Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Der Hausbesuch: Der Tag, den sie vergessen will
> Sie ist Turniertänzerin in einer queeren Gruppe, Imkerin und
> Hausverwalterin. „Das Leben ist mehr als nur der Job.“ Zu Besuch bei
> Simone Götz in Berlin.
Bild: Simone Götz in ihrem Wohnzimmer im Berliner Stadtteil Moabit
Soll man mit Simone Götz als Weltmeisterin im Showtanz sprechen, als
Insektenköchin, als Italienistin? In ihr Leben passt unglaublich viel. „Ich
arbeite nicht sonderlich langsam“, sagt sie.
Draußen: Ein unscheinbares Mehrfamilienhaus [1][in Moabit], einem Teil
Berlins, der lange als ein wenig zu schmuddelig und vernachlässigt galt.
Doch die Gentrifizierung verändert die Bewohner:innenstruktur. Simone Götz
lebt gern hier: „Es ist eine wunderbare Mischung aus Jungen, Alten,
Singles, Familien, Aus- und Inländer:innen.“
Drinnen: Eine Dreizimmerwohnung in der 3. Etage mit Parkettboden,
Gründerzeitschränken, vielen Büchern. Im Wohnzimmer stehen ein
Tapeziertisch und ein Rudergerät. Beide sind in der Coronapandemie in die
Wohnung gekommen. Der Tisch als lange Tafel aus „Angst vor sozialer
Vereinsamung“. Das Rudergerät als Ausgleich zum zu vielen Sitzen: „Rudern
ist super für die Fitness.“
Herkunft: In Wildeck-Hönebach, einem osthessischen Dorf im Zonenrandgebiet,
nur 500 Meter von der Grenze entfernt, kam Simone Götz 1966 zur Welt. Die
Grenze ist für sie so allgegenwärtig wie für die Ostdeutschen hinter dem
Zaun. „Wenn im Winter Minen hochgingen, weil Tiere drübersprangen, wunderte
sich in Wildeck-Hönebach niemand.“ Bei Wilfried Gliem, der später mit den
Wildecker Herzbuben berühmt wird, lernt Simone Götz Flöte spielen. „Das hat
nicht so gefruchtet.“
Italien: Nach dem Abitur 1986 studierte Götz in Berlin Italienisch und
Germanistik, 1988 ging sie nach Bologna und hörte Semiotikvorlesungen bei
[2][Umberto Eco]. „Das war echt langweilig, aber es war eben Umberto Eco.“
Die Unterschrift des Schriftstellers, der mit der „Name der Rose“
weltberühmt wurde, hebt sich ab in ihrem Studienbuch – sie ist mit grüner
Tinte geschrieben.
Kulturclash: Simone Götz verliebte sich damals in Franceso, der stammt aus
einer konservativen katholischen Familie in Apulien. „Das war eine
kulturelle Herausforderung“, sagt sie. Als Francescos Mutter ihren Sohn und
seine deutsche Freundin in Bologna besuchte, achtete sie darauf, dass das
junge Paar in getrennten Zimmern schläft. Einmal besuchte Simone Götz
Francescos Familie in Apulien, das glich damals einer Revolution.
Zu jener Zeit hätte es in Süditalien mitunter geheißen, deutsche Frauen
seien unzuverlässig, sexbesessen, schlampig. Einmal „erwischt“ Francescos
jüngere Schwester ihren Bruder und Simone beim Knutschen, aufgeregt schreit
sie: „Solche Schweinereien macht man nicht.“ Nach vier Jahren trennten sich
Simone und Francesco, aber die Liebe zu Italien blieb – bis heute. So oft
sie kann, fährt sie hin.
Hausverwaltung: Zurück in Berlin nach der Bologna-Zeit ist sie
orientierungslos. „Was fange ich nur mit Italienisch und Germanistik an?“
Sprachen brachten nichts damals, das war ihr Gefühl, deshalb fängt sie noch
Mathematik an – schmeißt aber bald wieder hin und schließt dann 1998
Italienisch und Germanistik ab. Um das Studium zu finanzieren, arbeitet sie
in einer Hausverwaltung, lernt dort alles, was man als Verwalterin wissen
muss – und bleibt hängen.
Seit 1997 teilt sie sich mit Sandra Braunwald, ebenfalls
Geisteswissenschaftlerin und inzwischen eine Freundin, ein Büro. Gemeinsam
verwalten die beiden 30 Häuser. „Dass ich nicht in einem Verlag angeheuert
habe, was ich eigentlich wollte, habe ich nie bereut. Das Leben besteht aus
mehr als nur dem Job“, sagt Götz.
Familie: Am Klingelschild stehen drei Namen: ihr eigener, der ihres Mannes
und der seiner Tochter, die so heißt wie ihre Mutter. Das Kind war 8, als
Simone Götz und der Vater des Mädchens sich fanden, Simone Götz wird
„Extramutter“. Nach eineinhalb Jahren ziehen die beiden zusammen, das Kind
findet das cool, jetzt können die Zehnjährige und die Frau „Klamotten
tauschen“, wie das Mädchen sagte. Als es volljährig wird, zieht es komplett
zum Vater und dessen neuer Frau. Seit 2021 ist die Tochter selbst Mutter
eines Sohnes – und Simone Götz Extragroßmutter.
Tanzen: Vor über 20 Jahren beginnt sie zu tanzen, zunächst mit ihrem Mann,
bald Turniertanz mit ihrer Freundin Sabine: Slow Foxtrott, Slow Waltz,
Latein, das ganze Programm. Sie werden Turniertänzerinnen in der queeren
Showtanzgruppe von [3][Pink Ballroom] und fahren zu Wettkämpfen. Die beiden
Frauen werden 2017 Europameisterinnen, 2018 Weltmeisterinnen und 2019
erneut EM-Siegerinnen im Showtanz. Für die Wettkämpfe lassen sie sich
Kleider nähen, in Goldfarben, mit Pailletten, Simone trägt eine schwarze
Perücke. Auch Menschen, die sie kennen, erkennen sie kaum.
Die schlimmsten Tage: Den 31. Mai und den 1. Juni 2008 würde Simone Götz
gern aus ihrem Leben streichen. Denn im Abstand von 24 Stunden nehmen sich
ihre Eltern das Leben. Erst die Mutter. Dann der Vater. Nach dem Tod der
Mutter informiert die Polizei Simone Götz, die einzige Tochter. Sie setzt
sich sofort in den Zug und fährt los. Als sie ankommt, lebt auch ihr Vater
nicht mehr. „Ein Schock, den ich gar nicht beschreiben kann. Emotional habe
ich es von mir vollkommen abgetrennt, ich musste ja weitermachen:
Beerdigung, Trauerfeier, Nachlass.“ Weder Mutter noch Vater hinterließen
einen Abschiedsbrief.
Warum? „Es dauerte Jahre, bis ich aufgehört habe, über das Warum
nachzugrübeln.“ Und dann das Chaos. Emotional ja, aber auch finanziell: mit
dem Nachlass, mit den Banken, mit dem Finanzamt. Sie kann nicht mehr sagen,
wie sie durch diese Zeit gekommen ist. Ohne Freundinnen, ohne ihren Mann,
ohne Arbeit, ohne ihren Schrebergarten wäre sie untergegangen, glaubt sie.
Kleingarten: Mit dem Rad fährt sie nach der Arbeit und an den Wochenenden
oft auf ihre Datsche in der Nachbarschaft. 170 Quadratmeter Fläche, darauf
eine winzige Standardlaube. Obstbäume, Blumen, Gemüsebeete. Während der
Coronapandemie „das Paradies“: Sie war draußen und vor Ansteckung sicher,
bewegte sich und tat etwas für die Umwelt. Sie ist Mitglied im Arbeitskreis
Naturschutz im Deutschen Alpenverein Berlin, unterstützt einen Ziegenhof in
Brandenburg und hat neulich 150 Ziegen auf die Weide geführt. „Die sind
alle hinter mir hergelaufen.“
Bienen: Imkerin ist sie auch. „Die Bienen bringen mich ganz schön runter.
Wenn Tausende dieser kleinen Tiere um einen herumwuseln, darf man nicht
hektisch werden, sonst geht leicht etwas schief.“ Seit einigen Jahren zieht
Simone Götz mit Bienenvölkern von Hausdach zu Hausdach. Der Imkerverein, in
dem sie Mitglied ist, bietet Plätze auf Dächern über Berlin an:
Musikinstrumentemuseum, Vattenfall, Landesvertretung Bremen.
Simone Götz stellt dort die Kisten mit den Bienenvölkern auf und kümmert
sich von Mai bis September intensiv um die Tiere. Im Spätsommer holt sie
den Honig aus den Waben, schleudert ihn und macht daraus ihren „Simonig“.
Im Herbst und Winter muss sie die Bienen füttern, denn der Honig, den sie
nun nicht mehr haben, ernährt auch die Bienen selbst.
Essen: Gut zu essen ist ihr sehr wichtig. „Ich koche viel und
experimentiere dabei gern.“ Einmal richtete sie mit einer Freundin ein
8-gängiges [4][Insektenmenü] aus, mit Drohnenlarven, Heuschrecken, Heimchen
und Buffalowürmern. Die Insekten wurden gedünstet, gebraten, frittiert. Die
gebratenen Drohnen servierten sie mit Herzoginkartoffeln, Apfelstampf und
Zwiebeln, frittierte Würmer mit Kartoffelchips, Heimchen mit Krautgemüse.
Ein anderer Gang – an das Insekt in dem Gericht kann sich Simone Götz
leider nicht mehr erinnern – war gewürzt mit Curry, Zimt und Muskat. Als
Dessert reichten die beiden Frauen Pannacotta. Mit Ameisen.
1 Aug 2023
## LINKS
[1] /Abriss-eines-Architekturjuwels/!5782707
[2] /Nachruf-Umberto-Eco/!5276954
[3] https://www.pinkballroom.de/
[4] /Insekten-als-Lebensmittel/!5765632
## AUTOREN
Simone Schmollack
## TAGS
Der Hausbesuch
Berlin
Imkerei
wochentaz
Tanzen
Türkei
Karneval
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
Der Hausbesuch
## ARTIKEL ZUM THEMA
Respektpreis für Pinkballroom: Sie führt, sie folgt …
Paartanz muss nicht hetero sein. Almut Freund und Doro Arning tanzen schon
seit 24 Jahren bei der Berliner Tanzabteilung für Equality-Tanz.
Der Hausbesuch: Schmetterlinge der Hoffnung
Die Kurdin Eylül A. ist mit ihrer Familie aus der Türkei geflohen, jetzt
lebt sie in Stralsund. Ihre Fluchterfahrungen verarbeitet sie in Bildern.
Der Hausbesuch: Lebenslang Stunker
Jahrelang mischte Bruno Schmitz, Mitgründer der Kölner Stunksitzung, das
Spießbürgertum auf. Kultur veranstaltet er immer noch, ohne Renditedenken.
Der Hausbesuch: Endlich wieder singen können
Vom „Ballermodus“ ins Bett – und wieder auf die Bühne? Ein Besuch bei So…
Trautmann, die an Post-Covid erkrankt ist.
Der Hausbesuch: Drei, die ihren Weg gefunden haben
Was ist schöner, als irgendwo anzukommen? Die Kashefs versuchen es in
Hannover. Trotz aller Probleme klappt es – auch mit Hilfe von
Ebay-Kleinanzeigen.
Der Hausbesuch: Hier passiert die Magie
Matthias Möhring repariert in seiner Wohnung in Berlin-Pankow analoge
Kameras. Lange schien das ohne Zukunft, nun ist er wieder gefragt.
Der Hausbesuch: Der mit der Maus
Sinan Güngör hat Lars, den Eisbären, und die Hauptfigur der „Sendung mit
der Maus“ gezeichnet. Er brauche als Trickfilmzeichner auch Humor, sagt er.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.