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# taz.de -- Der Hausbesuch: Sie will kein schmutziges Geld
> 14 Jahre hat Yang Ge in Moskau gelebt, dort war sie Schauspielerin,
> Sängerin und Model. Weges der russischen Invasion fängt sie nun in Berlin
> neu an.
Bild: Yang Ge kam in der Wohnung eines Kunstsammlers unter. Sie zahlte ihm die …
Nicht das Gesetz allein entscheide über dein Verhalten, „sondern auch du
selbst“, sagt die Sängerin und Schauspielerin Yang Ge.
Draußen: Gegenüber des Hauses, in dem Yang Ge Zuflucht gefunden hat, ist
das Gelände [1][der Topographie des Terrors]. Harmlos sieht es aus mit den
wuchernden Bäumen. Doch während der NS-Zeit von 1933 bis 1945 waren hier,
mitten in Berlin, die wichtigsten Terrorzentralen der Nazis. Die Geschichte
des Ortes vibriert, bis in die oberste Etage von Yang Ges Haus.
Drinnen: Alle Wände sind behängt mit Gemälden. Moderne Kunst ist es. Rohes,
Geschundenes, grob Aufgemaltes. Mitunter in knalligen Farben. Die Etage
gehört einem Kunstsammler und Theatermäzen. Er bleibe lieber inkognito,
wohne derzeit in seinem Haus auf dem Land, sagt Yang Ge. Sie ist im Jahr
2020 schon mal hier untergekommen. Als Russland den Krieg in der Ukraine
begann, kam sie wieder hier her. Andere Kulturschaffende, die Russland
verlassen mussten, leben derzeit auch in der Etage. Weil Yang Ge kein Geld
für die Miete hatte, malte sie Bilder und bezahlte so.
Die Bilder: An der Wand gegenüber der Eingangstür hängen Yang Ges Gemälde.
Da ist ein Frida-Kahlo-Porträt, auf dem diese mit Blumen und Vögeln umgeben
ist. Da ist ein Mädchen mit dem Perlenohrring. Nur dass sofort klar ist,
das es sich um Selbstporträts handelt. Yang Ge hat sich selbst gemalt, im
Outfit der anderen. Es sind ihre hohen Wangenknochen; es sind ihre dunklen
Augen. Sie sind schmaler als die von Frida Kahlo, und nicht blau wie bei
Vermeer.
Die Koordinaten: Yang Ge ist in Peking aufgewachsen. Nach der Schule ging
sie nach Moskau. Sie sollte Dolmetscherin werden, hatte ein Stipendium.
„Sollte“, das kündigt schon eine Planänderung an.
Ein Star: Wäre der Überfall Russlands auf die Ukraine nicht, Yang Ge würde
in Moskau ein mondänes Leben führen. [2][Auf Tiktok hat sie] 2,8 Millionen
Follower. Sie zeigt sich dort perfekt inszeniert und gestylt. Ihre Finger
voller Ringe, ihre Fingernägel lang. Geld spielte in Moskau zuletzt keine
Rolle. Sie sagt: „Ich bin so eine Art Star in Russland.“ Besser: Sie war
es, bis die Weltlage sich änderte.
China: Yang Ge wird 1988 geboren. Ihre Mutter ist Beamtin und
alleinerziehend. Aber das sei nur die halbe Wahrheit. „Vom Herzen her war
meine Mutter Sängerin.“ Nur habe sie keine guten Erfahrungen gemacht. „Wenn
du Sängerin bist, sind es immer die anderen, die über dich entscheiden“,
warnt die Mutter die Tochter. „Besser, du lernst etwas, wo du die
Kontrolle hast und nicht kontrolliert wirst.“ So kommt es, dass Yang Ge
Russischdolmetscherin wird. Nein, richtig: werden soll.
Russland: Mit sämtlichen Klischees im Gepäck macht sie sich zwanzigjährig
auf den Weg nach Moskau. „Alle Russen trinken. Der Bär tanzt auf der
Straße. Es gibt die Mafia. Und es ist kalt.“ Ihre Mutter verlangt, dass sie
zwei Hosen und drei Pullover übereinander zieht, als sie im Winter dort
hinfährt. Yang Ge schwitzt, als sie ankommt, und Bären sieht sie auch
keine. Positiv fällt ihr aber bald auf, was sie „dieses europäische Ding“
nennt. Sie meint damit, dass die Leute sagen, was sie fühlen. „In China ist
es schlecht, wenn man zeigt, wie es einem geht. Bist du traurig, ist das
deine eigene Sache.“ Die Deutschen findet sie übrigens noch direkter.
Manchmal spürt sie Scham aufsteigen, wenn Leute zu offen sind.
Fragen: „Können Sie sich vorstellen, was für eine Herausforderung Russisch
für chinesisch sprechende Leute ist?“, fragt sie. Nach drei Jahren in
Russland hat sie die Sprache einigermaßen im Griff. Da ist sie längst nicht
mehr auf der Dolmetscherschule. „Nach dem ersten Jahr in Moskau habe ich
Leute getroffen, die mich fragten: ‚Was willst du wirklich tun?‘“
Die Liste: Auf einem Stück Papier schreibt sie alles auf. Und am Ende kommt
raus: Schauspielerin, Sängerin, Modedesignerin. „Okay, wenn es das ist,
dann los.“ Yang Ge bewirbt sich an der Filmschule in Moskau, dem
Gerassimow-Institut für Kinematographie. Renommierter geht es nicht. „Da
war ich, ein Mädchen von nirgendwo, das zum Vorsprechen kam.“ Keine Chance,
denkt sie, und wird doch angenommen. „Die erste Chinesin überhaupt.“ Viele
sind geschockt „Wie kannst du nur?“ Wie könne sie nur Sicherheit gegen
Unsicherheit tauschen, meinen sie. Kommt hinzu: Die Schule kostet viel
Geld. Einzig die Mutter versteht. „Wenn es das ist, was du tun willst, dann
treibe ich das Geld auf“, sagt sie. Was Yang Ge nicht weiß: Die Mutter
verkauft deswegen ihre Wohnung in Peking.
Hunger: Sie kann heute nicht mehr sagen, wie sie das erste Jahr am
Filminstitut überstanden hat, denn das Geld der Mutter reicht eigentlich
nur für die Schule. Aber schon bald bekommt sie kleine Rollen und kann sich
über Wasser halten. 2014 schließt sie die Filmschule ab. Jemand schlägt ihr
vor, sich bei der russischen Version von „The Voice“ zu bewerben. [3][Ihre
Stimme so mächtig]. „Gewinnst du, bist du fein raus.“ Sie kommt bis in die
Endrunde. Zwar entgeht ihr die Siegesprämie, aber danach hat sie mehr
Anfragen. „Ich habe alles gemacht, gesungen, Regie, geschauspielert,
kommerzielle Sachen, Werbung.“
Die Pest: Mit dem Gogol-Theater kommt sie im Frühjahr 2020 nach Berlin für
eine Co-Produktion mit dem Deutschen Theater. Das „Decamerone“ wird
gegeben. Die Stückwahl wirkt wie Hellseherei. Als im 14. Jahrhundert in
Florenz die Pest grassierte, zogen sich zehn junge Leute auf einen Landsitz
zurück und schrieben kleine Geschichten: Diese zusammengefasst sind das
Decamerone. „Am 8. März 2020 [4][war Premiere in Berlin]. Kurz danach kam
es zum Lockdown.“ Sie kann nicht mehr nach Russland mit dem chinesischen
Pass.
Gestrandet: „Ich war in Berlin, kam nicht weg“, sagt sie. Kein Ort, keine
Sprache, keine Möglichkeit, Geld zu verdienen. Die Theater geschlossen. Der
anonyme Kunst- und Theatermäzen nimmt sie das erste Mal in seiner Wohnung
auf. Sie beginnt ohne zu zögern zu malen. Gelernt hat sie es nicht, aber
sie kennt sich mit Make-up aus und wie man Gesichter stylt. Influencerin
ist sie doch auch. „Aber Influcencen ist keine richtige Kunst. Du musst es
nicht lernen. Wenn du aufhörst, wirst du vergessen.“
Lockdown: Berlin ist für Yang Ge wie eine Chance, wieder von vorne zu
beginnen. Sie dreht eine Miniserie: „Can’t leave, can’t stay.“ Und imme…
trifft sie in den Monaten bis Ende 2020, als sie wieder zurück nach Moskau
kann, ihren heutigen „Boyfriend“. „Ich hatte Shorts an und wollte mich
nicht ins Gras setzen im Park. Er bot seine Decke an. Er war eigentlich
nicht mein Typ.“
Zurück in Moskau: Nach dem Lockdown geht es mit ihrer Karriere in Russland
bergauf. Sie spielt, sie performt, sie dreht Filme, sie modelt. Und dann
ist der 24. Februar 2022. Sie ist in Mailand bei einer Modenschau, als der
Krieg in der Ukraine beginnt. „Ich war geschockt. Ich kam wegen der
Sanktionen nicht mehr an mein Geld.“ Ihr Freund holt sie ab.
Entscheidung: Sie fährt noch einmal zurück nach Moskau. Dort storniert sie
Aufträge, die ihr 300.000 Euro eingebracht hätten. Auch löst sie ihr
Appartement auf. „Meine 300 Paar Schuhe. Meine Parfümsammlung, die 100.000
Euro wert war.“ Sie geht. „Ich will den Krieg nicht unterstützen. Ich will
nicht, dass mit meinen Steuern jemand getötet wird“, sagt sie. Niemand
verstehe, dass sie so handele. Selbst ihr Freund tue sich schwer. „Ich will
kein schmutziges Geld. Ich stehle nicht; ich betrüge nicht; ich schlafe
mich nicht hoch. Ich kann meiner Mutter kein Haus kaufen, indem ich mich
prostituiere.“
Neuanfang: Nun versucht Yang Ge, in Deutschland Fuß zu fassen. Im Frühjahr
hat sie ein Engagement am Thalia Theater in Hamburg. „Ich liebe Freiheit.
Ich mache, was ich richtig finde“, sagt sie. „Deshalb mögen mich die
Leute.“
19 Feb 2023
## LINKS
[1] /Topographie-Direktor-Andreas-Nachama/!5648747
[2] https://www.tiktok.com/@yanggemadeinchina/
[3] https://www.youtube.com/watch?v=hobiagBmLi4
[4] /Kirill-Serebrennikovs-Stueck-fuer-Berlin/!5667194
## AUTOREN
Waltraud Schwab
## TAGS
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