| # taz.de -- Nach dem Krieg um Bergkarabach: Ist Paschinjan oder Putin Schuld? | |
| > In Armenien ist die Bevölkerung gespaltener Ansicht: Hat der armenische | |
| > Premier Paschinjan das unabhängige Gebiet verraten? Und welche Rolle | |
| > spielte Moskau? | |
| Bild: Protest gegen den armenischen Premierminister Nikol Paschinjan am Diensta… | |
| Jerewan taz | Mittwoch, 12.30 Uhr: Wenn man sich nicht gerade auf dem Platz | |
| der Republik oder vor der russischen Botschaft aufhält, könnte man meinen, | |
| das Leben in der armenischen Hauptstadt Jerewan sei so ruhig und gelassen | |
| wie immer. Die Cafés und Weinbars sind bereits zur Mittagszeit voll, | |
| überall in der Stadt hängen Plakate mit Ankündigungen für | |
| Kulturveranstaltungen: Konzerte, Festivals und Filmvorführungen. | |
| Aber kommt man mit jemandem auf der Straße ins Gespräch oder setzt sich an | |
| einen Tisch im Café dazu, merkt man: Die Anspannung im Land ist enorm, die | |
| Bevölkerung geeint in ihrer Angst – um ihre Zukunft und die Zukunft der | |
| armenischen Bevölkerung in Bergkarabach. | |
| Am Dienstag [1][hat Aserbaidschan das armenisch besiedelte, völkerrechtlich | |
| zu dem muslimisch geprägten Land gehörende Gebiet] angegriffen. Etwa 24 | |
| Stunden später erfolgte die Kapitulation Bergkarabachs. Die Streitkräfte | |
| des Gebiets – das sich 1991 unter dem Namen Arzach für unabhängig erklärt | |
| hatte – mussten ihre Waffen abgeben, die Integration in aserbaidschanische | |
| Hoheit soll nun verhandelt werden. | |
| Für die Menschen in Armenien und Bergkarabach bedeutet das den Verlust von | |
| Land, architektonischen Denkmälern und historischer Kultur. Und es bedeutet | |
| großen Schmerz, denn in diesem Konflikt wurde bereits viel Blut vergossen. | |
| Im Jahr 2020, dem letzten großen Krieg in der Region, starben Tausende. | |
| ## Mit Flaschen gegen Premierminister Paschinjan | |
| Die meisten Menschen in Jerewan scheuen sich nicht, ihre Gedanken zu | |
| teilen. Doch namentlich genannt werden will keiner. „Wozu brauchst du denn | |
| meinen Namen?“, fragt ein älterer Herr, „Ob ich das jetzt sage, oder jemand | |
| anderer, ist doch egal. Hoffnungslos sind wir alle. Und gleichzeitig wirst | |
| du mehr Meinungen als Menschen in diesem Land finden.“ | |
| Er hat nicht unrecht: Die Bevölkerung scheint gespalten in ihren Ansichten, | |
| was die Kapitulation für das Land Armenien bedeutet. Nach dem Angriff auf | |
| Bergkarabach bildeten sich in Jerewan gleich verschiedene | |
| Demonstrationsbewegungen. | |
| Auf dem Platz der Republik, dem Hauptplatz der Stadt, versammelten sich | |
| schon am Dienstagabend mehrere Hundert Demonstrierende. Sie forderten den | |
| Rücktritt des Premierministers Nikol Paschinjan. Die Demonstranten | |
| beschuldigen ihn des Verrats am armenischen Volk, warfen Flaschen auf die | |
| Ordnungskräfte und schrien „Nikol ist ein Verräter!“. Sie riefen dazu auf, | |
| das Regierungsgebäude zu stürmen, es kam zu Auseinandersetzungen mit der | |
| Polizei. | |
| Die Demonstrierenden fordern von den armenischen Behörden konkrete | |
| Schritte, vor allem die Anerkennung der Unabhängigkeit von Bergkarabach. | |
| „Solange die Bevölkerung von Bergkarabach in Kellern und Bunkern lebt, | |
| müssen wir auf dem Platz der Republik bleiben“, sagte einer der Aktivisten. | |
| ## Kampfgeist vieler mit der Kapitulation erloschen | |
| Am Mittwoch sieht die Welt schon anders aus. Nach der Verkündung der | |
| Kapitulation Bergkarabachs am Mittag ist auch der Kampfgeist vieler | |
| Demonstranten erloschen: „Das war zu erwarten, das ist keine Überraschung“, | |
| sagt einer, „aber trotzdem ist das eine Katastrophe. Wichtig ist jetzt, | |
| dass wir die Verantwortlichen zu Rechenschaft ziehen“ – damit meint er den | |
| Premierminister Nikol Paschinjan. | |
| Eine andere Demonstrantin sagt: „Jetzt wird die Unzufriedenheit in der | |
| Bevölkerung erst recht weiter steigen.“ Eine Studentin hat Angst, dass das | |
| nur der Anfang ist: „Ich hoffe, es wird nicht noch schlimmer“, sagt sie. | |
| „Wir müssen die Regierung wechseln, sonst müssen wir nächstes Jahr einen | |
| Angriff auf ganz Armenien fürchten.“ | |
| Die Angst teilen einige. Andere sind sich wiederum sicher: Einen Angriff | |
| auf Armenien selbst wird es unter keinen Umständen geben. Ein paar Straßen | |
| weiter hatte sich schon am Dienstagabend vor der russischen Botschaft | |
| parallel eine andere Demobewegung gebildet. Die Menschen hier geben vor | |
| allem Putin die Schuld. | |
| Sie sind mit den russischen Friedenstruppen unzufrieden, die ihrer Meinung | |
| nach ihre Verpflichtungen und Versprechen, den Frieden in Bergkarabach zu | |
| schützen, nicht erfüllen, was sich in offenen Aufrufen gegen Putin äußert. | |
| „Putin begeht heute in Bergkarabach Kriegsverbrechen, indem er Armenier | |
| durch die Hände von Aserbaidschanern tötet“, schreien einige Demonstranten. | |
| ## „Könnten uns jetzt mehr Richtung Europa bewegen“ | |
| Die Kapitulation ordnen sie ganz anders ein: „[2][Bergkarabach] ist unter | |
| dem Druck Russlands zusammengebrochen und hat sich selbst verraten. Warum | |
| haben sie nicht abgewartet, was der UN-Sicherheitsrat beschließt?“, sagt | |
| ein Demonstrant. Ein anderer sagt: „Das bedeutet zwar weniger politische | |
| Abhängigkeit von Russland, aber auch mehr wirtschaftliche Schwierigkeiten, | |
| da wir sehr von Russland abhängen. Die Gaspreise werden wohl steigen.“ | |
| Angst vor einem Angriff auf Armenien selbst hat er nicht: „Jetzt müssen wir | |
| viel weniger einen großen Krieg mit Aserbaidschan fürchten. Aber Putin wird | |
| Armenien weiterhin mit einer prorussischen Regierung unter Kontrolle haben | |
| wollen.“ | |
| Die einzige kleine Hoffnung, die sich vor allem bei jüngeren Menschen | |
| herauskristallisiert: „Wir können uns jetzt mehr [3][Richtung Europa] | |
| bewegen“, sagt eine junge Studentin. | |
| Auch am Mittwochabend sollen Demonstrationen stattfinden. Und gleichzeitig | |
| werden die Cafés und Bars wieder voll sein – denn das Gefühl, sowieso nicht | |
| zu wissen, wie es weitergeht, kennt die armenische Bevölkerung seit vielen | |
| Jahren gut. | |
| 20 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Krieg-um-Bergkarabach-ausgebrochen/!5958247 | |
| [2] /Konflikte-in-Bergkarabach/!5950507 | |
| [3] /Konflikt-um-Bergkarabach/!5961485 | |
| ## AUTOREN | |
| Margareta Kosmol | |
| ## TAGS | |
| Nikol Paschinjan | |
| Armenien | |
| Schwerpunkt Bergkarabach | |
| Aserbaidschan | |
| Schwerpunkt Bergkarabach | |
| Schwerpunkt Bergkarabach | |
| Schwerpunkt Bergkarabach | |
| Schwerpunkt Bergkarabach | |
| Aserbaidschan | |
| Schwerpunkt Bergkarabach | |
| Kolumne Krieg und Frieden | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Experte über Krieg um Bergkarabach: „Man traut sich nicht ran“ | |
| Marcel Röthig von der Friedrich-Ebert-Stiftung sagt: Europa müsste | |
| entschiedener auf die Einnahme Bergkarabachs durch Aserbaidschan reagieren. | |
| Er rechnet mit Unruhen. | |
| Trotz Waffenstillstands in Bergkarabach: Weiter unter Beschuss | |
| Aserbaidschans Artillerie feuert weiter auf Bergkarabach. Armeniens Premier | |
| Paschinjan bleibt untätig. Beobachter fürchten schlimme Folgen. | |
| Konflikt um Bergkarabach: Im Zustand der Auflösung | |
| Knapp 24 Stunden nach dem Angriff Aserbaidschans auf Bergkarabach | |
| kapituliert das Gebiet. Bilder von vor Ort zeigen Zerstörung und flüchtende | |
| Menschen. | |
| Konflikt um Bergkarabach: Auf den Schwachen drauf | |
| Seit Längerem stehen die Karten für Armenien im Konflikt um Bergkarabach | |
| schlecht. Auch die frühere Schutzmacht Russland ist anderweitig | |
| beschäftigt. | |
| Konflikt um Bergkarabach: Kein Gas aus Aserbaidschan | |
| Wann ist die Grenze überschritten beim Abwägen von günstig und unmoralisch. | |
| Eine Verurteilung der Offensive gegen Bergkarabach reicht keineswegs. | |
| Deutschland und Bergkarabach: Zynisch und geschichtsvergessen | |
| Die deutsche Bundesregierung nimmt Warnungen vor einem Genozid an | |
| Armenier:innen nicht ernst. Ein Skandal, der allerdings nicht | |
| verwundert. | |
| Russische Exilanten in Armenien: „Jedem Anfang wohnt Zauber inne“ | |
| Unserem russischen Autor wurde die Einreise nach Georgien verweigert, wo er | |
| im Exil lebt. Jetzt muss er wieder neu beginnen: in Armenien. |