Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Bücher über Klassengesellschaft: Eine Frage der Klasse
> Während die Existenz von Klassen gerne bestritten wird, boomt die
> Literatur über Klassismus. Kann man von Klassen sprechen, ohne sie ernst
> zu nehmen?
Bild: Wer heute von Klasse spricht, meint oft nur kulturelles Kapital
Noch immer boomt das Klassismusthema auf dem Buchmarkt. Es war [1][Didier
Eribons] Sozioanalyse „Rückkehr nach Reims“, die 2016 überraschend den Hy…
um den Klassismus auslöste. Die deutsche Ausgabe ist nun in die 21. Auflage
gegangen. Bald erscheint sein neues Buch über seine Mutter auf Deutsch.
Seit Eribon sind die autobiografischen und autoethnografischen Berichte
über Herkunft, Scham und Aufstieg so zahlreich geworden, dass Kritiker
längst von der Rückkehr der sozialen Frage sprechen.
Soziale Frage – das ist ein großer Begriff. Aber ist er auch so groß
gemeint? Solche Einordnungen gehen schnell über die Lippen, doch in den
vielen Herkunft-und-Scham-Erzählungen geht es viel eher um Anerkennung als
ums große Ganze. Und damit eher um individuelle Chancen innerhalb
bestehender Grenzen. Der Klassenaufstieg ist kulturell und vielleicht sogar
habituell gemeistert, und trotzdem hängt man fest in paternalistischen
Strukturen oder prekären Ökonomien.
Und jene, die nicht mal von Anerkennung träumen und erzählen, die kein
kulturelles Kapital besitzen? Was ist mit denen? Ist sie am Ende vielleicht
doch gar nicht so präsent, die soziale Frage?
Nicht in ihrem umfassenden Sinne jedenfalls. Denn die soziale Frage, wie
sie mit der Industrialisierung aufkam, implizierte die Analyse der
Klassenstruktur und zielte auf politische Veränderung. Jenen, die sie in
den Fokus ihrer theoretischen Überlegungen stellten, war klar, dass das
individuelle Leben nicht unabhängig von Klassenprozessen stattfindet.
## „Warum Klasse zählt“
Offenkundig ist, dass während im Feuilleton lapidar von einer
(eingeschrumpften) sozialen Frage und abstrakt von Klassen die Rede ist,
der Großteil der Soziologie den Klassenbegriff als nicht zeitgemäß meidet
und lieber von Schichten und Milieus spricht. Oder von Lebensstilen. Ist
das also eine doppelte Entsorgung der Klasse? Fest steht, unsere
kapitalistisch organisierten Gesellschaften sind freilich noch immer
Klassengesellschaften, wenn auch in anderer Zusammensetzung als im 19.
Jahrhundert, klar.
„Warum Klasse zählt“, kann man sich aktuell in dem gleichnamigen Aufsatz
des Soziologen Erik Olin Wright (1947–2019) aus dem Jahr 2009 erklären
lassen. Er ist mit einem Nachwort von Oliver Nachtwey [2][(„Gekränkte
Freiheit“)] gerade im Suhrkamp Verlag erschienen. Dass Ressourcen, Güter,
Privilegien und Positionen nicht zufällig verteilt, sondern „ein
systematisches Muster“ aufweisen, so Nachtwey, „das ist der Kern dessen,
was man eine Klassengesellschaft nennt“.
Oder: Es gibt eine strukturelle Beziehung zwischen oben und unten. Das ist
die Minimaldefinition von Klassengesellschaft und eine Tatsache, die kaum
zu leugnen ist. Oder glaubt da draußen tatsächlich jemand, dass das Leben
der Einzelnen einzig von individueller Leistung abhängt?
Wright kommt aus der Schule des analytischen Marxismus, aber man muss nicht
[3][Marxi]st:in (dieser Prägung) sein, um seiner Theorie etwas
abzugewinnen. Er verbindet drei unterschiedliche Ansätze der Klassenanalyse
miteinander, um zu einem Modell zu gelangen, das ihm erlaubt, sowohl die
Mikro- als auch die Makroaspekte sozialer Ungleichheit für klassenrelevante
Prozesse zu berücksichtigen. Race und Gender fließen als konstitutive
Aspekte ebenso ein wie Konflikte um Verteilung.
## Keine neue Klasse
Die Mittelklassen (Vorgesetze, kleine Arbeitgeber, Angestellte mit
relativer Autonomie) fasst er nicht als eigene Klasse, sondern als
„widersprüchliche Klassenlagen“ aus sich stets neu zusammensetzenden
Klassenallianzen!
Diese Sichtweise zeigt sehr gut, wie ungenau doch die Figur des Arbeiters
bei Eribon ist, wo die Arbeiter aus der Zeit des Industriekapitalismus als
Phantom in der Gegenwart erscheinen und über die man nicht viel mehr
erfährt, als dass sie früher links wählten und heute rechts. Wrights Ansatz
führt da schon weiter.
Nachtwey weist darauf hin, dass, wo die Mittelklassen Erfahrungen von
Entwertung machen, sie „offen für andere Bündnisse“ sind: „Diese Bündn…
müssen aber nicht zwangsläufig mit Bewegungen der sozialen Gerechtigkeit
stattfinden, sondern können auch im Wohlstandschauvinismus münden.“
Wohl wahr. Man schaue sich bloß die Merz’schen Mittelklassen in der
Asyldebatte an.
4 Oct 2023
## LINKS
[1] /Neues-Buch-von-Didier-Eribon/!5451640
[2] /Studie-zu-Autoritarismus/!5885481
[3] /Karl-Marx-Ausstellung-in-Trier/!5500676
## AUTOREN
Tania Martini
## TAGS
Martini Shot
Theorie
Klasse
Klassengesellschaft
Marxismus
Politische Theorie
Didier Eribon
Prekariat
Mittelschicht
Literatur
Literatur
Schwerpunkt AfD
Gehälter
Schwerpunkt Frankreich
Schwerpunkt Frankreich
Airbnb
## ARTIKEL ZUM THEMA
Debütroman von Inga Machel: Familie mit schwerem Gepäck
Ein Ich-Erzähler umkreist den Suizid des eigenen Vaters – und die Autorin
verleiht dem Intensität: Inga Machels Debütroman „Auf den Gleisen“.
Autorin über Debütroman: „Drei starke, eigensinnige Frauen“
Autorin Elena Fischer erzählt in „Paradise Garden“ vom prekären Leben in
einer Hochhaussiedlung. Ihre Protagonistinnen lassen sich nicht
unterkriegen.
Podiumsgespräch gegen Rechtsruck: Rechte Übergriffe aufs Theater
Was tun gegen das Erstarken der Rechten, das auch Kunst und Kultur
gefährdet? Eine Podiumsdebatte in Berlin hat nach Antworten gesucht.
Einkommen im Kulturbetrieb: Weiterhin prekär
Die Gehälter im Kulturbetrieb sind mit die schlechtesten. Eine neue Studie
des Deutschen Kulturrats weist zudem auf einen Gender-Pay-Gap hin.
Soziologe Didier Eribon in Berlin: Gegen einen linken Populismus
Warum man nicht zwischen Kämpfen wählen, aber von sozialen Klassen sprechen
muss: Eribon sorgte in den vergangenen Tagen für volle Säle in Berlin.
Didier Eribon über französische Zustände: Negative Leidenschaften
Seine essayistische Autobiografie „Rückkehr nach Reims“ liest sich, als
wäre sie eigens anlässlich des Aufwindes der Rechtspopulisten geschrieben.
Symposium zur Share Economy: Vom Kapitalismus des Teilens
Liebe oder Ökonomie – überall geht es ums Tauschen und Teilen. 300
Teilnehmer diskutieren in Weimar über unsere Zukunft im kognitiven
Kapitalismus.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.