# taz.de -- Der Hausbesuch: Endlich wieder singen können | |
> Vom „Ballermodus“ ins Bett – und wieder auf die Bühne? Ein Besuch bei | |
> Sonja Trautmann, die an Post-Covid erkrankt ist. | |
Bild: Sonja Trautmann, auch Sæm genannt, ist Ärztin und Musikerin | |
Am Anfang hat sie das Gefühl, ihre ganze Persönlichkeit sei unter dem | |
„Brain Fog“ begraben: kein klarer Gedanke, wie im Fieber. Sæm, wie die | |
36-jährige Sonja Trautmann genannt wird, ist Musikerin, Ärztin und an | |
[1][Post-Covid erkrankt]. Sie erzählt von „Tagen nur mit sich selbst im | |
Dunkeln“. Sie erzählt heute aber auch von den Schallplatten, die sie | |
endlich wieder hören kann, von länger werdenden Spaziergängen, von | |
Hoffnung. | |
Draußen: Fünf Stufen sind es bis ins Hochparterre. Nur fünf, deswegen ist | |
Sæm hier eingezogen. Vorher hat sie in einer Dachgeschosswohnung gelebt, | |
das ging dann nicht mehr. Jetzt kann sie aus ihrem Fenster in den Hinterhof | |
steigen, quasi nur eine Stufe, der sich bis zum städtischen Gymnasium | |
erstreckt. Im Hochbeet wachsen Radieschen – es ist ein Gemeinschaftsgarten, | |
aber um die Hochbeete kümmert Sæm sich: „Die anderen haben einen Alltag, | |
ich bin zu Hause.“ | |
Drinnen: Auf der Küchenzeile steht der rosa Reiskocher, digital und mit | |
Dämpfeinsatz für Gemüsebeilagen, den sie gekauft hat, damit sie nicht immer | |
Reis mit Frischkäse essen muss. Für aufwendigeres Kochen fehlt die Kraft. | |
Erst zwei Wochen wohnt sie hier, aber das sieht man nicht. Auf dem | |
Holztisch das Missy Magazine, an der Wand kleine Bilder, in der Dusche ein | |
Hocker, zum Ausruhen. Irgendwann, wenn sie wieder öfter rausgehen kann, | |
will sie einen eigenen Hund haben. Bis dahin ist ihr „Sitterhund“ von | |
gegenüber dreimal die Woche bei ihr, der schwarz-weiß gemusterte Mischling | |
bellt, wenn jemand durchs Treppenhaus läuft, und liegt sonst mit ihr auf | |
dem grauen Sessel, von dem aus man auf die Hochbeete schaut. | |
Vorher: Sæm ist in Hamburg aufgewachsen, zwischen Blankenese und Ottensen, | |
Einfamilienhaus und Waldorfschule. „Ein bisschen bonzig“, sagt sie. Danach | |
ein Medizinstudium in Düsseldorf und der Ruhrgebietsstadt Witten, wo sie | |
bis heute lebt. Nach zwei Jahren Arbeit als Ärztin in einer Psychiatrie | |
folgt eine Stelle an der Universität, nebenbei eine Elektropop-Band, Songs | |
schreiben, ein Festival organisieren, ein Vereinsvorstandsposten, Konzerte, | |
Jiu-Jitsu, Radfahren. „Ballermodus“, nennt sie das rückblickend, „nicht | |
gesund“. Im November 2021 bekommt Sæm das erste Mal Corona. Sie erholt | |
sich nie wieder davon. | |
Nachher: Als ob die Schwerkraft stärker auf sie wirke, so fühle sich die | |
Fatigue an. Und dann der „Brain Fog“: keine klaren Gedanken, wie im Fieber. | |
Bei Sæm hat Covid-19 die neuroimmunologische Erkrankung ME/CFS ausgelöst. | |
Auch eine starke Belastungsintoleranz, Herzprobleme und | |
Konzentrationsstörungen gehören zu ihren Symptomen. Ein Formular ausfüllen, | |
zwei Überweisungen machen – dann Übelkeit, Kopfschmerz, „Brain Fog“: So | |
sieht ein Crash aus. In ihrem schlimmsten Crash verlässt Sæm die Wohnung | |
zwei Wochen nicht. Phasen der Erkrankung verbringt sie im Bett, | |
Körperpflege und Essen sind ein Kraftakt. Weil sie nicht mehr gut laufen | |
kann, fährt sie mit dem City-Roller – einem, wo man noch selbst Anschwung | |
geben muss. Aber auch alle E-Roller-Apps hat sie auf dem Smartphone, sodass | |
sie bis zum Stadtpark fahren und dort spazieren kann. | |
Die Blutwäsche: Ein Jahr nach ihrer Corona-Infektion werden in einer | |
Kardiologiepraxis Autoantikörper aus Sæms Blut gefiltert – für 17.000 | |
Euro. Zahlen muss sie selbst, die Krankenkasse übernimmt das Verfahren | |
nicht. Es gibt für ME/CFS und Post-Covid noch keine Therapie, die durch | |
Studien abgesichert und zugelassen ist. Sie probiert auch ein Medikament, | |
eigentlich als Antipsychotikum zugelassen, das im „Off-Label-Use“ in | |
geringerer Dosis gegen Entzündungsprozesse im Gehirn wirken soll. Sie kann | |
wieder laufen, der „Brain Fog“ wird weniger, ihre Augen besser. Sæm betont, | |
wie privilegiert man sein muss, um Hilfe zu bekommen: medizinisches Wissen, | |
Geld für die Behandlungen. | |
Die Umzüge: Zweimal zieht sie um, nachdem sie erkrankt ist. Einmal aus der | |
Wohnung, die über ihrem Lieblingscafé liegt, in dem alle anderen weiter ein | |
und ausgehen, nur Sæm nicht. Davor eine Baustelle, den Lärm hält sie nicht | |
aus. Ihre „unüberlegte Idee“: eine Wohngemeinschaft zu zweit – im fünft… | |
Stock. Damals denkt sie noch, sie komme aus der Reha zurück und sei wieder | |
gesund. Die Treppen werden zu viel, das WG-Leben auch. „Ich habe so viel | |
Raum eingenommen mit meiner Erkrankung, ich war ja immer zu Hause.“ Dann | |
wird die Wohnung im Hochparterre frei, ein Zimmer, Küche, Bad, mit | |
Gemeinschaftsgarten, ohne viele Stufen. | |
Die Pausen: Neben den Radieschen im Hochbeet wachsen von Schnecken | |
angefressene Erdbeerpflanzen, von den Früchten sieht man noch nichts. | |
Selbst Samen ziehen hat Sæm nicht geschafft, sondern die Setzlinge im | |
Supermarkt gekauft. 25 Minuten etwas machen, dann eine Pause. So gelingt | |
ihr jetzt der Alltag. Pause heißt: kein Hörbuch, keine Musik, sondern nur | |
liegen, im Dunkeln. Etwas machen heißt: Essen zubereiten, am Laptop oder im | |
Garten arbeiten, eine Schallplattenseite hören, lesen – endlich wieder. Als | |
erstes „Detransition, Baby“ von Torrey Peters, für ihren feministischen | |
Lesekreis. | |
Der Puls: Sæm hofft, irgendwann wieder länger als 25 Minuten am Stück | |
arbeiten zu können, vielleicht sogar von zu Hause aus als ärztliche | |
Beratung am Telefon – für Post-Covid-Patient*innen. Sie schaut auf die | |
Smartwatch an ihrem Handgelenk, die ihren Puls misst. Bei einer | |
Herzfrequenz über 106 muss sie eine Pause machen – „und das ist schnell | |
erreicht“. Aber heute ist ihr Puls ruhig, nur ein paar Mal sind die Linien | |
auf dem kleinen Bildschirm, der ihr Stresslevel anzeigt, im roten Bereich. | |
Die Uhr zählt auch ihre Schritte: Vor der Blutwäsche waren es vielleicht | |
2.000 Schritte am Tag, danach um die 7.000. Und gestern 11.000, durch den | |
ganzen Stadtpark ist sie mit dem „Sitterhund“ gelaufen, ohne City-Roller. | |
Die Kommentare: In den Musikvideos ihrer Band läuft Sæm durch Wälder, tanzt | |
auf Hügeln, mit durchgehenden Pferden. Das letzte wurde zwei Monate vor | |
ihrer Corona-Infektion gedreht. Erst nach der Blutwäsche erträgt sie es | |
wieder, sich selbst im Video zu sehen, und teilt auf Instagram ihre | |
Erkrankung. [2][Viele lernen von ihr.] Andere schreiben, dass es Post-Covid | |
nicht gebe, sie und die anderen Erkrankten nur faul seien, nicht arbeiten | |
wollen, in die Psychiatrie gehören. „Dass wir zu Hause bleiben, ist eine | |
Provokation für Menschen“, sagt Sæm. „Wir sind nicht produktiv.“ Das ma… | |
die Leute aggressiv, vielleicht auch neidisch. Dabei verzweifle man am | |
Zuhausebleiben. Und dann die Kommentare, die es gut meinen: „Geh doch mal | |
mehr raus, trink mehr Wasser, mach doch mal Yoga und eine Psychotherapie.“ | |
Das hört Sæm oft. „In einem Crash muss ich einfach liegen“, sagt sie und | |
knipst das Küchenlicht aus, wegen der Reizempfindlichkeit. | |
Die Sichtbarkeit: Sæm kann wieder 11.000 Schritte an einem guten Tag gehen, | |
aber jede*r Vierte mit [3][ME/CFS] verlässt die eigenen vier Wände gar | |
nicht mehr. Was bedeutet das für öffentliche Sichtbarkeit, | |
Forschungsgelder, Aufklärung? „Wir finden trotzdem Wege“, erzählt Sæm: | |
online, aber auch liegend vor dem Bundestag wie zuletzt am 12. Mai, sie | |
ist per Zoom zugeschaltet. Wenige Tage später kündigen die | |
Gesundheitsminister der G7-Länder eine [4][Forschungsinitiative zu Long | |
Covid] an. | |
Die Musik: Seit drei Monaten kann Sæm wieder singen. Und dann, Ende April: | |
das erste Mal wieder Bühne, für einen einzigen Song im Duett mit der | |
Indie-Pop-Sängerin Lota. Nach dem Soundcheck legt sie sich einige Stunden | |
hin, nach dem Konzert den ganzen Tag. Aber am Mikrofon erinnert sie sich an | |
den Text, trotz der Angst. „Sæm ist zurück“, sagt später ein Freund zu i… | |
Ganz zurück will sie aber nicht, kein „Ballermodus“ mehr, kein Ausbrennen. | |
Ihre Band hat sie aufgegeben. Wie gehen Behinderung und Künstlerin sein | |
zusammen? | |
Die Sache mit der Hoffnung: Irgendwann im Sommer soll ein Song von Sæm | |
erscheinen, „ohne Deadline, ohne Ballermodus“. „In hope for resurrection�… | |
heißt es im Refrain – in Hoffnung auf Auferstehung. Denn Grund zur Hoffnung | |
hat Sæm. Nicht, dass sie geheilt wird, dass alles weggeht. Zu viel | |
Hoffnung, das sei „tricky“. Stattdessen eine gute Dosis. Aber so viel, dass | |
sie im Tierheim schon mal nach Hunden schaut, vielleicht wird es ein | |
Dackel. | |
6 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Jolinde Hüchtker | |
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