| # taz.de -- Der Hausbesuch: Die Sonne im Rückspiegel | |
| > In den Achtzigern kündigte Helga Blohm ihren Angestelltenjob in einer | |
| > Kanzlei und verwirklichte ihren Traum. Sie wurde Fernfahrerin. | |
| Bild: In ihrer Küche sitzt Helga Blohm gerne mit ihren Mitbewohnern – oder… | |
| Es waren nur wenige Jahre, die Helga Blohm in ihrem Traumberuf verbrachte, | |
| aber sie blickt nicht mit Wehmut zurück. Noch heute zehrt sie von ihren | |
| Erfahrungen auf den Autobahnen Europas. | |
| Draußen: Eine verkehrsberuhigte Straße in Mannheim-Neckarau, zu hören sind | |
| nur die eigenen Schritte auf dem Asphalt und das leise Summen eines Motors. | |
| Es ist ein Spielzeug-Cabrio, knallpink und elektrisch, am Steuer ein | |
| Mädchen, das doppelt so groß ist wie ihr Gefährt und gedankenverloren auf | |
| dem Bürgersteig herumkurvt. Als Helga Blohm in dem Alter war, durfte sie | |
| schon einen echten Wagen lenken. Im Hof ihres Elternhauses ließ der Vater | |
| sie anfahren und einparken üben. Mittlerweile ist Blohm 69 Jahre alt und | |
| das Haus gehört ihr. Im Vorbeigehen wirkt der gelb verputzte | |
| Fünfzigerjahrebau unscheinbar, doch hinter dem Tor erstreckt sich ein | |
| großes Grundstück mit alter Scheune und einer Wiese, auf der mal Pferde | |
| grasten. „Ich liebe meine alte Burg“, sagt Blohm und bittet herein. | |
| Drinnen: Dass in ihrem Elternhaus zu leben ihr mal wieder so ein Glück | |
| bereiten würde, hätte sie als junge Frau nicht gedacht. Damals wollte sie | |
| bloß fort, fünf Tage die Woche, ganz auf sich gestellt und jeden Morgen im | |
| Rückspiegel die Sonne aufgehen sehen. „Und dann die geballte Kraft eines | |
| Vierzigtonners, das Blubbern des Diesels, 500 PS“, sagt sie. „Gänsehaut!�… | |
| Blohm streicht sich über die Arme. „Kuchen?“ [1][Auf dem Tisch liegt ihr | |
| Buch], sie hat die Erlebnisse im Lkw niedergeschrieben und vergangenes Jahr | |
| veröffentlicht. An der Wand hängt ein Kalender, den Studenten ihr gebastelt | |
| haben, mit Fotos von gemeinsamen Kochabenden. Blohm vermietet einige ihrer | |
| Zimmer, weil sie Platz hat und es mag, wenn was los ist im Haus. | |
| Papakind: Helga Blohm wächst ohne Geschwister auf und ist ihren Eltern sehr | |
| nah. Zur Familie gehören noch ein Pferd und ein Pkw. „Nach Mama und Papa | |
| konnte ich Auto sagen.“ Ihr Vater ist gelernter Autoschlosser und arbeitet | |
| als Direktionsfahrer bei Benz, fährt dort also den Chef durch die Gegend. | |
| Als sie vier Jahre als ist, nimmt er sie an einem Sonntag zum ersten Mal | |
| mit ins Mannheimer Industriegebiet und lässt sie auf seinem Schoß lenken. | |
| Kommt eine Polizeistreife vorbei, duckt sie sich kichernd. | |
| Ausgezeichnet: Nach der Schule macht Helga Blohm eine Ausbildung zur | |
| Rechtsanwalts-Fachangestellten und nimmt in ihrer Freizeit bei | |
| Fahrgeschicklichkeitsturnieren des [2][ADAC] teil. Blohm tritt dort mit | |
| ihrer raumgreifenden Ente gegen Männer in Mini Coopern an und holt einen | |
| Pokal nach dem anderen. Im engen Wendehammer rangieren, schmale Gassen | |
| passieren, ohne die Holzklötze an den Rändern umzustoßen, rückwärts | |
| einparken in so wenigen Manövern wie möglich: „Genaues Augenmaß, ein gutes | |
| Gefühl für den Wagen, das liegt mir“, sagt Blohm. Röhrende Motoren, Rasen | |
| auf der Rennstrecke, so was habe sie nie interessiert. Je mächtiger und | |
| behäbiger desto besser. Schon früh stellt sie sich vor, wie es sein muss, | |
| einen Vierzigtonner zu lenken, „diese Masse, diese schiere Kraft zu | |
| bewegen“. | |
| Fisch und Vogel: Mitte der Achtziger, Helga Blohm ist Anfang 30, fühlt sie | |
| sich in ihrem Job mehr und mehr wie „ein Vogel, gefangen im Käfig“. Die | |
| immer gleichen Aufgaben am immer gleichen Ort mit den immer gleichen | |
| Arbeitszeiten. In ihr wächst der Wunsch, Fernfahrerin zu werden, doch sie | |
| ist sicher, als Frau in der Branche keine Chance zu haben. Eine Freundin | |
| ermutigt sie, zumindest den Lkw-Führerschein zu machen. Das erste Mal im | |
| Fahrerhaus sitzen, für Blohm „unbeschreiblich“, ihr eigenes Auto kommt ihr | |
| danach vor wie eine Seifenkiste. Später, wenn ihr Menschen zu ihrem „Mut“ | |
| gratulierten, als Fernfahrerin zu arbeiten, habe Blohm das nie ganz | |
| verstanden. „Mutig ist meiner Meinung einer, der seine Angst überwindet. | |
| Ich hatte nie Angst, ich fühlte mich wie der Fisch im Wasser.“ | |
| Achterbahn: Sie lernt Dirk kennen, der ganz angetan ist von ihrer | |
| ADAC-Parcours-Performance und gerade ein kleines Transportunternehmen | |
| aufbaut. Für Schausteller fährt er Riesenräder und Achterbahnen von einem | |
| Festplatz zum nächsten und kann Unterstützung gebrauchen. Irgendwann meldet | |
| sich ein Spediteur bei ihr, einer seiner Fahrer sei „frech zur Polizei“ | |
| gewesen, der [3][Lkw] beschlagnahmt worden. Ob sie mit ihm nach Bellinzona | |
| fahren wolle, um die Fracht von dort schnellstmöglich weiter nach Italien | |
| zu bringen? | |
| Italien: Keine 24 Stunden später steht Blohm mit ihrer Reisetasche vor | |
| einem 1224 Benz Jumbo in der Schweiz. Und merkt, dass sie nicht weiß, | |
| worauf sie sich da eingelassen hat. Auf dem Parkplatz fährt sie Slalom, um | |
| zu spüren, wie der Tandem-Anhänger reagiert, stellt die fünf Außenspiegel | |
| ein, testet Hupe, Bremse, Licht und macht sich auf den Weg nach Chiasso an | |
| der italienischen Grenze. Auf dem Zollhof bemerkt ein Kollege, dass Helga | |
| Blohm von den Formalitäten dort keine Ahnung hat, und bietet an, ihr | |
| unterwegs via Funk Instruktionen zu geben. Und so erklärt er Blohm, dass | |
| sie mit normalen Straßenkarten in Italien nicht weit komme – sie brauche | |
| die „grünen Bücher“, in die jedes noch so kleine Dorf zum Be- und Entladen | |
| eingezeichnet ist. Außerdem müsse sie zum Telefonieren Lire in Gettone, | |
| spezielle Telefonmünzen, umtauschen und habe anders als in Deutschland | |
| feste Arbeitszeiten. Bald darauf kündigt sie ihren alten Job. | |
| Grenzen: Blohm ist wichtig zu betonen, dass sie in ihrer Zeit als | |
| Fernfahrerin von männlichen Kollegen nichts als Hilfsbereitschaft und | |
| Respekt erfahren habe. Zur Realität in dem Beruf gehören auch die | |
| beschwerlicheren Momente: Einen Vierzigtonner quer durch Europa fahren geht | |
| an die Substanz, manchmal klemmt die Anhängerkupplung oder man bleibt | |
| liegen, die hygienischen Bedingungen auf den Raststätten sind dürftig und | |
| gute Parkplätze für die Nacht rar. | |
| Glück: Für Blohm war es das „herrliche Gefühl des Seins“, das jede | |
| Anstrengung wettmachte. Wenn sie morgens die spanische Sonne im Rückspiegel | |
| hatte oder abends guten Fisch aß in einem kleinen Lokal irgendwo in | |
| Portugal. Oder die Abruzzen durchquerte von Pescara nach Rom, „eine tolle | |
| einsame Strecke“. Und natürlich die Hochebene um Madrid, „wie Klein-USA ist | |
| es da, immer gerade Landstraßen, keine Menschen nirgends“. | |
| Kanal 9: Wenn ihr doch mal nach Kontakt war, nahm Helga Blohm das Funkgerät | |
| und „quasselte“ mit Kollegen vor oder hinter ihr, zum Beispiel auf der | |
| Strecke von Lyon zum Mittelmeer, wo man nicht viel nachdenken muss. Für | |
| [4][Fernfahrer] gibt es den Kanal 9, um sich untereinander über Staus, | |
| Polizeikontrollen oder streikende Zöllner zu informieren. Aus kurzen | |
| Hinweisen seien oft intensive Konversationen „über Gott und die Welt“ | |
| entstanden. Vor allem über Gott, denn Helga Blohm, eine gläubige Christin, | |
| hatte einen Aufkleber an der Windschutzscheibe mit einem Bibelspruch, der | |
| ihren Kollegen auffiel. Sie ist sicher, dass Gott unterwegs stets ein Auge | |
| auf sie hatte, in brenzligen Momenten oder wenn sie mal nicht wusste, | |
| welche Abzweigung zum Ziel führt. | |
| Aussicht: Nach nur wenigen Jahren im neuen Beruf sterben kurz | |
| hintereinander Blohms Eltern. Sie erbt das Grundstück und alle | |
| Verpflichtungen, die dazugehören. Fürs Lkw-Fahren reicht ihre Konzentration | |
| nun nicht mehr, sie pausiert erst und hört dann ganz auf. Blohm sortiert | |
| sich neu, geht zurück in die Kanzlei. Ihren ersten Urlaub nach dieser | |
| schwierigen Zeit verbringt sie am Vierwaldstättersee in der Schweiz. Sie | |
| hat eine Terrasse am Wasser, ihre Augen wollen aber nicht auf dem | |
| Bergpanorama ruhen, sondern fixieren immer wieder die ferne Autobahn. Den | |
| Lastwagen hinterherschauen, sagt sie, sei für sie entspannender als jeder | |
| See. | |
| 10 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.helgablohm-lkw.de/ | |
| [2] /ADAC-will-keine-Autolobby-mehr-sein/!5730539 | |
| [3] /Lkws-vor-dem-Stillstand/!5878863 | |
| [4] /Lkw-Fahrer-kaempfen-um-Geld/!5948131 | |
| ## AUTOREN | |
| Leonie Gubela | |
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