# taz.de -- Experte über Krieg um Bergkarabach: „Man traut sich nicht ran“ | |
> Marcel Röthig von der Friedrich-Ebert-Stiftung sagt: Europa müsste | |
> entschiedener auf die Einnahme Bergkarabachs durch Aserbaidschan | |
> reagieren. Er rechnet mit Unruhen. | |
Bild: Der aserbaidschanische Präsident Ilham Aliyev in einer Fernsehansprache … | |
taz: Herr Röthig, die Streitkräfte Bergkarabachs haben kapituliert. Wie | |
werden die nächsten Tage in dem Gebiet aussehen? | |
Marcel Röthig: Das war erwartbar, auch weil es keine Rückendeckung aus | |
Armenien gab. Durch die Kapitulation ist eine Vertreibung beziehungsweise | |
Evakuierung der Zivilbevölkerung über einen humanitären Korridor | |
wahrscheinlich, ein Genozid aber weniger. Das Gebiet wird nun unter | |
aserbaidschanische Kontrolle geraten. Man spricht meist von 120.000 | |
ethnischen Armeniern, die in Bergkarabach leben – ich glaube eher, dass es | |
60 bis 70.000 sind. Sicherlich werden einige zurückbleiben und im | |
Untergrund kämpfen. Einige wenige könnten auch die aserbaidschanische | |
Staatsbürgerschaft annehmen. Sie würden aber keine besonderen | |
Minderheitenrechte bekommen, sich assimilieren und irgendwann kulturell | |
verschwinden. | |
In Bergkarabach sind [1][russische Friedenstruppen] stationiert. Warum | |
haben sie nicht eingegriffen? | |
Sie können kein militärisches Commitment eingehen – und sie wollen es auch | |
nicht. Ich gehe fest davon aus, dass es eine Absprache gab zwischen Ilham | |
Alijev (Machthaber Aserbaidschans, Anm. d. Red.) und Putin, dass das | |
Bergkarabach-Problem jetzt ein für alle Mal mit aserbaidschanischer | |
Maximalposition gelöst wird. | |
Wofür genau waren die russischen Friedenstruppen zuständig? | |
Es gibt zum einen die russische Truppenpräsenz in Armenien selbst, bis zu | |
10.000 Mann, die zum Schutz Armeniens da sind. Und zum anderen gibt es etwa | |
2.000 Mann, die das Mandat hatten, den freien Verkehr des | |
Latschin-Korridors sicherzustellen. Sie haben aber bei der [2][Blockade] | |
tatenlos zugesehen. | |
Welche politischen Gründe gibt es für Russlands Zurückhaltung? | |
Man hat einen Prioritätenwechsel vorgenommen, in Richtung eines Regimes, | |
das Russland nähersteht, vielleicht auch als Zeichen der Verständigung | |
gegenüber der Türkei. | |
Gibt es für Russland in Armenien nichts mehr zu holen? | |
Was Armenien hatte, hat es längst nach Russland verscheuert: Die | |
strategischen Industriezweige, das Bergbauwesen, die Energieversorgung, den | |
Energietransit, selbst die Pipelines aus dem Iran gehören Gazprom. Dazu kam | |
noch eine – aus russischer Perspektive – [3][undankbare armenische | |
Regierung], die sich aufmacht, ihre Außenpolitik zu diversifizieren. | |
Russland straft das ab. | |
Aserbaidschan ist mit der Türkei eng verbündet, bekommt Waffen aus Israel | |
und liefert Rohstoffe nach Europa. Welche Freunde hat Armenien noch? | |
Niemand mit „Boots on the ground“ jenseits von Russland. Europa muss sich | |
fragen: Möchten wir mehr tun? Können wir die Beobachtermission ausbauen? | |
Sind wir in der Lage, Signale zu senden, wie eine Visaliberalisierung für | |
Armenier? Können wir Armenien eine europäische Perspektive bieten? Aber man | |
traut sich hier nicht ran an dieses Thema. | |
Die EU hat eine Beobachtermission nach Armenien entsandt. Was haben sie | |
seit Beginn des Übergriffs auf Bergkarabach getan? | |
Sie haben ihre Patrouillen intensiviert, den Truppenaufmarsch | |
Aserbaidschans bestätigt, sowie den Beschuss. Sie sind aber nicht im | |
Latschin-Korridor und in Bergkarabach vertreten, das ist nicht Teil ihres | |
Mandats. Sie können nur berichten, was auf der armenischen Seite passiert. | |
Wie fallen die Reaktionen in Armenien auf die Kapitulation Bergkarabachs | |
aus? | |
Wir werden politische Unruhen erleben. Es könnte sein, dass die alte Elite | |
in Jerewan das Ruder wieder übernimmt, die Moskau eher gesonnen ist. Aus | |
russischer Sicht würde man so etwas gewinnen. | |
Manche Armenier sorgen sich, dass ihr Land als nächstes dran glauben muss. | |
Aserbaidschan fordert schon lange einen Korridor durch Südarmenien, der das | |
Land mit seiner autonomen Exklave Nakitschewan verbindet. | |
Die Türkei hat kein Interesse an einer Eskalation, an einem Krieg, | |
möglicherweise noch unter ihrer Beteiligung. Vor einem Jahr gab es schon | |
einmal Kampfhandlungen, als Aserbaidschan Teile des armenischen | |
Staatsgebiets einnahm, mit dutzenden Toten. Das war auch in Aserbaidschan | |
ein Furor: Warum ein so hoher Blutzoll für so wenig Land? Und ich glaube | |
daran, dass die [4][Europäer] es jetzt schaffen, mit einer eindeutigen | |
Sprache zu sprechen. Man kann Aserbaidschan empfindlich treffen, wenn man | |
es will. Wenn der Westen jetzt nicht entschieden reagiert, ist nicht | |
auszuschließen, dass der Konflikt in Zukunft wieder aufflammt. | |
22 Sep 2023 | |
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## AUTOREN | |
Lisa Schneider | |
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