# taz.de -- Musikszene Schwedens: Stockholm calling | |
> Die Popszene der schwedischen Hauptstadt Stockholm ist in den letzten | |
> Jahren künstlerisch aufgeblüht. Eine Reportage. | |
Bild: Zwischen Majorlabel und Experiment: Seinabo Sey | |
„Ich bin dankbar, dass ich zwei Orte habe, aus denen ich komme“, erzählt | |
die schwedisch-gambische Musikerin Seinabo Sey. „Wenn es mir zu viel wird | |
oder ich mich missverstanden fühle, kann ich in meine andere Kultur | |
fliehen.“ Sey wurde im westschwedischen Halmstad geboren, wuchs als Tochter | |
des gambischen Musikers Maudo Sey sowohl im westafrikanischen Gambia als | |
auch in Stockholm auf. | |
Nach zehn Jahren Musikkarriere und Mainstream-Erfolg muss die 32-Jährige | |
immer noch ihren Geschmack rechtfertigen, zudem sei der Zugang in die | |
Musikbranche schwer zugänglich und klassistisch. Eine Newcomerin ist die | |
Künstlerin wahrlich nicht mehr, ihren Durchbruch hatte sie 2015 mit ihrem | |
hochpolierten Popsoul-Album „Pretend“. Der Song „Younger“ wurde durch e… | |
Remix zum Streamingerfolg, hat heute über 270 Millionen Streams auf | |
Spotify. | |
Inzwischen bewegt sich ihre Karriere zwischen Charts-Pop und Indie: Im | |
vergangenen Jahr kollaborierte sie mit dem Duo Swedish House Mafia, vor | |
wenigen Wochen unterstützte sie Bon Iver als Anheizerin bei einem Konzert | |
im mittelschwedischen Dalhalla. Zwar ist sie noch bei einem Majorlabel | |
unter Vertrag, die Produktion ihrer neuen Songs klingt jedoch deutlich | |
experimenteller. | |
## Soul, R&B und Elektro-Pop | |
Seys drittes Album, „The One After Me“, erschien im Mai. Darauf vereint sie | |
Soul, R&B und Elektro-Pop mit Einflüssen des schwedischen Folk. Für die | |
Single „Yes“ arbeitete sie mit der schwedischen Experimental-Produzentin | |
Namasenda, die beim Label PC Music unter Vertrag ist. Mit Streichern, | |
HipHop-Beats und den Autotune-Vocals von Namasenda bildet die Single „Yes“ | |
eine eigensinnige Mischung aus Folk und R&B. | |
Während in Schweden der öffentliche Diskurs um afroschwedische Identität | |
besonders seit dem Rechtsruck des liberalen skandinavischen Landes zunimmt, | |
vereint Sey ihre Wurzeln seit Karrierebeginn in ihren Arrangements. Im | |
Artwork und den Musikvideos zu „The One After Me“ inszeniert sie sich in | |
der schwedischen Natur. | |
„Ich möchte zeigen, dass ich sehr schwedisch bin. Ich liebe die Wälder und | |
die Natur. Indem ich mich in die typisch schwedischen Landschaften begebe, | |
kommentiere ich, was schwedisch ist und was nicht. Es gibt oftmals ein sehr | |
engstirniges Verständnis davon“, sagt sie im Interview. | |
Sey reist aber auch oft nach Afrika, wo sie Inspiration für ihre Musik | |
findet. In Stockholm arbeitet sie als Mentorin für die junge, aufstrebende | |
Popszene Stockholms. Sie wirkt bei den Veröffentlichungen ihrer | |
langjährigen Backgroundsängerin Kendra Egerbladh mit. | |
## Neue schwedische Popszene | |
Im Juni hat diese unter dem Künstlernamen Waterbaby ihre Bedroom-Pop EP | |
„Foam“ beim US-Label Sub Pop veröffentlicht. Sie ist Teil einer neuen | |
schwedischen Popszene, wie Sey erklärt: „Seit den letzten Jahren gibt es | |
eine Bewegung von Künstler:Innen, die sich gegenseitig beeinflusst und eine | |
ähnliche Vision hat. Sie machen organische und freiere Popmusik.“ | |
Einer der aufstrebenden schwedischen Leftfield-Popstars ist Stella Explorer | |
alias Stella Cartiers Lagnefors. Sie produziert atmosphärischen | |
elektronischen Pop, der gleichermaßen düster wie hoffnungsvoll klingt. Sich | |
selbst beschreibt sie als melancholische, nostalgische und zynische Person, | |
der glückliche Musik fernliegt. | |
Ihre Songs baut Lagnefors zunächst anhand einer Stimmung und eines Themas | |
auf. Nach Synthesizern, Pianoakkorden und Bassriffs kommen erst die | |
Songtexte auf Englisch oder Schwedisch dazu. Im Mai erschien ihre zweite EP | |
„Lost Kingdom“. | |
## Stella Explorer | |
Die Künstlerin mit schwedischen und südafrikanischen Wurzeln wuchs im | |
westschwedischen Göteborg und in der Hauptstadt Stockholm auf. Auch sie | |
würdigt ihre verschiedenen Herkünfte in ihrer Musik, benannte ihre erste | |
EP, „Dorkay House“, nach dem gleichnamigen Johannesburger Club, der während | |
der Apartheid einen Zufluchtsort für Schwarze Musiker bildete. | |
Lagnefors ist beim [1][schwedischen Avantgarde-Label Year0001 unter | |
Vertrag, das international erfolgreiche Künstler wie Yung Lean, Bladee und | |
Viagra Boys vertreibt]. Ihre warme Altstimme klingt unglaublich vielseitig, | |
was die zahlreichen gemeinsamen Arbeiten mit Künstlern verschiedenster | |
Genres zeigen. | |
Vor Veröffentlichung ihrer Soloarbeit unterstützte sie den Stockholmer | |
Bedroom-Pop-Produzenten boerd mit Vocals, später spannte sie auch mit dem | |
Malmöer House-Produzenten DJ Seinfeld zusammen. Eine eher ungewöhnliche | |
Kollaboration bildet ihre Zusammenarbeit mit der Rockband Viagra Boys, | |
bemerkenswert ist vor allem die Coverversion des Songs „Ain’t My Fault“ | |
der schwedischen Popsängerin Zara Larsson. | |
Tatsächlich verbindet Lagnefors und die Band eine lange Freundschaft, sie | |
steuerte auch Gesangslinien für das 2021 erschienene Album „Street Worms“ | |
bei. „Ich kenne Seb, seitdem ich 15 bin. Wir sind zur selben Schule und in | |
dieselbe Klasse gegangen. Wir haben verschiedene Instrumente gespielt und | |
gesungen, Songs von den Kinks, Beatles, den Zombies und Prince gecovert. Es | |
war ein Boys-Club, ich war ziemlich leise und reserviert“, erzählt sie im | |
Interview über ihre Jugenderinnerungen mit dem Viagra-Boys-Sänger Sebastian | |
Murphy. | |
Erst kurz zuvor war sie aus London gekommen, mit ihrer Kaffeetasse in der | |
Hand wirkt sie noch etwas verschlafen. In der britischen Hauptstadt | |
arbeitete sie für zwei Wochen an neuem Material, spielte ihr erstes | |
englisches Konzert im Bermondsey Social Club. Immer wieder läuft sie durch | |
ihr kleines Apartment im Süden Stockholms, in dem verschiedenste | |
Instrumente wie ihr Keyboard und sogar eine Zither verstreut herumstehen. | |
## Kommerzieller Pop durch Spotify | |
Auch sie sieht eine Aufbruchstimmung in der Stockholmer Szene. „Die letzten | |
Jahre waren im kommerziellen Sinne sehr langweilig. Jetzt brauchen wir | |
Musik, die herausfordernder ist als das, was seit 2010 im Radio läuft.“ In | |
den vergangenen Jahren war die Popszene mit ihren Künstlerinnen kommerziell | |
geprägt, was auch mit der Übermacht des in Stockholm ansässigen | |
Streaming-Giganten Spotify und dem Ringen nach Streaming-Erfolg zu tun | |
hat. | |
Mittlerweile teilt Lagnefors ihre Studioarbeit zwischen Stockholm und | |
London auf. „Stockholm ist wunderschön, aber es ist kein lebendiger Ort. Es | |
ist gut zum Entspannen, zum Arbeiten finde ich London besser. Hier habe ich | |
mein Leben und meine Leute, die etwas von mir erwarten.“ | |
Dennoch schöpft sie wie Sey Inspiration aus der schwedischen Natur, | |
begeistert sich für die nordische Mystik, die sie im Wald und den Gewässern | |
rund um Stockholm findet. Vor ein paar Jahren bewarb sich Langefors noch | |
bei der ersten Marsmission, heute möchte sie die Unendlichkeit lieber in | |
ihrer Musik erforschen. | |
Im nächsten Jahr soll ihr Debütalbum erscheinen, schon im Herbst wird es | |
neue Musik geben. Eins steht fest: Die neue Popszene Stockholms ist so | |
hochproduktiv, divers, kreativ und vernetzt wie selten zuvor. Zum | |
Eurovision Song Contest werden Künstlerinnen wie Stella Explorer und | |
Seinabo Sey wohl nicht eingeladen. Das macht nichts: Södermalm ist eh | |
cooler als Malmö. | |
5 Aug 2023 | |
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## AUTOREN | |
Louisa Zimmer | |
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