| # taz.de -- Der Hausbesuch: Schmetterlinge der Hoffnung | |
| > Die Kurdin Eylül A. ist mit ihrer Familie aus der Türkei geflohen, jetzt | |
| > lebt sie in Stralsund. Ihre Fluchterfahrungen verarbeitet sie in Bildern. | |
| Bild: Weil sie Anfeindungen fürchtet, will Eylül A. ihr Gesicht auf dem Foto … | |
| Wenn die türkische Politik eine andere wäre, hätten Eylül A. und ihre | |
| Familie Istanbul nicht verlassen. Aber auch in Deutschland sind sie nicht | |
| sicher. | |
| Draußen: Wohnhäuser reihen sich aneinander; die gelbbraune Fassade des | |
| Hauses, in dem die A.s wohnen, verschmilzt mit dem trüben Himmel. Eine | |
| leichte Brise weht, die Küste ist nicht weit. An das Haus grenzt ein Wald, | |
| direkt daneben ist eine Baugrube. Hier sollen klotzartige Einfamilienhäuser | |
| entstehen. An einer Straßenecke unterhalten sich ein paar glatzköpfige | |
| Männer mit Schäferhunden. Außer einem Supermarkt gibt es hier nichts. | |
| Drinnen: Mit vier ihrer zehn Geschwister lebt die 22-jährige Eylül im | |
| zweiten Stock des schlichten Hauses. Auf einem grauen Esstisch ist ein | |
| Buffet angerichtet, neben gefüllten Weinblättern stehen eine Schüssel mit | |
| Bulgursalat und selbstgemachte Hefebrötchen. Im Wohnzimmer ist viel Trubel, | |
| immer ist eins der Geschwister unterwegs. Ihre Tante, die Eylül auch | |
| liebevoll „Mama“ nennt, bietet einen Tee an, ihr Bruder verzieht sich | |
| schnell zum Sport. An der Wand hängt eine Zeichnung, auf der eine Tänzerin | |
| abgebildet ist – Eylül hat es gemalt. Im Flur hängt ein Ölgemälde ihres | |
| Vaters. | |
| Kindheit: Eylül ist in einem Vorort von Istanbul in einem achtstöckigen | |
| Wohnhaus aufgewachsen. Dort lebte die Familie über zwei Stockwerke in zwei | |
| Wohnungen. Jetzt wohnt die eine Hälfte in dem Haus am Wald, die andere | |
| Hälfte zehn Minuten entfernt. Ihre Heimat hängt ihr nach: Eylül liebt | |
| Istanbul, eine Stadt, in der sie immer wieder etwas Neues entdecken konnte. | |
| Ein schönes Leben hatten sie dort, ein Leben, das sie vermisst, sagt sie. | |
| „Wir hatten alles, was wir brauchten.“ Doch eines wurde ihnen immer mehr | |
| genommen: ihre Freiheit. | |
| Politik: Eylül A.s Vater war [1][Teil der politischen Opposition in der | |
| Türkei]. In welcher Partei will Eylül aus Sicherheitsgründen nicht | |
| verraten, ihr Vater gilt als politisch verfolgt. Seit 2020 ist die Familie | |
| in Deutschland, doch auch hier gibt es Anfeindungen. Ihr Vater wurde erst | |
| kürzlich von Rechtsextremen angegriffen, erzählt Eylül. Deshalb will sie | |
| ihren Nachnamen nicht öffentlich nennen, auf dem Foto soll ihr Gesicht | |
| nicht zu erkennen sein. „Ich möchte lieber nicht über Politik reden“, sagt | |
| Eylül gleich am Anfang des Gesprächs. Man merkt auch so, dass das Thema | |
| eine große Rolle in der Familie spielt. Auch in Deutschland möchte ihr | |
| Vater wieder in die Politik gehen, doch erst einmal muss er Deutsch lernen. | |
| Sprache: „Als wir ankamen, hat mein Vater gesagt: Das Allerwichtigste ist, | |
| dass ihr die Sprache lernt. Für euch, aber auch aus Respekt vor den | |
| Menschen im Land“, erzählt Eylül. Ihr Deutsch ist nahezu perfekt. Und auch | |
| ihr Vater hat hohe Ziele: Erst wenn er ein Buch von Goethe lesen kann, | |
| werde er das Gefühl haben, dass er die Sprache beherrsche, sagt sie. Neben | |
| Türkisch und Englisch spricht er die verschiedenen kurdischen Sprachen | |
| fließend. | |
| Identität: [2][Als Kurdin] erlebte Eylül in der Türkei im Alltag häufig | |
| Rassismus, in der Schule war es ihr zum Beispiel nicht erlaubt, ihre | |
| Sprache zu sprechen. Doch ihre Eltern brachten ihr früh bei, dass sie sich | |
| nicht verstecken muss. „Ich war immer stolz, dass ich Kurdin bin.“ Ihre | |
| kurdische Identität prägte sie, doch für Eylül zählt nicht die Religion | |
| oder die Herkunft, sondern der Mensch dahinter, sagt sie. „Es geht im Leben | |
| darum, ein guter Mensch zu sein, daran glaube ich fest.“ Was das heißt, das | |
| hat sie von ihren Eltern gelernt, sie haben ihr gezeigt, was Respekt und | |
| Empathie bedeuten. „Meine Eltern haben uns Kindern ihr ganzes Leben | |
| gewidmet“, sagt sie. | |
| Kunst: Schon als Kind hatte Eylül häufig Stift und Pinsel in der Hand, das | |
| Malen ist ihr Ein und Alles. Sie kann sich darin verlieren, die Zeit | |
| vergessen. „In der Türkei wird Kunst weniger wertgeschätzt als hier.“ Eyl… | |
| ist überzeugt, dass Bilder auch helfen, Erfahrungen zu verarbeiten. Nach | |
| der Ankunft in Deutschland von einer Unterkunft in die nächste umzuziehen, | |
| das war alles andere als angenehm. Doch so lernte Eylül andere Geflüchtete | |
| kennen und merkte schnell: Die [3][Flucht ist eine universelle Erfahrung]. | |
| Alle Menschen erleben Angst und Trauer auf ihrem Weg. Eylül brachte diese | |
| Emotionen zu Papier, sie wollte den anderen Geflüchteten zeigen, dass sie | |
| nicht allein sind. | |
| Bilder: „Die Kunst hat ihre eigene Sprache“, sagt Eylül. Auf ihren Bildern | |
| sind oft ausdrucksstarke Gesichter oder fein gezeichnete Körper von | |
| Menschen zu sehen, die, kombiniert mit unterschiedlichen Symbolen, Einblick | |
| geben in das Innenleben. Auf einem Bild sieht man etwa eine Frau, die einem | |
| direkt in die Augen schaut. Ihr Blick ist traurig und leer, ihr Mund | |
| verbunden mit einem weißen Tuch. Bunte Schmetterlinge flattern auf der Höhe | |
| ihres Oberkörpers. Schmetterlinge tauchen immer wieder in den Zeichnungen | |
| auf, sie sind für Eylül das Symbol der Hoffnung. „Ich möchte mit meinen | |
| Bildern Empathie schaffen“, sagt sie. | |
| Ankommen: Seit anderthalb Jahren lebt Eylül mit ihrer Familie in Stralsund, | |
| davor wechselte sie von einer Unterkunft in die nächste, in Bremen, | |
| Schwerin, die Familie wurde hin und her geschoben. „Die letzten Jahre | |
| möchte ich einfach vergessen.“ Es war ein ständiges Warten. Erst in | |
| Stralsund habe sich Deutschland wie ein neues Zuhause angefühlt, sagt sie. | |
| Hier knüpfte sie Kontakte mit einem migrantischen Verein, der ihr half, | |
| Anfang Januar eine erste Ausstellung zu organisieren. Es kamen fast | |
| einhundert Leute, für Stralsund eine Menge. „Als ich gesehen habe, wie sich | |
| der Ausdruck der Menschen verändert hat, als sie die Bilder gesehen haben, | |
| war ich unglaublich gerührt.“ | |
| Unzertrennlich: Eylül hat eine Zwillingsschwester. „Es ist, als wärst du | |
| nicht allein auf die Welt gekommen“, beschreibt sie ihre Beziehung. Die | |
| beiden sind unzertrennlich, aber gleichzeitig komplett verschieden. Eylüls | |
| Liebe gilt der Kunst und der Literatur, ihre Zwillingsschwester spielt | |
| gerne Fußball und hört HipHop. Auch der Rest der Familie hält zusammen. In | |
| den Flüchtlingsunterkünften waren sie als „die Großfamilie“ bekannt. Sie | |
| lebten [4][monatelang auf engem Raum], die Nähe machte ihnen nichts aus. | |
| „Wir sind wie ein eingespieltes Fußballteam“, sagt Eylül. Zwei der zehn | |
| Geschwister leben noch in der Türkei, allerdings nicht in Istanbul. Dort | |
| wurde es zu gefährlich für sie, sie zogen in die Heimatstadt der Familie im | |
| Südosten des Landes. | |
| Träume: Eylül möchte Architektin werden. Sie will die Formen, die sie mit | |
| dem Stift zu Papier bringt, in der Realität entstehen lassen. Doch ihr | |
| Traum muss warten. Als sie nach Deutschland kam, war sie schon über 18, | |
| anders als ihr Vater erhielt sie [5][kein politisches Asyl]. „Die | |
| Begründung war, dass ich nicht politisch verfolgt werde, aber in Istanbul | |
| kennt jeder unsere Familie“, sagt sie seufzend. Zwei Klagen scheiterten. Um | |
| bleiben zu können, muss sie eine Ausbildung zur Bauzeichnerin machen. Erst | |
| danach kann sie Architektur studieren. | |
| Der Helm: Eylül erinnert sich an eine staubige Baustelle vor ihrem Haus in | |
| Istanbul. Dort tummelten sich Arbeiter mit weißen Schutzhelmen. Das | |
| faszinierte sie, die Idee, Architektin zu werden, entstand. Als sie in | |
| Stralsund das erste Mal als Bauzeichnerin eine Baustelle besuchte, war sie | |
| ganz verwundert, dass niemand einen Helm trug. Ihr Chef sagte zu ihr, dass | |
| man den nicht unbedingt brauche. „Wisst ihr, wie lange ich darauf gewartet | |
| habe, bis ich diesen Helm tragen kann?“, entgegnete sie damals lachend. | |
| Seither halten die Handwerker einen Helm für sie parat, wenn sie auf die | |
| Baustelle kommt, erzählt sie. | |
| Freiheit: An Deutschland schätzt sie vor allem eines: [6][die Freiheit], | |
| sie selbst sein zu können. Auch ihrem Vater gehe es so, sagt sie. Vor | |
| Kurzem hat er einen türkischen Mann kennengelernt, die beiden kamen über | |
| Politik ins Gespräch. Es ging um die Diskriminierung von Kurd:innen in | |
| ihrem Heimatland. Es war ein Gespräch, kein Streit. Das wäre so in der | |
| Türkei nicht passiert, sagt Eylül „In der Türkei gibt es keine | |
| Gedankenfreiheit.“ Es ist jener Glaube an die Freiheit, der Eylül in | |
| Deutschland hält und der ihr hilft, darüber hinwegzukommen, nicht mehr in | |
| ihrer Heimat zu sein. | |
| 21 Aug 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sabina Zollner | |
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