# taz.de -- Der Hausbesuch: Mensch sein ist schwierig und schön | |
> Für die Sängerin Inger Nordvik ist das Zuhause mehr als ein Ort. Zuhause | |
> kann auch ein Lied sein oder eine Art zu leben. | |
Bild: Inger Nordvik auf ihrem Sofa in Berlin-Neukölln. Einst kam sie aus Nordn… | |
Sie könne nicht sagen, wie es ist, ein Lied zu schreiben. Das sei so | |
subtil. Aber wenn es dann im Studio produziert wird, ist es konkreter und | |
fürs Konkrete fänden sich Worte leichter. Viel wichtiger aber sei ohnehin: | |
Ist ein Lied fertig, gehöre die Musik nicht mehr nur ihr. | |
Draußen: In Neukölln lebt Inger Nordvik. Unweit der Sonnenallee. Die | |
Sonnenallee wurde nicht nur verfilmt. Zuletzt war sie in der Silvesternacht | |
in den Schlagzeilen. Schlimm war es. Das Wort „[1][Bürgerkrieg]“ fiel. In | |
der unmittelbaren Parallelstraße zur Sonnenallee, dort wo die Sängerin | |
wohnt, war es in der Silvesternacht ruhiger. Es wirkt vorstädtisch hier. | |
Auf der Straße ist niemand zu sehen. | |
Drinnen: „Minimalistisch“ nennt Inger Nordvik die Einrichtung der Wohnung. | |
Ein schwarzes Klavier, ein Sofa in Beige, ein kleines Regal, ein moderner | |
Ofen, wo dem Feuer zugeschaut werden kann. Die Pfauenfeder, die hinterm | |
Regal hervorlugt, ist wie barocke Opulenz im kargen Interieur. Es ist die | |
Wohnung von Inger Nordviks Freund. Sie ist zu ihm gezogen. Die Kartons, die | |
im Flur stehen, wirken, als wären sie noch vom Umzug übrig geblieben. Das | |
täuscht. In einem sind die CDs, im anderen die Schallplatten von Inger | |
Nordviks neuem Album. | |
Minimalismus: Minimalistisch ist auch die Musik, die Inger Nordvik macht. | |
Mitunter mutet es an, als suche sie nach dem Moment, wo Nichtmusik zu Musik | |
wird. Wo Stille klingt. Wo der Wechsel zwischen Dur und Moll, subtil zwar, | |
aber doch als Schock daher kommt. Wo jazzig Unsymmetrisches plötzlich | |
atmosphärisches Rauschen ist. Ihre Musik ist reduziert, aber nicht | |
erwartbar. Ihre Musik ist wie die Wohnung: In einer Umgebung ohne | |
Farbexzesse sticht doch hin und wieder eine Pfauenfeder hervor. | |
Wind: Inger Nordvik hat „Norden“ im Namen. Und sie wurde in „Nordnorwegen… | |
geboren. Gefragt, warum sie „Nordnorwegen“ so betont, ja gar etwas wie | |
Stolz mitschwingt, wenn sie es sagt, verweist sie auf das langgestreckte | |
Land und dass es im Norden ganz anders sei als im Süden. „In Nordnorwegen | |
sind die Kontraste so stark.“ Licht – Dunkelheit. Berge – Meer. Der | |
schwarz-weiße Winter und der farbige Sommer. Mitternachtssonne und | |
Winterdunkel. Die Stille in der Natur – und ihr Krach, das Rauschen der | |
Flüsse, der Sturm. Morgens Sonne, mittags Regen, abends Nebel oder | |
umgekehrt mit Gewitter und Schnee. „Ständig wechselt der Wind.“ | |
Freiheit: Sie fühle sich so frei in ihrer Heimat. „Mit Kontakt zur Natur, | |
zu den Elementen.“ Auch bereite es ihr große Freude, alleine unterwegs zu | |
sein, zu wandern, Langlauf zu machen. Ob sie überleben könne in der | |
Abgeschiedenheit? Feuer machen, Angeln, das ja, „aber wenn die Welt | |
untergeht, darauf bin ich nicht vorbereitet.“ | |
Harstad: Nordvik ist mit drei Geschwistern in Harstad aufgewachsen. Einer | |
Kleinstadt am Meer, 24.000 Einwohner und Einwohnerinnen, 250 Kilometer | |
nördlich des Polarkreises. Ihre Mutter ist Lehrerin und kommt aus Oslo, aus | |
dem Süden Norwegens. Im Winter setzt sie sich vor eine Tageslichtlampe, | |
weil sie die stete Dunkelheit, tagsüber bestenfalls Dämmerung, sonst nicht | |
aushält. Der Vater ist Pfarrer. Einer, der gern Jazz und Rock hört, erzählt | |
die Musikerin. Das Religiöse habe keinen so großen Einfluss; das sei ein | |
Job. „Mein Vater ist ein Liberaler.“ Es passiert im Gespräch mit Inger | |
Nordvik öfter, dass sie ein Wort sagt, vorher „Wind“, jetzt „Liberaler�… | |
und dann schwingt etwas Ungesagtes mit. | |
Kirchenlieder: Aber klar, sie sei häufig in der Kirche gewesen. Und dazu | |
die Musik. Die „nordnorwegischen religiösen Lieder, mit ständigem Wechsel | |
von Dur und Moll“, das habe immer zu ihrem Alltag gehört. „Eigentlich mit | |
viel Moll, viel Gefühl.“ Die Lieder seien mündlich tradiert worden, und | |
hätten sich so stetig verändert. „Dadurch entsteht Spontanität und die | |
Fragen zum Leben und so, die besungen werden, bekommen auch etwas | |
Leichtes.“ Durch die Kirche wird Musik in ihrem Leben selbstverständlich. | |
Zu Hause gibt es ein Klavier. Gesangsunterricht hat sie auch. „Und ja, über | |
Existenzielles habe ich auch mehr nachgedacht.“ | |
Aufbruch: „Wenn man an so einem Ort aufwächst, fragt man sich aber, was | |
gibt es noch.“ Sie jedenfalls ist neugierig, und als sie zum ersten Mal in | |
Paris ist, findet sie es umwerfend. Sie betrachtet das Urbane wie eine | |
Ethnologin. „Wie leben die Leute da? Was ist das für ein Leben mit diesem | |
Chaos, diesen Gegensätzen im Menschlichen? Das fand ich spannend.“ Sie | |
beschließt: Nach der Schule geht sie weg. 2007 ist es so weit. | |
Eine Frage des Zuhauses: Erst zieht sie nach Oslo, studiert dort | |
klassischen Gesang. „Für mich war Musik meine Liebe. Aber wenn man | |
studiert, geht es auch um Präzision und Performance. Und um die Frage, | |
‚möchte ich eine von vielen oder die Beste sein?‘“ Ihre Liebe zur Musik | |
jedenfalls habe ihr ermöglicht, weiter zu gehen. Sie hat immer eigene | |
Lieder geschrieben und komponiert, „diese kreative Seite hat dann | |
übernommen. Und ich dachte, vielleicht ist Musik schreiben, komponieren, | |
und dann aufführen die Seite, wo ich mich zu Hause fühle.“ Sie hat ihre | |
eigenen Lieder dann vor kleinem Publikum probiert, war wahnsinnig | |
aufgeregt, „weil das was anderes ist, als Musik zu interpretieren.“ Was sie | |
machte, kam an. Aber ihr erstes Album „Time“ fällt genau mit dem Beginn der | |
Pandemie zusammen. Alle Konzerte werden abgesagt. Ihr zweites, das sie | |
während der Pandemie in Nordnorwegen schreibt, wohin sie sich mit ihrem | |
Freund zurückzog, heißt folgerichtig: „Hibernation“ – Winterschlaf. | |
Berlin: Nach dem Studium 2013 arbeitet sie erst als Sängerin und Lehrerin. | |
Weil sie aber weiter studieren will, Barockmusik nämlich, kommt sie | |
schließlich nach Berlin. Die Stadt fängt sie ein. „Berlin repräsentiert f�… | |
mich diese Freiheit von früher und bedient auch meine ‚Neugierigkeit‘ in | |
Bezug auf das Chaos und die Herausforderungen in einer Gesellschaft“, sagt | |
sie. | |
Chaos: Sie findet, Chaos ist ein Motor. Im Chaos müsse man sich dem | |
Ungewissen öffnen. „Wenn Kulturen, Sprachen, Gewohnheiten | |
aufeinandertreffen, kann das zwar stressig sein, doch dann kann ich mich | |
entwickeln.“ Aber klar, sie brauche auch das Gegenteil, den Rückzug. | |
Texte: All diese Gegensätze tauchen in ihren Liedern auf. Sie besingt | |
mutige Frauen und Männer, sie besingt Einsamkeit, sie besingt die Natur | |
angesichts des Klimawandels. „In Nordnorwegen ist die Natur übermächtig und | |
der Mensch klein. In Sachen Klimawandel aber glaubt der Mensch, er sei groß | |
und die Natur klein.“ Sie hält das für einen Irrtum. | |
Die großen Fragen: Eines ihrer Lieder trägt den Titel „Elser“. Es ist Geo… | |
Elser, dem Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, gewidmet. | |
Warum? „Weil ich mich frage, wie viel ich bereit wäre, für meine Freiheit | |
zu opfern.“ Nur, eine Antwort gibt es auf diese Frage nicht. „Ich glaube | |
sowieso, es ist schwierig, ein Mensch zu sein“, sagt Nordvik. Wieso glaubt | |
sie das? „Es ist beides, schwierig und schön.“ | |
9 Apr 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://www.tagesspiegel.de/berlin/ist-das-noch-silvester-oder-schon-burger… | |
## AUTOREN | |
Waltraud Schwab | |
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