| # taz.de -- Krieg um Bergkarabach: Beide Seiten mit Maximalforderungen | |
| > Die Vertreibung aus Bergkarabach wäre für die armenische Bevölkerung | |
| > bitter. Die Verantwortung für ihr Schicksal tragen auch armenische | |
| > Regierungen. | |
| Bild: An der Straße nach Karabach stellen die Männer eine armenische Flagge a… | |
| Was derzeit in Bergkarabach passiert, ist eine Tragödie von historischem | |
| Ausmaß. Eine Region, die seit Jahrhunderten von Armeniern bewohnt wird, die | |
| oft zum mythischen Ursprungsland des armenischen Volks verklärt wurde, | |
| dürfte in wenigen Monaten von der armenischen Bevölkerung „gesäubert“ | |
| worden sein. Nach dem [1][Völkermord 1915], dem der größte Teil der | |
| Armenier im Osmanischen Reich zum Opfer fiel, ist das eine neuerliche große | |
| Katastrophe, gut 100 Jahre nach der „Großen Katastrophe“ in Anatolien. | |
| Doch zur Wahrheit gehört: Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Durch klügere | |
| Politik diverser armenischer Regierungen in den letzten 30 Jahren hätte die | |
| jetzige Tragödie wahrscheinlich verhindert werden können. Politik im | |
| Kaukasus, das gilt für Aserbaidschaner wie für Armenier, ist eine Politik | |
| der Maximalforderungen. Der Nachbar ist ein Todfeind, Kompromisse mit ihm | |
| sind undenkbar. | |
| Das wusste schon der Georgier Iosseb Dschughaschwili, besser bekannt | |
| unter seinem Kampfnamen Josef Stalin. Noch als Sowjetkommissar für | |
| Nationalitätenpolitik ließ er bei der Festlegung der Sowjetrepubliken einen | |
| Flickenteppich autonomer Regionen anlegen, die dafür sorgten, dass sich die | |
| Republiken spinnefeind waren. Deshalb wurde das überwiegend armenisch | |
| besiedelte Bergkarabach eine autonome Region innerhalb der neu entstandenen | |
| Sowjetrepublik Aserbaidschan und nicht Teil der Sowjetrepublik Armenien. | |
| Für die Armenier war es ein Albtraum. Unter aserischer Verwaltung wurden | |
| sie in Karabach drangsaliert und diskriminiert. Diese offene Wunde | |
| Bergkarabach brach schließlich schon in den letzten Jahren der Sowjetunion | |
| auf und entzündete sich vollends mit der Auflösung des sowjetischen Reichs. | |
| Bergkarabach erklärte sich für unabhängig, Armenier aus der Diaspora | |
| unterstützten diesen Schritt euphorisch. Sie spendeten Geld, freiwillige | |
| Kämpfer kamen nach Karabach, die Zukunft erschien rosig. | |
| ## Kein Partner für Friedensverhandlungen | |
| Weitsichtige Politiker wie der erste armenische Präsident Lewon | |
| Ter-Petrosjan, die zuvor auf eine Verständigung mit der Türkei und über | |
| diesen Hebel auch mit Aserbaidschan gesetzt hatten, wurden dann | |
| niedergemacht. Stattdessen übernahmen Hardliner aus Bergkarabach auch die | |
| politische Führung in Jerewan. Der militärische Erfolg schien ihnen recht | |
| zu geben. Die armenischen Kämpfer vertrieben nicht nur alle Aserbaidschaner | |
| aus Bergkarabach, sondern besetzten auch die umliegenden Provinzen, | |
| vertrieben auch dort Tausende Aserbaidschaner und erklärten die Gebiete zum | |
| Sicherheitsgürtel. | |
| Eine Friedensinitiative des damaligen türkischen Außenministers Ahmet | |
| Davutoğlu wurde 2009 zurückgewiesen. Die Türkei solle [2][erst einmal den | |
| Völkermord anerkennen], befand eine Mehrheit im armenischen Parlament. | |
| Dabei übersahen die armenischen Maximalisten, dass diese Anerkennung am | |
| Ende eines Friedensprozesses vielleicht erfolgt wäre, als Eingangsbedingung | |
| aber kaum zielführend war. Mit den Aserbaidschanern reden wollte man erst | |
| recht nicht. | |
| Für armenische Nationalisten sind Aserbaidschaner minderwertige Türken, | |
| deren einziges Ziel es ist, den Völkermord an den Armeniern zu vollenden. | |
| Nun ist die Familiendiktatur der Alijew in Baku sicher kein angenehmer | |
| Partner, Klone der Türken sind sie aber nicht. Der jetzt regierende Sohn | |
| Ilham Alijew nutzte das Thema Bergkarabach, um sein Image aufzupolieren, | |
| denn der immer wieder propagierte Kampf zur Rückgewinnung der Gebiete ist | |
| eines der wenigen Themen, bei dem er von einer Mehrheit der Bevölkerung | |
| unterstützt wird. | |
| ## Alijew nutzte die Gunst der Stunde | |
| Weil Armenien Kompromisse ablehnte, musste die Führung [3][immer stärker | |
| auf Russland setzen], wohl wissend, dass Aserbaidschan für den Kreml im | |
| Ernstfall nur Verhandlungsobjekt sein würde. Das hat sich nun fürchterlich | |
| gerächt. Während Armenien in der Region weitgehend isoliert ist und dabei | |
| immer ärmer wurde, wurde Aserbaidschan aufgrund seiner sprudelnden Öl- und | |
| Gasquellen immer reicher. | |
| Das nutzte zwar der aserbaidschanischen Bevölkerung nichts, doch Alijew | |
| hatte ausreichend Geld, um seine Armee zu modernisieren. Und er hatte die | |
| Geduld, auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Im Krieg 2010 holte er sich | |
| mit türkischer Unterstützung die von den Armeniern besetzten Provinzen plus | |
| einen Teil von Bergkarabach zurück. | |
| Jetzt, wo [4][Wladimir Putin so dringend auf Nachschub] aus Aserbaidschan | |
| und ein gutes Verhältnis zum türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan | |
| angewiesen ist, ließ Alijew Bergkarabach komplett erobern. Vorläufig hat | |
| der Maximalpolitiker Alijew gesiegt, die Maximalisten auf armenischer Seite | |
| haben verloren. Kluge Politik ist im Kaukasus immer noch nicht in Sicht. | |
| 23 Sep 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Jürgen Gottschlich | |
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