# taz.de -- Buch über britische Arbeiterklasse: Als der Proll geboren wurde | |
> Arbeiter verwandeln sich in Dämonen. Owen Jones schreibt vom Sieg der | |
> Mittelschicht über das Proletariat und von der exotischen Fremde vor | |
> unserer Haustür. | |
Bild: Sargträgerin der Gewerkschaften, Geburtshelferin der Prolls: Margaret Th… | |
Wenn ein Buch über die britische Arbeiterklasse einen nicht mehr loslässt, | |
obwohl man selbst noch nie in England war und auch keinen Drang verspürt, | |
dort hinzufahren, weil man erstens eh nicht so gern reist und wenn doch | |
eher ein Faible für Reiseziele hat, die südlicher, wärmer oder zumindest | |
katholischer sind – dann muss diese Faszination, die einen noch aus der | |
animiertesten Abendgesellschaft ins Bett und ins Buch hineinzerrt, etwas | |
mit der Arbeiterklasse zu tun haben. | |
Ich bin an einer Stadtautobahn aufgewachsen. Als ich klein war, gab es noch | |
nicht mal eine Ampel. Ich musste aber hinüber – denn drüben, im | |
Arbeiterviertel, war die Grundschule, der Fußballverein und die Kirche. Mit | |
10 kam ich aufs Gymnasium, mit 11 verließ ich den Vereinssport, und in die | |
Kirche musste ich da schon lange nicht mehr. Auf einmal gab es keinen | |
Grund, die Autobahn zu überqueren, obwohl mit den Jahren die Schülerlotsen | |
von den Zebrastreifen, einer Ampel und schließlich sogar einer | |
Fußgängerbrücke abgelöst wurden. | |
Ich ging nicht mehr hinüber, weil ich mit dem Wechsel aufs Gymnasium keine | |
Freunde mehr hatte, die dort drüben wohnten. Es gab keine Berührungspunkte | |
mehr. Die Schulsegregation führte zu einem vollständigen Austausch – | |
menschlich und kulturell. | |
## Das Exotische zum Anfang | |
Das Viertel ist noch immer ein Arbeiterviertel mit Industrie – so wie | |
Deutschland noch immer ein Industrieland ist und sich aktuell dafür feiert. | |
Das Viertel ist aber auch ein sogenannter Problembezirk mit | |
überdurchschnittlich hohem Armen- und Ausländeranteil. Für mich war alles, | |
was es dort drüben gab, fremd: die Art zu sprechen, zu denken, zu wohnen, | |
zu essen, zu rauchen, sich anzuziehen, mit Geld umzugehen. Es war eine | |
exotische Welt, 200 Meter vor meiner Haustür. | |
Das Wort Proll kannte ich noch nicht, es entstand erst nach den Siebzigern. | |
Man begegnete den Menschen dort drüben mit Respekt, schon weil man immer | |
wieder von den „Gangs“ reden hörte, denen es Spaß machte, ihre Feinde oder | |
einfach zufällig reingeratene Kinder und Jugendliche wie mich an den | |
Trambahnschienen festzubinden. | |
Konkret wurde das natürlich nie. Die Arbeiterklasse war aber eben schon | |
immer der Dämon des Mittelklassemenschen, lange bevor sie – wie ich dem | |
Buch des Historikers und Journalisten Owen Jones „Prolls – Die | |
Dämonisierung der Arbeiterklasse“ entnehme – in England planmäßig und | |
komplett zu „Chavs“ gemacht wurde. „Als die Industriearbeit verschwand“, | |
schreibt der Endzwanziger Owen, „trat nichts an ihre Stelle. In ganzen | |
Kommunen gab es keine sichere, respektierte Arbeit mehr.“ Die heutige | |
Dämonisierung „ist das Triumphgeheul der Reichen, die von unten nicht mehr | |
bedroht sind und sich nun über die Arbeiter lustig machen.“ Die Zahl der | |
Fabrikarbeitsplätze ging in England von 7 Millionen 1979 auf 2,5 Millionen | |
heute zurück. | |
## Deformierte Reste einst mächtiger Klasse | |
Das hat, folgt man Jones, bizarre Züge angenommen – und brisante: Eine von | |
Jones auf eigenen Erlebnissen fußenden Thesen ist, dass man sich unter | |
Londoner Intellektuellen über keine Minderheit mehr lustig machen kann, | |
ohne die soziale Ächtung zu kritisieren – außer über die Prolls, die | |
deformierten Reste der einst mächtigen, weißen, englischen Arbeiterklasse. | |
Es gibt das „Little book of chavs“ (Reiseführer zu den Prolls), ein | |
Londoner Fitnesscenter bietet Kurse zur Prollbekämpfung an („Verschwenden | |
Sie ihre Zeit nicht mit Sandsäcken und Holzbrettern, schlagen Sie lieber | |
einem Proll die Zähne ein“). Der seit dem letzten Schulstudien auch in | |
Deutschland beliebte „Analphabeten“-Diskurs steht in hoher Blüte, die | |
Prollfrauen „werfen“ früh, was konkrete eugenische Fantasien hervorbringt. | |
Das Reiseunternehmen „Activities Abroad“ bietet „prollfreie Aktivurlaube�… | |
an. Das beste, was der Arbeiterklasse im herrschenden Diskurs noch | |
passieren kann, ist, ignoriert zu werden oder als ignorantes, schrulliges | |
Völkchen durchzugehen, über das die Geschichte in einer freshen, | |
multikulturellen Diversity-Welt hinweggegangen ist und die sich über kurz | |
oder lang durch Tabak, Alkohol und andere Drogen selbst erledigen wird. | |
## Vollkommen getrennt | |
Zum Proll, auch das gehört zur Legende, macht man sich selbst. Wer was | |
drauf hat, wer es „will“, ist längst der Teil der Mittelschicht geworden. | |
Und weil der Rest, dieser weiße Arbeiterschrott, rassistisch auf die | |
erfolgreichen Zuwanderer reagiert, darf er sich nicht wundern, wenn er | |
selbst rassistisch herabgesetzt wird. Wobei der Rassismus auch darauf fußt, | |
dass Mittelschicht – und Prollwelt vollkommen getrennt sind – die | |
Stadtautobahn wird nicht mehr überschritten. | |
Heute ist es wichtiger, wie man dargestellt wird, nicht wie man tatsächlich | |
beschaffen ist. Kaum ein Journalist, zitiert Owen Jones einen Kollegen, | |
kenne die Welt der „verkommenen“ Sozialsiedlungen, in denen die Prolls | |
hausen. Es gibt keinen gemeinsamen Schulbesuch der Kinder, weil keiner, der | |
nicht Proll ist, sein Kind auf eine staatliche Schule schickt. Die | |
Journalisten wissen nicht, wie ein Arztbesuch abläuft, wenn man nicht | |
privat versichert ist. | |
Und last but not least schätzten Redakteure das Durchschnittseinkommen in | |
ihrem eigenen Land viermal höher ein, als es tatsächlich ist. | |
## Der Lächerlichkeit preisgegeben | |
Natürlich lässt auch der Historiker Owen die ganze miese Lage bei Margaret | |
Thatchers „Revolution“ beginnen. Das hat man ihm vorgeworfen – immer die | |
ollen Kamellen –, und wirklich schlauer ist man Ende nicht, wie und warum | |
es Thatcher gelingen konnten, die englische Industrie abzuwracken, was die | |
Fehler und Irrtümer von Labour und Gewerkschaft waren und welche | |
Konsequenzen sie daraus gezogen haben. Angedeutet findet sich aber doch ein | |
psychologisches Motiv: Eine Arbeiterklasse, die nicht glaubhaft mit | |
Generalstreik, gewalttätigem Umsturz, mit Umverteilung und Revolution | |
drohen kann, wird von den Eliten gespalten, in den Dreck gestoßen und der | |
Lächerlichkeit preisgegeben. | |
Aber was ist mit dem realen Teil des Aufstiegsversprechens, was mit der | |
Attraktivität einer individuellen Identität jenseits vom Klassenmief, | |
Frauenfeindlichkeit und Homophobie? Warum gab es so wenig Widerstand der | |
Gewerkschaften gegen die Thatcher-Politik? „Die Gründe sind unklar.“ Das | |
ist mager. | |
Am bittersten, und damit soll man ja immer schließen, ist vielleicht die | |
Tatsache, dass die Mittelschicht die einmal gewonnene Macht nicht mehr aus | |
den Händen geben wird. Sie reproduziert sich selbst, durch Empfehlungen | |
ihres Nachwuchs in die guten Jobs, durch die Wucherung unbezahlter | |
Praktika, die sich nur durch Mami und Papi finanzieren lassen, durch das | |
berühmte kulturelle Kapital von Judo bis Klavierspielen und | |
Auslandsaufenthalt. „Die Kluft tut sich sehr früh auf und schließt sich nie | |
wieder“, resümiert Owen. | |
Da, wo ich einst die Grenze überschritt, erstreckt sich heute ein Park über | |
die tiefer gelegte Rennstrecke. Wenn ich bei meinen Eltern bin, schlendere | |
ich mit den Kindern manchmal hinüber, ich möchte ihnen zeigen, wo ich zur | |
Schule gegangen bin, wo ich Fußball gespielt habe, wo meine Erstkommunion | |
stattgefunden hat. Meine Kinder finden es dort nur hässlich. | |
## Owen Jones: „Prolls - Die Dämonisierung der Arbeiterklasse“. Verl. Andr… | |
Thiele, 320 S., 18,90 Euro | |
31 Oct 2012 | |
## AUTOREN | |
Ambros Waibel | |
Ambros Waibel | |
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