# taz.de -- Suizid von DJ Avicii: Nur mal eben vor die Tür | |
> Die Ausstellung „Avicii Experience“ will nicht nur erinnern, sondern | |
> unterhalten und über psychische Gesundheit aufklären. Kann das gelingen? | |
Bild: Die Karriere von Tim Bergling, Künstlername Avicii, begann schon mit 16 … | |
Kautabakdosen, die bis zur Decke reichen. Ein Computerbildschirm, auf dem | |
World of Warcraft läuft. Es scheint, als ob der Jugendliche, dem dieses | |
Zimmer gehört, nur mal eben vor die Tür ist, vielleicht, um sich noch eine | |
Dose Kautabak zu kaufen. Dabei gehört dieses Kinderzimmer einem der größten | |
Superstars Schwedens. Es befindet sich in einer Ausstellung in Stockholm, | |
die in diesen Tagen eröffnet. | |
Die Ausstellung mit dem Namen „Avicii Experience“ erinnert an Tim Bergling, | |
besser bekannt unter dem Künstlernamen Avicii. Als DJ ist er besonders für | |
Songs wie „Hey Brother“ und „Wake Me Up“ bekannt. Auf dem Höhepunkt se… | |
Karriere, im April 2018, nimmt sich Bergling das Leben. Zu dem Zeitpunkt | |
ist er 28 Jahre alt. Der Suizid Berglings stößt eine [1][Debatte über die | |
mediale Ausschlachtung des Themas Suizid an]. Nach seinem Suizid | |
spekulieren Boulevardmedien über die Todesursache und -methode, ohne dass | |
dazu offizielle Informationen vorlagen. | |
[2][Die Ausstellung in Stockholm] konzentriert sich nicht nur auf die | |
psychische Gesundheit des DJs, sondern will Besucher:innen gleichzeitig | |
durch interaktive Inhalte unterhalten. Wie passt das also zusammen, eine | |
Ausstellung über Entertainment und psychische Gesundheit? Wie erinnert man | |
an Avicii, ohne in die Privatsphäre Tim Berglings und seiner | |
Hinterbliebenen einzugreifen? Diese Fragen dürften sich Lisa | |
Halling-Aadland und ihre Kolleginnen beim Kuratieren der Ausstellung | |
gestellt haben. „Für uns ist es sehr wichtig, dass wir auch die Freude und | |
den Spaß am Musikmachen vermitteln“, erklärt sie bereits zu Beginn des | |
Rundganges durch die Ausstellung. Mit VR-Karaoke und digitalen Mischpulten | |
lädt die Präsentation zum Mitmachen ein. | |
Knapp drei Jahre lang haben Halling-Aadland und ihr Team an der Ausstellung | |
gearbeitet. „Die größte Aufgabe bestand darin, eine Balance darin zu | |
finden, die Integrität für seine Familie zu wahren und Fans und Besuchern | |
etwas zu geben, das sie lernen und erfahren können“, erklärt | |
Halling-Aadland. Um die Privatsphäre des Künstlers und seiner Angehörigen | |
zu respektieren, hat das Ausstellungsteam eng mit der Familie kooperiert | |
und für alle Exponate Rücksprache gehalten. Die Familie hat Gegenstände und | |
Instrumente zur Verfügung gestellt sowie sich in Interviews zu Wort | |
gemeldet. | |
## Welttourneen und goldene Schallplatten | |
Gleichermaßen detailreich wie intim rekonstruiert die Ausstellung das Leben | |
und die Karriere Berglings, von seinen Anfängen in Stockholm bis zu seinem | |
Suizid. Ein Rundgang durch die Ausstellung dauert rund eine Stunde, mit | |
Videomaterial noch länger. Das Kinderzimmer ist die erste Station der | |
Ausstellung. Bergling wächst wohlbehütet im gutbürgerlichen Stockholmer | |
Stadtteil Östermalm auf. Mit 16 Jahren bastelt Bergling an ersten Sounds | |
und Remixen, die er auf Soundcloud hochlädt. Wenig später wird er von | |
seinem späteren Manager kontaktiert, bald folgen erste kleinere Auftritte | |
im Stockholmer Umland. | |
Mit 21 Jahren veröffentlicht Bergling seinen Song „Levels“, der in | |
sämtlichen Ländern die Charts stürmt. Danach geht es stetig bergauf für | |
ihn, er geht auf Welttourneen, erhält goldene Schallplatten, arbeitet mit | |
Nile Rodgers oder Coldplay zusammen. Seinen rasanten Aufstieg zeigt die | |
Ausstellung mithilfe von exklusiven Remixen und Demos und Instrumenten | |
sowie umfangreichen Interviews mit Weggefährt:innen. | |
Ein Ausstellungsraum zeigt diese Zeit aus der Perspektive Berglings, mit | |
Aufnahmen von Paparazzi wie hysterischen Fans. Während seiner | |
kräftezehrenden Tourneen macht der Erfolg dem Künstler zunehmend zu | |
schaffen. Er wird alkohol- und drogenabhängig, hat dazu mit schweren | |
körperlichen Leiden zu kämpfen. Auf seiner Welttournee im Jahr 2014 wird er | |
aufgrund einer Bauchspeicheldrüsenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert, | |
trotz Schmerzmedikation motiviert ihn sein Team, die Tour fortzusetzen. Im | |
Jahr 2016 kündigt er an, aufgrund seiner psychischen wie körperlichen | |
Probleme nicht mehr auf Tour gehen zu wollen. | |
## Einsamkeitt und schlaflose Nächte | |
Von seinen Managern wird er damals nur wenig verstanden, wie die | |
Dokumentation „Avicii: True Stories“ aus dem Jahr 2017 zeigt. Während | |
seiner Karriere absolviert Bergling 813 Auftritte, zum Teil 250 DJ-Sets pro | |
Jahr. Wie anstrengend der Alltag als DJ ist, berichten mittlerweile auch | |
immer mehr andere Künstler:innen wie Peggy Gou oder Marie Davidson. | |
Schuld daran ist vor allem der dicht getaktete Touringrhythmus, durch den | |
DJs an einem Wochenende in verschiedensten Ländern auflegen müssen. Jet | |
Lag, Einsamkeit und schlaflose Nächte inbegriffen. | |
„Das Touring sieht im elektronischen Musikbusiness anders aus. Als | |
elektronischer Künstler bist du alleine unterwegs und es gibt niemanden, | |
mit dem du das durchsprechen kannst, wo man sozialen Rückhalt hat. Das ist | |
ein besonderer Risiko- und Stressfaktor für elektronische Künstler“, | |
erklärt Michael Wecker, niedergelassener Therapeut und Mitgründer des | |
Verbandes Mental Health in Music. Als deutsche Anlaufstelle für das Thema | |
psychische Gesundheit in der Musikindustrie bieten Wecker und seine | |
Kolleginnen Musiker:innen professionelle Hilfe und klären mithilfe von | |
Workshops und Vorträgen über das Thema auf. Pro Monat melden sich zwanzig | |
bis dreißig Musiker:innen bei der Initiative, um das Hilfsangebot in | |
Anspruch zu nehmen. Häufige Probleme sind Stimmungs- und Arbeitsprobleme, | |
Ängste und Sorgen. „Die Arbeit in der Branche konfrontiert einen mit einem | |
recht ungesunden Lebensstil, was Arbeitszeiten, Stress, Arbeitsbedingungen | |
im Allgemeinen angeht“, so Wecker. | |
Auch Berglings Angehörige haben eine eigene Initiative gegründet, die | |
[3][Tim Bergling Foundation]. Sein Vater spricht auf Konferenzen, zudem | |
veranstaltet die Organisation Konzerte im Raum Stockholm, deren Einnahmen | |
an die Stiftung gespendet werden. Das letzte fand im Dezember in der | |
größten Konzertarena Stockholms statt, die erst im vergangenen Jahr in | |
„Avicii Arena“ umbenannt wurde. Das Charity-Konzert der Stiftung wird auch | |
als 360-Grad-Video in der Ausstellung gezeigt. Hier wird deutlich, dass | |
Trauer und Freude sich im Falle von Berglings Tod nicht ausschließen | |
müssen. „Wir wollen sowohl der Dankbarkeit für seine Musik wie der | |
Traurigkeit über seinen Tod einen Raum bieten“, erklärt Halling-Aadland | |
während der Führung durch das Museum. | |
## Noch längst nicht entstigmatisiert | |
Die Ausstellung präsentiert nicht nur die Erfolge des Künstlers. Sie zeigt | |
auch, dass Avicii lange an Depressionen und Angststörungen litt und ungerne | |
im Rampenlicht stand. Die Kuratorinnen grenzen dabei die Privatperson | |
Bergling von der Künstlerperson Avicii ab. Die Verwechslung zwischen | |
Künstler:in und Privatperson benennt Wecker als weiteren Risikofaktor für | |
psychische Krankheiten. „Junge Künstler sehen es als ihre Aufgabe, per | |
Social Media ganz viel zu liefern. Aus meiner distanzierten Sicht sehe ich | |
da sehr viele ungesunde Aspekte. Man braucht einen Rückzugsort, wo man mit | |
seinen Themen nicht nur in der Öffentlichkeit steht.“ Hier liegt laut ihm | |
auch die Verantwortung bei den Fans, dies zu respektieren. | |
Aber wie ist die Privatsphäre von verstorbenen Personen wie Avicii | |
reguliert? Im Falle eines Todes können die Angehörigen die | |
Persönlichkeitsrechte des Verstorbenen wahrnehmen. Die Entscheidung, eine | |
Avicii-Ausstellung zu eröffnen, lag also bei der Familie Berglings. Ob eine | |
eigene Ausstellung auch im Interesse des Künstlers gewesen wäre, lässt sich | |
nicht beantworten. | |
Nichtsdestotrotz sendet die Ausstellung sowohl an Avicii-Fans wie | |
Nicht-Fans eine wichtige Botschaft. Sie zeigt, dass das Thema psychische | |
Krankheiten im Musikbusiness noch längst nicht entstigmatisiert ist und | |
dass es gleichermaßen Initiativen von Expert:innen wie Kreativen | |
innerhalb der Musikindustrie bedarf, um dies zu ändern. „Aviciis Suizid hat | |
mehr mediale Aufmerksamkeit auf das Thema gelenkt, trotzdem ist da noch | |
ganz viel zu tun“, schlussfolgert auch Wecker. „Ohne Aufklärung geht es gar | |
nicht, es müssen Informationen verfügbar sein, es braucht Initiativen sowie | |
Vereine und Verbände, die sich darum kümmern. Es braucht aber auch die | |
Branche, die sagt, das ist ein wichtiges Thema, wir wollen die Leute | |
schützen, mit denen wir Geld verdienen.“ Die Ausstellung und die Initiative | |
der Bergling-Familie bieten dabei zumindest einen Anfang. | |
23 Mar 2022 | |
## LINKS | |
[1] /Berichterstattung-zum-Tod-von-Avicii/!5502637 | |
[2] https://aviciiexperience.com/ | |
[3] https://www.timberglingfoundation.org/ | |
## AUTOREN | |
Louisa Zimmer | |
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