Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Armenier fliehen aus Bergkarabach: Von der Heimat bleiben zwei Grä…
> Anja wartet in Bergkarabach auf eine Ausreisemöglichkeit nach Armenien.
> Ihre Tochter wird vermisst, auf dem Friedhof bleiben Ehemann und Sohn
> zurück.
Bild: Beerdigung von Kämpfern der Truppen von Bergkarabach, Stepanakert, 24. S…
„Nehmt mir mein Leben, aber holt mein Kind da raus“, sagt Tante Anja
während des Telefonats. Sie wendet sich dabei an alle und niemanden. In der
Hoffnung, dass jemand sie hört.
Schon seit einigen Tagen lebt die 62-jährige Anja mit ihren Enkeln und
ihrer Schwiegertochter am Flughafen von Stepanakert. Hier versammeln sich
seit dem aserbaidschanischen Überfall auf Bergkarabach – auf die Republik
Arzach, wie das Gebiet von Armeniern genannt wird – einige Tausend
Zivilisten, die gezwungen waren, ihre Häuser zu verlassen, um ihre Leben zu
retten. „In der Nähe von Russen ist es sicher“, sagt sie, mehr, um sich
selber davon zu überzeugen.
In ihrer kleinen Heimatstadt Martuni hat Anja ihre Jugend zurückgelassen,
ihr mit Schweiß und Tränen gebautes Haus, die Gräber ihres im ersten
Bergkarabach-Krieg verstorbenen Ehemannes und ihres Sohnes, der im
44-Tage-Krieg 2020 fiel. „Ich vermisse mein Kind, der Rest ist mir egal“,
sagt sie. Das ist es, was Anja vom Leben bleibt, von ihrer Heimat und den
zwei Kriegen: Zwei Gräber von unschätzbarem Wert.
## Tausende werden noch vermisst
Anjas Tochter Marietta ist im 9. Monat schwanger. Seit dem 19. September,
[1][als Aserbaidschan Bergkarabach angriff], hat sie nichts mehr von
Marietta gehört. Ihre Tochter gehört zu den Tausenden in Bergkarabach, die
als vermisst gelten. Die Einwohnerschaften ganzer Dörfer sind verschwunden.
Entweder wurden sie umgebracht, oder der Kontakt zu ihnen ist abgerissen.
Dutzende Dörfer sind bis jetzt noch eingekesselt: [2][Ohne Nahrung,
Trinkwasser und Strom]. Anja möchte an ein Wunder glauben: „Kindchen, ach
mein Kindchen“, murmelt sie und versucht, das Weinen zu unterdrücken, damit
die Menschen um sie herum es nicht bemerken. Sie schämt sich.
Sie sagt, am Flughafen seien Leute im Alter ihrer Kinder, die versuchen,
Bestatter ausfindig zu machen, die ihre Kinder beerdigen, weil es in den
Leichenhallen keinen Platz mehr gibt. „Eine Frau hat ein großes Grab
bekommen, sie hat dort ihre zwei Kinder gemeinsam bestatten können, die
haben dort beide reingepasst“, sagt Anja und fängt wieder zu weinen an.
„Niemand der Menschen hier weiß, ob sie jemals die Gräber der eigenen
Kinder werden besuchen können.“
Am Flughafen von Stepanakert und an allen anderen Zufluchtsorten der Stadt
wird die Hoffnung der Menschen mit jeder Minute kleiner. [3][Nach der
neunmonatigen Blockade von Bergkarabach] gibt es in der Stadt keine
Lebensmittel mehr, nicht einmal Brot. Trinkwasser ist Luxus. Anja sagt:
Während all dieser Monate haben die Mütter gelernt, keinen Hunger zu haben,
damit ihre Kinder nicht des Hungers sterben.
## Fluchtmöglichkeiten sind beschränkt
„Jetzt habe ich nur eine Bitte: Holt uns hier raus“, sagt Anja. Es sei für
sie unmöglich, noch länger dort zu bleiben, sie könne nicht mit
Aserbaidschanern zusammenleben. Gleichzeitig fragt sie sich aber, wohin sie
nun denn gehen können. Armeniens Premierminister Nikol Paschinjan sagt,
sein Land könne 40.000 Menschen aufnehmen. Aber was soll man mit den
anderen 80.000 machen? Wer garantiert die sichere Evakuierung derjenigen,
die weg möchten? Und – noch wichtiger – wer garantiert denjenigen ein
sicheres Leben, die in der Heimat bleiben wollen?
Aserbaidschan hat schon bekannt gegeben, dass es einer Reihe von Personen
nicht erlauben werde, Bergkarabach zu verlassen: ehemaligen und jetzigen
politischen Führungspersonen, hochrangigen Militärs und all denjenigen,
[4][die 2020 am 44-Tage-Krieg teilgenommen] und ihre Heimat verteidigt
haben.
„Das heißt: alle Männer“, sagt Anja und fängt wieder zu weinen an. Jetzt
müssten alle Frauen um sie herum entscheiden: Sollen sie gehen, um die
Kinder zu retten? Dafür aber den Vater, Bruder, Ehemann und Sohn
zurücklassen? Und wie kann man dann weiterleben?
Plötzlich verstummt sie. Durchs Telefon sind Schreie zu hören. Kurz darauf
fällt ihr das Telefonat, das wir gerade führen, wieder ein. „Ich muss
gehen“, sagt sie. „Sie haben gerade die Leiche eines Kindes gebracht.
Draußen ist etwas explodiert, mein Herz zerspringt vor Angst. Was soll ich
sagen? Holt uns raus aus dieser Hölle. Wir wollen nicht viel, wir wollen
einfach nur nicht sterben.“
Aus dem Russischen [5][Gaby Coldewey]
Finanziert wird das Projekt von der [6][taz Panter Stiftung].
Einen Sammelband mit den Tagebüchern hat der [7][Verlag edition.fotoTAPETA]
im September 2022 herausgebracht.
27 Sep 2023
## LINKS
[1] /Krieg-um-Bergkarabach-ausgebrochen/!5958247
[2] /Humanitaere-Krise-in-Bergkarabach/!5956881
[3] /Konflikte-in-Bergkarabach/!5950507
[4] /Krieg-um-Berg-Karabach/!5715720
[5] /Gaby-Coldewey/!a23976/
[6] /!vn5941022/
[7] https://www.edition-fototapeta.eu/
## AUTOREN
Sona Martirosyan
## TAGS
Kolumne Krieg und Frieden
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Armenien
Schwerpunkt Bergkarabach
Kaukasus
GNS
IG
Schwerpunkt Bergkarabach
Schwerpunkt Flucht
Schwerpunkt Krieg in der Ukraine
Schwerpunkt Flucht
Türkei
Schwerpunkt Flucht
## ARTIKEL ZUM THEMA
Zerstörung armenischer Kultur: Unbequeme Spuren
Klöster, Obsthaine, Friedhöfe: Es gehört zu Aserbaidschans Strategie,
armenische Kulturgüter auszulöschen. Auch in Bergkarabach wird das
geschehen.
Bergkarabach wird aufgelöst: Das Ende der „Republik Arzach“
Zum Neujahr wollen die Behörden Bergkarabachs ihre Regierung auflösen.
Viele Armenier in dem Gebiet sind bereits geflohen.
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++: Nato-Beitritt nur Frage der Zeit?
Selenskyj zufolge sei der Nato-Beitritt der Ukraine „eine Frage der Zeit“.
Deutschland sagte ihm seit Kriegsbeginn Waffen im Wert von Milliarden Euro
zu.
Nach dem Krieg um Bergkarabach: Aus der Mitte der Gesellschaft
In Armenien erhalten die Fliehenden aus Bergkarabach Hilfe. NGOs sammeln
Kleidung, Aktivist:innen suchen nach Wohnraum.
Nach der Kapitulation von Bergkarabach: Schwere Explosion und mehrere Tote
Bei einer Explosion in Bergkarabachs Hauptstadt werden 200 Menschen
verletzt, viele getötet. Die Ursache ist unklar. Zehntausende verlassen das
Land.
Krieg in Bergkarabach: Die Menschen fürchten um ihr Leben
Die humanitäre Lage in Bergkarabach ist katastrophal. Doch die Details
bleiben unklar. Denn Aserbaidschan lässt keine unabhängigen Beobachter
einreisen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.