# taz.de -- Elon Musk und das X: Was „Longtermismus“ bedeutet | |
> Kritiker*innen bezeichnen die Strömung als „Eugenik unter anderem | |
> Namen“. Doch nicht nur Musk ist fasziniert von der Idee des | |
> Longtermismus. | |
Bild: X-Logo in San Francisco | |
„Ich mag den Buchstaben X“, postete Elon Musk am 23 Juli – dem Tag, an dem | |
das holprigen Rebranding des Kurznachrichtendienstes Twitter zur | |
„Everything App“ X begann. | |
SpaceX, der Tesla X, Elon Musks Sohn X und sein Unternehmen Neuralink, | |
dessen Logo eine verspielte Version des X ist – Musk liebt das X. Auch, | |
weil es eine zentrale Rolle in der [1][Longtermismus Bewegung] einnimmt, | |
die aktuell die Begeisterung [2][der Mächtigsten im Silicon Valley] weckt. | |
Elon Musk, Jeff Bezos, Facebook-Mitbegeründer Dustin Moskovitz – sie alle | |
stehen öffentliche zu der Ideologie, deren Grundannahme es ist, zukünftige | |
Menschenleben seien gleichwertig mit den heutigen. | |
Aus einer kruden utilitaristischen Logik leiten die Longterministen ab, | |
dass es eine höhere moralische Pflicht sei, gegenwärtig alle nötigen | |
Schritte einzuleiten, um zu ermöglichen, dass es in Zukunft mehr | |
„glückliche“ Menschen gibt, als direkten positiven Einfluss auf die | |
real-existierenden Menschen auszuüben. Die Ideologie dient denen, die durch | |
den fossilen Kapitalismus reich geworden sind dazu, ihre Verantwortung für | |
gegenwärtige Krisen abzuwenden. | |
Der Longtermismus ist eng mit dem Effektiven Altruismus verbunden, dessen | |
Grundsatz es ist, die knappen Ressourcen Zeit und Geld möglichst effizient | |
auf das Lösen von gesellschaftlichen Problemen anzuwenden. Ein gängiges | |
Argument ist, dass es moralisch besser sei, in einer hohen Position in | |
einem fossilen Unternehmen zu arbeiten, um anschließend größere Mengen an | |
Organisationen spenden zu können, die sich „gegen den Klimawandel“ | |
einsetzen. | |
## Pseudophilosophische Studien | |
Der erst jüngst populär gewordene Fokus auf die entfernte Zukunft, die der | |
Longterminismus verfolgt, hat dem Gutmenschentum der seit den frühen 2000er | |
Jahren gewachsenen Gruppe an Effektiven Altruisten eine neue Ausrichtung | |
verpasst. Die gängigen Themenfelder Kindersterblichkeit, Bildung, | |
Entwicklungshilfe sind aus der Mode gefallen. | |
Um eine möglichst tolle Zukunft für die Menschen zu ermöglichen, bewerten | |
die wissenschaftlichen Köpfe des Longterminismus am Center for Study of | |
Existential Risk in Cambridge oder dem Future of Humanity Insititute in | |
Oxford – die Musk finanziell unterstützt – die Gefahr, die Menschheit | |
komplett auszulöschen. Es sind diese existentiellen Risiken für die | |
Weiterentwicklung der menschlichen Spezies, die in der Typologie der | |
pseudophilosophischen Studien mit X gekennzeichnet werden. Etwa ein | |
nukleares Armageddon, der Einschlag eines über einen Kilometer breiten | |
Kometen oder die Verbreitung manipulierter Viren. | |
Der wichtigste Philosoph des Longterminismus, [3][Nick Bostrom], zählt in | |
einer 2002 veröffentlichten Publikation auch die Gefahr einer „Dysgenen | |
Belastung“ dazu. Die sei daran festzumachen, dass „an einigen Orten eine | |
negative Korrelation zwischen intellektueller Leistung und Kinderreichtum“ | |
zu beobachten sei. Intelligenz ist für Longterministen maßgeblich daran | |
messbar, wie erfolgreich eine Person innerhalb des fossilen Kapitalismus | |
ist. Je reicher, je ausbeuterischer, desto wertvoller für die | |
Menschheitsgeschichte. | |
## Reiche sollen viele Kinder haben | |
Als Vater von 10 Kindern sieht auch Musk in „einem | |
Bevölkerungszusammenbruch aufgrund niedriger Geburtenraten, ein viel | |
größeres Risiko für die Zivilisation als die globale Erwärmung“, wie er im | |
Sommer letzten Jahres auf Twitter kundtat. Dort merkt er immer wieder an, | |
dass er als reicher Mann mit vielen Kindern eine Ausnahme darstelle, und | |
ruft andere Reiche dazu auf, es ihm gleichzutun. | |
Auch mit seinem Unternehmertum möchte Musk das „Licht des Bewusstseins“ auf | |
lange Zeit absichern. Anders als oft angenommen, verfolgt Tesla nicht das | |
Ziel, die akut bedrohliche Klimakrise durch die Elektrifizierung des | |
Verkehrs zu bekämpfen. Lediglich wohlhabenden Menschen zugänglich und den | |
Individualverkehr fortführend, wird die knappe Ressource Lithium von Tesla | |
dafür eingesetzt, durch die langfristig vorgesehene Realisierung von | |
selbstfahrenden E-Autos privilegierte Passagier*innen vor einem | |
Verkehrstod zu schützen. | |
„X als kollektives Bewusstsein der Menschheit“, postet Musk Mitte August. | |
Was für ein Bewusstsein hier geschaffen werden soll, ist offensichtlich: | |
Nicht nur Musk selbst ist in letzter Zeit immer wieder mit Falschaussagen | |
über den Klimawandel aufgefallen. Seit der Twitterübernahme, ist die Zahl | |
der klimaleugnenden und verschwörungstheoretischen Tweets gestiegen. Auch | |
die rassistischen, antisemitischen, homo- und transphoben Angriffe haben | |
sich seitdem verdoppelt, [4][wie eine Studie im April dieses Jahres | |
belegte.] | |
Gleichzeitig haben 47,5% der 380.000 Twitternutzer*innen, die über die | |
Klima- und Biodiversitätskrise geschrieben haben, ihre Aktivitäten sechs | |
Monate nach Musks Übernahme eingestellt, [5][wie eine weitere Studie | |
belegt.] Laut Musk soll zukünftig auch die Funktion, andere Nutzer*innen | |
zu blocken, die für viele ein wichtiger Schutzwall vor hasserfüllten | |
Shitstorms war, abgeschafft werden. Eine der bislang wichtigsten | |
Plattformen für gesellschaftlichen, journalistischen und akademischen | |
Austausch wächst somit stetig zu einer Desinformation-Waffe von | |
Rassist*innen, Antisemit*innen und Faschist*innen an. | |
Auch wenn sie nicht alle Longterministen sind, teilen sie mindestens drei | |
gemeinsame Grundüberzeugungen: Dass nicht alle Menschen gleichwertig seien, | |
die „wahre“ Bedrohung von anderen Gefahren ausgehe als die breite | |
Öffentlichkeit denke, und dass der Tod weniger „wertvoller“ oder gar | |
antagonistischer Menschen für die Umsetzung der eigenen Utopie | |
grundsätzlich notwendig sei. Als „Eugenik unter einem anderen Namen“ | |
beschreiben die wichtigsten Kritiker*innen der Longterministen, Timnit | |
Gebru und Èmile P. Torres, die Bewegung. | |
## Ablenkung von realen Krisen | |
X erfüllt neben der Verbreitung und Popularisierung von | |
Klimawandelleugnung, Rassismus und Antisemitismus eine wichtige | |
kulturpolitische Aufgabe, die Fixierung auf die Zukunft festzuschreiben. | |
Dass es Musk nicht darum gehe, mit Twitter Geld zu machen, tat er bereits | |
bei seinem Kauf im Oktober 2022 kund. Stattdessen habe er es „für die | |
Zukunft der Zivilisation“ getan. | |
Mit der Everything App möchte Musk nicht nur den chinesischen Wettbewerber | |
WeChat aushebeln, sondern unter seiner autoritären Führung nun einen | |
„globalen Marktplatz“ „unbegrenzter Interaktivität“ schaffen, der jens… | |
von demokratischen Institutionen, staatlicher Kontrolle über Finanzströme, | |
und dem Einfluss von Wissenschaft existiert. Das ist Zukunftsmusik, die | |
angesichts der fallendn Werbeeinnahmen und Nutzer*innen von X | |
unrealistisch wirkt. | |
Und doch schafft Musk es mit X, Menschen für unrelevante Zukunftsprojekte | |
zu begeistern und ihre Aufmerksamkeit von den realen Krisen unserer Zeit | |
abzulenken. Alle anderen lässt er orientierungslos und mit dem Verlust | |
einer Plattform zum Austausch über wirklich relevante Probleme in einer | |
krisenhaften Welt zurück. | |
8 Sep 2023 | |
## LINKS | |
[1] https://netzpolitik.org/2023/longtermismus-eine-merkwuerdige-und-sonderbare… | |
[2] /Neue-Stadt-in-Kalifornien/!5955224 | |
[3] /Neues-Buch-von-Nick-Bostrom/!5565025 | |
[4] https://arxiv.org/pdf/2304.04129.pdf | |
[5] https://www.cell.com/trends/ecology-evolution/fulltext/S0169-5347(23)00189-1 | |
## AUTOREN | |
Tatjana Söding | |
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