| # taz.de -- Verfall und Ignoranz in Berlin: Wo ist Jesus, wenn man ihn braucht? | |
| > Unser Kolumnist lebt auf der schlechten Seite eines Berliner Viertels. | |
| > Weder Nachbarn noch Senat scheinen sich für eine Verbesserung zu | |
| > interessieren. | |
| Bild: Ein Bett unterm Baugerüst in Berlin und niemand kümmert sich, nicht mal… | |
| Kürzlich, [1][in der Deutschlandfunk-„Morgenandacht]“, hat Jesus zu mir | |
| gesprochen: „Im Haus meines Vaters gibt es viele Wohnungen.“ Was immer das | |
| heißt – ich jedenfalls bin in einem 50er-Jahre-Wohnblock aufgewachsen, am | |
| Rand der Gründerzeitstadt, mit Blick auf einen Kanal und eine | |
| Stadtautobahn. Auf der anderen Seite dieser Schneise lag ein | |
| [2][architektonisch amorphes Arbeiterviertel.] Es kursierten Geschichten | |
| über Gangs, die ihre Opfer an Tramschienen fesselten, aber außer dass ich | |
| dort drüben in die Kirche ging, habe ich nichts Gefährliches erlebt. | |
| Heute, ging meine Assoziationskette weiter, hat der Vater im Himmel mir in | |
| Berlin eine frappierend ähnliche Übergangszone als Wohngegend zugewiesen, | |
| der Kanal ist etwas breiter, die Schnellstraße lauter. In meiner | |
| Heimatstadt hat man längst einen Park über sie gesetzt, aber dass der | |
| Gassenhauer „Berlin bleibt doch Berlin“ sehr ernst zu nehmen ist, habe ich | |
| nicht erst kapiert, seit die jetzige Stadtregierung [3][das Gaspedal | |
| durchdrückt.] | |
| Im Unterschied zu meiner Kindheit lebe ich heute allerdings auf der | |
| schlechten Seite der Schneise; schlecht nicht im moralisch bewertenden | |
| Sinne, sondern im ganz praktischen: Wenn ich Kanal und Straße überwunden | |
| habe, betrete ich einen sanierten, auf Tempo 30 runterregulierten | |
| Altbaukiez mit Ökobäckereien, wenig Müll und einem grünen Stadtteilbüro. | |
| Auf meiner Seite sind die Straßen nächtliche Rennpisten und Aufheul-Areas, | |
| unsere Wohnung ist eine Art Boxenstopp. Wenn ich abends noch zum Späti | |
| gehe, stinkt es nach Urin, die Ratten huschen über die Straße, aus den | |
| Nischen kommen alle paar Meter arme Menschen, die nach einer Spende fragen. | |
| Das Elend der in den letzten Jahren stark angewachsenen Menge der | |
| Drogenkranken mit ihren offenen Geschwüren, ihrer in jeder Hinsicht auf das | |
| Gerippe reduzierten Existenz kann ich auch tagsüber nicht ignorieren, am | |
| zentralen Platz des Kiezes stehen Zelte, auch hier sind viele der | |
| Obdachlosen körperlich völlig heruntergekommen und psychisch krank, der | |
| letzte Supermarkt hat gerade geschlossen, die Drogerie ist schon lange zu. | |
| Den alten Berliner Senat hat das nicht gekümmert, und [4][vom neuen] ist | |
| nichts anderes zu erwarten als eine abstoßende PR-Aktion des autoritären | |
| Großreinemachens, die ich nicht befördern will. In Wirklichkeit erwarte ich | |
| gar nichts, wie alle, die hier wohnen; und muss sagen, dass die Polizei die | |
| einzige staatliche Institution ist, die sich in unserem Slum überhaupt noch | |
| eingreifend und Ekelgrenzen überwindend blicken lässt. | |
| Und doch bin ich hier zu Hause. Und staune über den Gleichmut meiner | |
| Nachbarn, eine Toleranz, die vollkommene Gleichgültigkeit gegen Lärm, Dreck | |
| und Leid einschließt. Niemand beschwert sich, niemand hilft, und fast | |
| niemand wählt AfD. | |
| Wären wir ein Haus, wir wären keine nette Hausgemeinschaft. Vielleicht ist | |
| es ja das, was Jesus sagen wollte. | |
| 10 Jul 2023 | |
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| Ambros Waibel | |
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