# taz.de -- Der Hausbesuch: Der mit der Maus | |
> Sinan Güngör hat Lars, den Eisbären, und die Hauptfigur der „Sendung mit | |
> der Maus“ gezeichnet. Er brauche als Trickfilmzeichner auch Humor, sagt | |
> er. | |
Bild: Er hat Lars und die Maus zum Laufen gebracht: Sinan Güngör in seiner Wo… | |
Erst kritzelte Sinan Güngör seine Schulhefte voll. Dann studierte er | |
Chemie. Bis er einen Animationsdozenten traf und feststellte, dass die | |
Chemie zwischen ihnen stimmte. | |
Draußen: Vor nicht langer Zeit wohnte Sinan Güngör in Lübars, am Ende der | |
Berliner Buslinie 222, in dörflichem Ambiente mit Kopfsteinpflaster, | |
Pferdeställen und Wiesen. Er besaß ein Haus mit einem Garten, in dem sich | |
seine vier Kinder austoben konnten, und mit einem Atelier, in dem er | |
arbeitete. Jetzt aber lebt er am Ende von Berlin-Reinickendorf, im | |
einzigen, alle Nachbarschaft überragenden Mietshaus zwischen | |
Einfamilienhäusern. Einem Nachkriegsblock ohne Charme. | |
Drinnen: Im ersten Stock des Hochhauses bewohnt er 40 Quadratmeter. Er hat | |
eine Katze, eine Abstellkammer und ein Zimmer mit Bett, Tisch, zwei Stühlen | |
und seinem Arbeitsplatz nah beim Fenster. Der Blick geht hinaus auf die | |
eingezäunten Gärten der Eigenheime, in der Ferne ist ein Kirchturm. An den | |
Wänden hängen Bilder, die aussehen, als seien sie Kinderbüchern entnommen. | |
„Es ist schon eine Umstellung, wenn man aus einem so großen Haus in ein so | |
kleines Zimmer zieht. Aber ich habe einen großen Keller, und das ist das | |
Wichtigste.“ Voraus ging dem Umzug die Trennung. Manchmal sei das Leben | |
eben so. Es gebe keine Garantie auf die Liebe. Zudem lebt er zeitweise in | |
der Türkei; die kleine Wohnung reiche ihm. | |
Rückschau: Im Keller hat Sinan Güngör Platz für seine Tierzeichnungen. Er | |
hat so viele Mäuse und Eisbären gemalt, dass seine Kinder zuerst glaubten, | |
alle Väter dieser Welt malen Eisbären oder Mäuse. Die Tochter Aylin war | |
bereits zehn Jahre alt, als sie verstand, dass das mit dem Malen etwas | |
Besonderes war. Der Vater hatte sie mitgenommen zum Berliner Ostbahnhof, wo | |
gerade der „Maus-Zug“ eingefahren war. Mit dem „Maus-Zug“ feierte der | |
Westdeutsche Rundfunk das 25-jährige Jubiläum seiner „Sendung mit der | |
Maus“. Auf dem Bahnhof waren Hunderte begeisterte Kinder und Eltern, der | |
Vater von Aylin saß an einem Tisch und signierte Bilder von der Maus und | |
von Lars, dem Eisbären. Als sie am Abend nach Hause kamen, flüsterte die | |
Tochter der Mutter zu: „Du, Mama, der Papa ist berühmt!“ | |
Bescheidenheit: Gern denkt Sinan Güngör an diesen Tag. Er lächelt dabei. | |
Auf Partys und Veranstaltungen lächelt er dieses Lächeln auch. Wenn Gäste | |
ihn fragen, was er denn so mache und er sagt, dass er Zeichner sei, und | |
wenn sie dann fragen, was er zeichne, und er sagt, er zeichne die Maus und | |
den Eisbären, dann sehen sie ihn ungläubig an und sagen: „Was? Sie meinen | |
Lars, den weltberühmten Eisbären?“ Und weil Sinan Güngör dann wieder zu | |
lächeln beginnt, glauben sie, er scherze nur. | |
Die Schule: Wahrscheinlich hat er diese Bescheidenheit aus dem türkischen | |
Städtchen an der Mittelmeerküste mitgebracht, wo er die Schulhefte lieber | |
mit Skizzen und Zeichnungen füllte als mit Buchstaben und Zahlen. „Während | |
die Lehrer vorne redeten und redeten, saß ich hinten und kritzelte und | |
kritzelte.“ Auch später, als er an der Technischen Universität von Istanbul | |
Chemie studierte, zeichnete er nebenbei Karikaturen für Zeitschriften. Als | |
er 1973 nach Dortmund kam, schrieb er sich trotzdem für das Fach | |
Chemietechnik ein. | |
Der Graf: Doch dann sah er in der Mensa der Universität ein Plakat: | |
„Samstag – Große Fete in der Fachhochschule für Design“. Er erfuhr, dass | |
ein gewisser [1][Graf von Rothkirch] Lehrbeauftragter für den neu | |
gegründeten Fachbereich Animation sei. Das war der Einstieg in etwas ganz | |
Neues. An einem Donnerstag des Jahres 1975 trafen sich die beiden, und erst | |
40 Jahre später, als man den Grafen auf den Bergmannfriedhöfen in Berlin zu | |
Grabe trug, trennten sich ihre Wege wieder. „Du hast“, flüsterte ihm einer | |
aus der Trauergemeinde am Grab zu, „den Grafen zum Millionär gemacht!“ – | |
Sinan Güngör runzelte die Stirn und antwortete, nicht ohne bescheiden zu | |
lächeln: „Ich habe aber auch nicht schlecht verdient. Und außerdem waren da | |
noch der Produzent, der Regisseur, der Redakteur und der WDR …, das war ich | |
ja nicht allein …“ | |
Eisbären und Mäuse: Doch Sinan Güngör ist es gewesen, der Lars zum Laufen | |
brachte. Bis die Filmbranche [2][den kleinen Eisbären] entdeckte, | |
existierte der Polarkreisbewohner nur in den Büchern des holländischen | |
Kinderbuchautors Hans de Beer. Anfang der 90er flog der Holländer nach | |
Japan, wo in einem Trickfilmstudio erste Probeaufnahmen mit Lars gemacht | |
wurden. Hans de Beer sah sich die Entwicklung seines künftigen Filmstars an | |
und schüttelte nur den Kopf: „Auf keinen Fall! Das ist doch nicht mein | |
Eisbär!“ Da erinnerte sich jemand beim WDR an Sinan Güngör und den Grafen | |
und sie beauftragten die beiden, den Eisbären aus dem Kinderbuch auf die | |
Filmleinwand zu bringen und ihm eine Seele einzuhauchen. | |
Zusammenarbeit: „Der Graf war so ein Mensch, der sich nicht mit jedem | |
gleich anfreundete.“ Bei ihm, Sinan Güngör, sei es anders gewesen. Der Graf | |
habe gewusst, dass er sich auf ihn verlassen konnte. Als Güngör nach dem | |
Studium in Izmir war, um dort einen Lehrstuhl für Animation einzurichten, | |
rief der Graf aus Deutschland an. Er habe da ein Großprojekt, „Aladins | |
Wunderlampe“, eine arabische Fernsehserie. Der Graf sollte Regie führen, ob | |
Sinan nicht kommen und mitarbeiten wolle. Güngör kam. Die Zusammenarbeit | |
der beiden Männer im Studio in der Berliner Kurfürstenstraße zog sich über | |
Jahre hin. Alle paar Monate tauchte der Chef des irakischen Senders in | |
Berlin auf, sah nach dem Rechten und beäugte die hübschen Mitarbeiterinnen | |
im Berliner Trickfilmstudio. | |
Kreuzberg: Im Jahr 1986 zog Güngör mit der frisch gegründeten | |
Produktionsfirma Rothkirch Cartoon-Film nach Berlin-Kreuzberg in ein | |
verklinkertes Hinterhaus. Bis zu 20 Mitarbeiter zeichneten, kopierten, | |
fotografierten und animierten Bilder zu Filmen. Solche Filme entstehen in | |
Teamarbeit. Sinan Güngör war Chefzeichner und heimlicher Star der Truppe, | |
spätestens seit dem kleinen Streifen über Otto, den Straßenhund. | |
Der Hund: Einem Redakteur beim WDR hatte der kleine Film über den | |
Straßenköter so gut gefallen, dass er Elke Heidenreich fragte, ob sie dem | |
Hund nicht ihre Stimme leihen wolle. Die Autorin mit ihrem Bestseller über | |
einen schwarzen Kater sagte, so etwas sei eigentlich nichts für sie. Zwei | |
Tage später rief sie an: „Dieser Otto ist doch meine Inkarnation! Den mache | |
ich!“ | |
Die Maus: Der kleine Streifen wurde ein Erfolg, und als man einen neuen | |
Zeichner für die Maus aus der [3][Sendung mit der Maus] brauchte, fragte | |
man Sinan Güngör, ob er außer Hunden und Eisbären nicht auch Mäuse zeichnen | |
könne. „So kam die Maus nach Kreuzberg!“ Fortan zeichnete Güngör vor all… | |
Mäuse, lieferte Ideen zu den kleinen Streifen, schrieb hin und wieder | |
selbst das Storyboard und die Texte. Aber die berühmteste Figur aus der | |
Bergmannstraße war Lars. | |
Der Bär: Lars berührte nicht nur die Herzen der Kinder, sondern auch die | |
der Juroren in aller Welt. Im Jahr 2003 wurde der kleine Eisbär sogar für | |
den Emmy nominiert. Lars räumte Preis um Preis ab. „Wir hätten nie | |
geglaubt, dass das so ein Erfolg wird. Aber der Lars brauchte überhaupt | |
nichts zu machen, der brauchte nur dazustehen und zu gucken, und schon | |
waren die Leute begeistert.“ In zwanzig Jahren seien in den Studios in der | |
Bergmannstraße sicher mehr als hundert Zeichentrickfilme entstanden, sagt | |
er. „Aber die kreativen Zeiten Kreuzbergs gehören der Vergangenheit an.“ | |
Die Künstler der 80er und 90er wurden von subventionierten Start-ups | |
verdrängt. Wo einst Kunstfertigkeit und Ideenreichtum zählten, rechnen und | |
entwickeln heute Computer. „Es gibt noch ein paar Einzelkämpfer, die sich | |
in kleinen Hinterhofwohnungen irgendwie durchschlagen, aber die großen | |
Studios sind alle schon weg.“ | |
Das Lächeln: Und die Zeichentrickfiguren haben das Laufen schon wieder | |
verlernt. Ihre einst so geschmeidigen Bewegungen wirken heute angesichts | |
der digitalen Entwicklung holprig und unwirklich. Oft fehle, findet Güngör, | |
sogar der Humor. „Und ohne Humor kann man keine Karikaturen zeichnen.“ Aber | |
Humor könne man nicht lernen. Genauso wenig wie Gemütlichkeit. Man könne so | |
eine Figur wie den Lars nicht zeichnen, wenn man nicht selbst gemütlich | |
ist. „Ich bin gemütlich“, sagt Sinan Güngör und zieht die Augenbrauen ho… | |
„Sehr gemütlich sogar“, sagt er und lächelt wieder. | |
19 Mar 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://de.wikipedia.org/wiki/Thilo_Graf_Rothkirch | |
[2] https://de.wikipedia.org/wiki/Der_kleine_Eisb%C3%A4r | |
[3] https://de.wikipedia.org/wiki/Die_Sendung_mit_der_Maus | |
## AUTOREN | |
Hans Korfmann | |
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