gerechter zu organisieren. Diesem | |
Bedürfnis folgend schuf Saeed nicht nur eine Vielzahl von Tierplastiken, | |
von denen ein ganzes Rudel das menschliche Publikum im Georg Kolbe Museum | |
empfängt. Sie war auch als Tierschützerin sehr umtriebig. In einer | |
Installation im Untergeschoss des Museums stellt sie nach, [2][wie mittels | |
eines per Betonklotz festgemachten Autos der Geflügelschlachthof Wietze | |
blockiert wurde]. | |
Anhand detaillierter Zeichnungen kann man sehen, wie der Betonklotz durchs | |
Fahrzeug bis auf die Fahrbahn reichte und wie sich zwei Menschen damit fest | |
verbanden. Die Künstlerin und Aktivistin empfahl das durchaus zur | |
Nachahmung. Sie schuf auch große eiserne Tore für Landsitze ringsum Berlin, | |
auf denen Menschen abgebildet sind, die kleine Kälbchen davontragen. | |
„Liberation of Animals from their Cages“ heißt die Serie. | |
Filigrane Figuren von Renée Sintenis | |
Einer schönen Eingebung der seit einem Jahr amtierenden Direktorin des | |
Kolbe Museums Kathleen Reinhardt folgend treten Saeeds Werke in einen | |
Dialog mit denen [3][der Tierbildhauerin Renée Sintenis], deren Œuvre schon | |
länger vom Museum betreut und für die Öffentlichkeit wach gehalten wird. | |
Sintenis schuf bereits 1932 die Vorlage für jenen Bären, der zum | |
Wahrzeichen [4][der Filmfestspiele Berlinale] geworden ist. Ihre | |
Tierfiguren sind vor allem filigran. Sintenis ließ aber auch – wie Saeed – | |
das Alltagsleben in die Kunst einfließen. So nannte sie etwa einen den Kopf | |
zur Klage gen Himmel richtenden Hund, den sie 1946 schuf, „Trümmerhund“. | |
Saeeds Figuren nehmen meist mehr Raum ein. Oft sind es überlebensgroße | |
Hunde und Schakale, die sie aus dem Werkstoff Styropor herausschält. Der | |
Werkstoff ist bewusst gewählt, als subtile Klage gegen die Vermüllung der | |
Natur: Styropor ist nicht biologisch abbaubar, die Kunst aus ihm ist daher | |
toxisch. Gerne bedient sie sich auch der Mythenwelt des Kulturraums | |
Mesopotamiens. So stellt sie etwa der Figur des Enkidu, der im | |
Gilgamesch-Epos selbst als Naturwesen erscheint, noch einen Schakal zur | |
Seite. | |
Ihr Wandbild [5][über die Hammar-Sümpfe im Irak – die unter Saddam Hussein | |
teilweise trockengelegt wurden], um der dortigen Bevölkerung den | |
Widerstandsgeist auszutreiben – stellen eine Hymne auf das Zusammenleben | |
von Mensch und Tier in einem gemeinschaftlich genutzten Raum dar. Die | |
Wasseroberfläche der Sümpfe hat bereits den Wellencharakter eines Meeres. | |
Rinder stecken die Köpfe aus dem Wasser, menschliche Behausungen schweben | |
wie eine Arche Noah auf dem Wellengeflecht. | |
Auch biblische Geschichten animierten die Künstlerin. Sie zeigt den | |
heiligen Hieronymus in genau dem Moment, in dem er einem hinkenden Löwen | |
einen Dorn aus der Pfote zieht. Der bleibt der Legende nach zum Dank bei | |
den Mönchen. Er muss dort Wachdienst schieben, wird später wegen eines | |
vermeintlichen Fehlers sogar bestraft, bis sich zum Ende alles fein | |
auflöst. Aufgrund der wechselvollen Machtbeziehungen zwischen Mensch und | |
Löwe passt die Hieronymus-Legende fast schon zu perfekt ins Werk der | |
bildkünstlerischen Tierschützerin Lin May Saeed. | |
5 Oct 2023 | |
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## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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