| # taz.de -- Krieg in Bergkarabach: Die Menschen fürchten um ihr Leben | |
| > Die humanitäre Lage in Bergkarabach ist katastrophal. Doch die Details | |
| > bleiben unklar. Denn Aserbaidschan lässt keine unabhängigen Beobachter | |
| > einreisen. | |
| Bild: Warten, das Gepäck schon dabei: Menschen in Stepanakert am 21.09 | |
| Wien taz | Fünf Tage nach dem aserbaidschanischen Angriff gegen | |
| Bergkarabach bleibt die Situation in dem von Armeniern besiedelten Gebiet | |
| unübersichtlich. Bodentruppen Aserbaidschans kontrollieren mittlerweile die | |
| Hauptstadt Stepanakert und andere Teile der Region. Von mehr als 200 Toten | |
| und mehr als 400 Verletzten berichten die lokalen Behörden. Hunderte | |
| Menschen werden vermisst. | |
| Die Streitkräfte Bergkarabachs, ohnehin personell wie materiell schwach | |
| ausgestattet, hatten bereits am Mittwoch kapituliert. Auch die russischen | |
| Friedenstruppen spielen offenbar keine relevante Rolle mehr. | |
| Immer wieder kommt es zu Strom- und Internetausfällen, die die überaus | |
| schwierige humanitäre Lage [1][der seit neun Monaten isolierten Region | |
| weiter verschärfen]. Berichten zufolge ist das Zentrum Stepanakerts voller | |
| Geflüchteter und Vertriebener aus den umliegenden Gebieten sowie der Stadt | |
| selbst, die vielfach auf der Straße schlafen. | |
| Auch in Kirchen und Schulen übernachten Menschen, viele in Bunkern und | |
| Kellern. Zuvor hatten sich Tausende Armenier auf dem russisch | |
| kontrollierten Flughafen Stepanakert versammelt und auf Evakuierungsflüge | |
| gehofft, solche gab es bisher nicht. | |
| ## Sorge vor ethnischer Säuberung wächst | |
| „Aserbaidschan blockiert das Internet und Strom, wir wissen nicht was vor | |
| Ort passiert, ob es Säuberungsoperationen gibt oder andere Aktivitäten. Auf | |
| jeden Fall ist der Kontakt abgebrochen und die Menschen fürchten um ihr | |
| Leben“, sagt [2][Stefan Meister, Politikwissenschaftler an der Deutschen | |
| Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP)]. | |
| Der Latschin-Korridor, Bergkarabachs Lebensader und einzige Verbindung nach | |
| Armenien und dadurch auch zum Rest der Welt, wird Berichten zufolge | |
| weiterhin von aserbaidschanischen Soldaten blockiert. Die rund 100.000 | |
| Bergkarabach-Armenier hatten bisher kaum Chancen zu fliehen, da humanitäre | |
| Korridore bislang fehlten. Am Sonntagnachmittag erreichte nun eine erste, | |
| kleine Gruppe Geflüchteter aus Bergkarabach Armenien über den Landweg. | |
| Am Samstag sind immerhin größere Hilfstransporte von Weizenmehl, Salz, Hefe | |
| und Öl in Bergkarabach angelangt, wie das Internationale Komitee des Roten | |
| Kreuzes (ICRC) berichtet. Schon zuvor habe das Rote Kreuz Diesel und | |
| Benzin, Decken und medizinische Artikel gebracht. | |
| 23 Personen, die in den Kämpfen verletzt wurden, habe das ICRC evakuiert. | |
| Auch mehrere Leichname getöteter Menschen habe das Rote Kreuz auf Wunsch | |
| von Familienangehörigen geborgen. Mittlerweile hat das ICRC auch mit der | |
| Registrierung vermisster bzw. gesuchter Personen begonnen. Ein Video von | |
| Samstagabend zeigt außerdem ein provisorisches Massenbegräbnis in | |
| Stepanakert. | |
| ## Aserbaidschan bricht weiter den Waffenstillstand | |
| Der Beschuss durch aserbaidschanische Artillerie geht vereinzelt weiter. | |
| Samstagmorgen hat sie einen Stützpunkt der russischen Friedenstruppen bei | |
| Stepanakert getroffen. Ein Video zeigt eine Rauchwolke über der Basis, in | |
| der offenbar russische Munition gelagert wurde. Der Angriff war offenbar | |
| auch in einem Telefongespräch zwischen Wladimir Putin und Aserbaidschans | |
| Präsident Ilham Alijew Thema. Alijew habe sich dafür entschuldigt. | |
| Schon am Dienstag, am Anfang der Kampfhandlungen, hat die | |
| aserbaidschanische Armee vier oder fünf russische Friedenstruppen getötet, | |
| die in einem Auto unterwegs waren. Unter den Opfern war auch ein | |
| hochrangiger Marineoffizier. | |
| Unterdessen besteht weiterhin große Sorge vor gewaltsamer Vertreibung bis | |
| hin zu Massenmorden an der Lokalbevölkerung. Die Führung Aserbaidschans | |
| macht kaum einen Hehl aus ihren revanchistischen Motiven, bezeichnete | |
| Armenier als „Parasiten“ und „Ungeziefer“. Das ist auch der Tenor in den | |
| Massenmedien des Landes sowie in den Sozialen Netzwerken. Schon im Krieg | |
| 2020 kam es zu großen Menschenrechtsverletzungen, | |
| [3][Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty berichteten von Folter]. | |
| Südkaukasus-Experte Meister sieht das mit großer Sorge: „Kein Armenier ist | |
| sicher auf dem Territorium Aserbaidschans, es gibt Rachegefühle und | |
| systematische Racheakte vor allem an der männlichen Bevölkerung können | |
| nicht ausgeschlossen werden.“ Anfang der der 1990er Jahre war es Armenien | |
| gewesen, das den Ersten Bergkarabach-Krieg haushoch gewonnen hatte und die | |
| aserbaidschanische Bevölkerung teils mit großer Brutalität vertrieb. | |
| ## Auch Kulturdenkmäler wie Kirchen in großer Gefahr | |
| Aserbaidschan dürfte Meister zufolge einen Deal mit Russland haben, welches | |
| die Sicherheit für die Zivilbevölkerung offenbar nicht länger garantieren | |
| wolle. „Ich gehe davon aus, dass es zu Massenflucht und Massenvertreibung | |
| kommt. Alle Kulturdenkmäler, Kirchen und Klöster werden wohl abgetragen, so | |
| wie wir das aus der aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan kennen.“ | |
| Der Ombudsmann der international nicht anerkannten Republik Arzach – so | |
| bezeichnet sich Bergkarabach, das sich 1991 von Aserbaidschan loskämpfte | |
| und seitdem autonom verwaltet wird, selbst – spricht von expliziten Folter- | |
| und Mordaufrufen in aserbaidschanischen Telegram-Kanälen. Offenbar | |
| kursieren Listen mit den Namen von Männern, die in den letzten | |
| Karabachkriegen (1991 bis 1994, 2020) aufseiten Bergkarabachs kämpften. Es | |
| waren Tausende. | |
| Generell mangelt es an Informationen, es gibt keine unabhängigen oder | |
| internationalen Journalisten vor Ort und immer wieder Internetausfälle. | |
| Eine Frau aus Bergkarabach gab an, aserbaidschanische Truppen hätten bei | |
| ihrem Einmarsch in Stepanakert ihre Kinder vor ihren Augen enthauptet. | |
| Andere berichten von völlig zerfetzten Körpern, die in den heillos | |
| überlasteten Krankenhäusern ankämen. Viele dieser Berichte lassen sich | |
| derzeit nicht unabhängig überprüfen. Das Gesamtbild ist aber katastrophal. | |
| ## Vorstoß auf armenisches Staatsgebiet befürchtet | |
| Wie konnte es dazu kommen? Meister sieht Fehler vor allem in der | |
| Vergangenheit, bei einem fehlenden Friedensvertrag noch vor dem zweiten | |
| Krieg 2020. „[4][Armenien hätte von seinen maximalistischen Forderungen], | |
| alles zu behalten und sich auf russische Schutzmacht zu verlassen, abrücken | |
| müssen, um nicht in dieser Sackgasse zu landen. Premier Paschinjan war | |
| davon bereits abgerückt, aber große Teile der Elite und Teile der | |
| Gesellschaft wollten die Realität nicht sehen.“ | |
| Der Westen sieht alldem weitestgehend passiv zu. Was zu tun wäre, scheint | |
| auf der Hand zu liegen: Es müsse etwa uneingeschränkten Zugang für | |
| Hilfsorganisationen sowie einen humanitären Fluchtkorridor geben, schreibt | |
| das Regional Center for Democracy and Security, ein Think-Tank in der | |
| armenischen Hauptstadt Jerewan. Medienvertretern müsse der Zugang gewährt | |
| werden, die aserbaidschanische Armee sich aus zivil bevölkerten Gebieten | |
| zurückziehen, heißt es unter anderem weiter. | |
| Experte Stefan Meister befürchtet weitere Vorstöße Aserbaidschans, über | |
| Bergkarabach hinaus, auf armenischem Gebiet. „Aserbaidschan will den | |
| Korridor zur Exklave Nakhichevan und weiter Richtung Türkei unter Kontrolle | |
| bekommen. Russland hat kein Problem damit, Baku fühlt sich stark und ist | |
| militärisch überlegen. [5][Wenn der Westen nicht klar abschreckt, dann ist | |
| das nicht auszuschließen].“ | |
| Davon ist bis dato nichts in Sicht. EU und USA müssen sich eingestehen, | |
| dass ihre monatelangen Vermittlungsversuche erfolglos waren. Es wurde | |
| versäumt, Verhandlungsdruck gegenüber beiden Konfliktparteien aufzubauen, | |
| sagt Meister. Am Donnerstag konnten sich die EU-27 wegen einer Blockade | |
| Ungarns nicht einmal auf eine gemeinsame Verurteilung Aserbaidschans | |
| einigen. | |
| ## Sanktionen des Westen bleiben weiterhin aus | |
| Infolge der aktuellen Eskalation hat die EU 500.000 Euro an humanitärer | |
| Unterstützung für Bergkarabach angekündigt. Dies ist aber nur ein kleiner | |
| Bruchteil jenes Gelds, das die EU für Gas aus Aserbaidschan ausgibt. Im | |
| Juli 2022 gab die EU-Kommission bekannt, die milliardenschweren Importe bis | |
| 2027 mehr als zu verdoppeln. | |
| Eben diesen Hebel will die EU aber nicht benutzen, [6][Sanktionen des | |
| Westens] bleiben weiterhin aus. Die Menschen in Bergkarabach ahnen, dass | |
| ihnen niemand zu Hilfe kommen wird, sollte es zum äußersten kommen. Weil | |
| niemand – keine Diplomaten, Journalisten, Vertreter von | |
| Nichtregierungsorganisationen – einreisen darf, bliebe es sogar weitgehend | |
| unbeobachtet. | |
| Alijew kümmert sich derweil um Anderes: Auf dessen Einladung soll der | |
| türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am Montag Nakhichevan besuchen.Es | |
| mehren sich Befürchtungen, dass es bei dem Treffen um die Schaffung des | |
| Korridors durch Südarmenien gehen soll. | |
| Mitarbeit: Lisa Schneider | |
| Hinweis: Nachdem eine erste Gruppe Geflüchteter Armenien am | |
| Sonntagnachmittag auf dem Landweg erreichte, haben wir das im Text | |
| aktualisiert. Zum Treffen in Nakhichevan haben wir Kontext hinzugefügt und | |
| einen Fehler korrigiert. | |
| 24 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Deutschland-traegt-Mitschuld/!5952965 | |
| [2] https://dgap.org/de/user/276/stefan-meister | |
| [3] https://www.theguardian.com/world/2020/dec/10/human-rights-groups-detail-wa… | |
| [4] /Krieg-um-Bergkarabach/!5959220 | |
| [5] /Experte-ueber-Krieg-um-Bergkarabach/!5958523 | |
| [6] /Konflikt-um-Bergkarabach/!5958354 | |
| ## AUTOREN | |
| Florian Bayer | |
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