# taz.de -- Armenien und der Konflikt um Bergkarabach: Keine Feiern am Unabhän… | |
> Nach der Eroberung Bergkarabachs herrscht gedrückte Stimmung in Armenien. | |
> Einige suchen nach Schuldigen, anderen sorgen sich um Angehörige. | |
Bild: Polizeigewalt statt Feiern am Unabhängigkeitstag in Jerewan | |
JEREWAN taz | Der Unabhängigkeitstag am 21. September, dem Tag, an dem das | |
Land 1991 seine Loslösung von der Sowjetunion erklärt hatte, wird in | |
Armenien normalerweise groß gefeiert. Allerdings nicht in diesem Jahr. | |
Nach der Kapitulation von Bergkarabach ist das Land in Trauer. Die | |
geplanten festlichen Veranstaltungen wurden abgesagt. Theater und Kinos | |
sind geschlossen. Und während Politikwissenschaftler über die | |
Wiederangliederung Bergkarabachs an Aserbaidschan diskutieren, bringen | |
Demonstranten ihre Trauer über den Verlust von Bergkarabach (armenisch | |
„Arzach“) durch Proteste zum Ausdruck. | |
Es gibt eine neue Realität. Bergkarabach, das die letzten dreißig Jahre | |
eine international nicht anerkannte Republik unter armenischer Führung war, | |
soll jetzt Aserbaidschan angeschlossen werden. Ein schmerzhafter Prozess | |
für die armenische Bevölkerung, denn [1][in dem seit Jahrzehnten | |
bestehenden Konflikt zwischen Armenien und Aserbaidschan] wurde bereits | |
viel Blut vergossen. Der größte Teil der Bevölkerung Armeniens trauert | |
schweigend, resigniert. | |
Gleichzeitig haben sich genug Menschen in der Innenstadt versammelt, um den | |
gesamten Autoverkehr in Jerewan Innenstadt lahmzulegen. Ständig kommt es zu | |
Streitereien zwischen Autofahrern und Demonstranten, bei denen die Polizei | |
eingreifen muss. Doch das ist nicht der einzige Grund für Streit auf den | |
Straßen. Die Demonstrierenden sind sich uneinig: Wem soll man nun die | |
Schuld an der Situation geben? | |
## Unterschiedliche Schuldzuweisungen | |
Vorm Regierungsgebäude protestieren die Menschen schon seit mehreren Tagen. | |
Sie sagen, der Premierminister Nikol Paschinjan habe die Region | |
Bergkarabach aufgegeben und verraten. Jetzt soll er zurücktreten. Schreie | |
wie „Armenien ohne Nikol“, „Nikol ist ein Verräter“ sind dort zu höre… | |
Immer wieder versuchen die Menschen, das Gebäude zu stürmen. Es kam zu | |
Gewalt gegen die Polizei, die diese mit Blendgranaten beendete. Nach Angabe | |
des Gesundheitsministeriums gab es Verletzte auf beiden Seiten. | |
[2][Andere Demonstrierende geben Putin die Schuld]. „Nikol ist doch auch | |
nur eine Marionette Russlands“, sagt eine Demonstrantin. „Russland hat | |
mehrfach bewiesen, dass ihnen unsere Bündnisvereinbarungen nichts | |
bedeuten.“ | |
## Angst um die Sicherheit von Angehörigen | |
Einer der Demonstranten ist Arthur, der selbst aus Bergkarabach stammt. | |
Seine Familie ist noch dort und [3][kann momentan das Gebiet nicht | |
verlassen]. Der 21-Jährige ist mit seiner Schwester zusammen vor einem Jahr | |
nach Jerewan gezogen, um hier ein Ingenieursstudium zu beginnen. | |
Jetzt demonstriert er dafür, dass die Menschen aus der Region Bergkarabach | |
schneller evakuiert werden, da er um das Leben seiner Familie fürchtet. | |
„Wenn die Regierung Armeniens nicht in der Lage ist, [4][die Sicherheit | |
meiner Eltern und meiner Familie in Bergkarabach zu gewährleisten], obwohl | |
sie die gleichen Pässe haben wie alle anderen armenischen Bürger auch, dann | |
muss diese Regierung weg.“ | |
Alla ist Lehrerin in Jerewan. [5][Auch sie hat Familie in Bergkarabach]. | |
Sie fürchtet, dass es zu einer Revolution in Armenien kommt. „Ich vertraue | |
niemandem mehr. Ich verstehe, dass viele Menschen die Regierung stürzen | |
wollen, weil sie einen Schuldigen brauchen. Aber in Jerewan haben jetzt | |
auch viele Angst vor einer Revolution. Ich glaube eine Revolution würde | |
nicht helfen, aber nichts machen kann man ja auch nicht.“ | |
## Paschinjan ruft zur Ruhe auf | |
Premier Nikol Paschinjan wendete sich an diesem Freitag mit beruhigenden | |
Worten an die Bevölkerung: „Wir haben bereits alles für den Fall | |
vorbereitet, dass wir die Menschen schnell evakuieren müssen. Bereits jetzt | |
könnten wir sofort 40.000 Menschen aufnehmen. Weitere Aufnahmemöglichkeiten | |
bereiten wir gerade vor.“ | |
Er machte deutlich, dass es keinen Grund zur Panik gebe, und die Regierung | |
die Situation sehr genau beobachte. Aktuell gebe es keine Anzeichen dafür, | |
dass die armenische Bevölkerung in Bergkarabach sich in Lebensgefahr | |
befinde. Doch die Lage sei dynamisch und können sich jede Minute ändern, so | |
Paschinjan. | |
## Derzeit keine Evakuierungen geplant | |
„Wir planen nicht, die armenische Bevölkerung aus Bergkarabach | |
herauszuholen. Wir müssen jetzt vielmehr alles dafür tun, dass unsere | |
Bevölkerung dort sicher und ruhig in ihren Häusern weiterleben kann. | |
Gleichzeitig wird aber gegen Armenien gerade ein hybrider Krieg geführt. | |
Wir müssen jede Information gut prüfen und dürfen uns nicht von Emotionen | |
leiten lassen.“ Das gelte besonders für Journalisten, so Paschinjan. | |
Zwar gibt es große Demonstrationsbewegungen gegen die jetzige Regierung in | |
der Stadt, dennoch unterstützt die Mehrheit der armenischen Bevölkerung | |
Paschinjan. Die Menschen sind kriegsmüde und bringen Verständnis dafür auf, | |
dass der Frieden zwischen Armenien und Aserbaidschan auch durch andere | |
Länder behindert wird. | |
Aber die Hoffnung bleibt, dass nächstes Jahr am Unabhängigkeitsfeiertag | |
wirklich die Unabhängigkeit gefeiert werden kann. | |
Hinweis: In der ersten Version stand einmal „Taiwan“ statt „Jerewan“ �… | |
ist natürlich falsch. Wir haben das korrigiert. | |
22 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Margareta Kosmol | |
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