| # taz.de -- Nato und russischer Angriffskrieg: Das ewige Bündnis | |
| > Die russische Aggression macht die Nato wichtiger denn je. Und dennoch | |
| > darf die Kritik am größten Militärbündnis aller Zeiten nicht vergessen | |
| > werden. | |
| Bild: Die Rolle der Nato als globaler Ordnungsmacht wurde ins Regal geräumt | |
| Vilnius liegt 30 Kilometer von der belarussischen Grenze entfernt. Im | |
| Westen sind es keine 200 Kilometer bis zur russischen Enklave Kaliningrad. | |
| Die litauische Hauptstadt ist einer der Orte, an denen ad hoc einleuchtet, | |
| warum in Osteuropa viele die Nato für eine unverzichtbare | |
| Lebensversicherung halten. Seit Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine | |
| wirkt die gigantische US-Militärmaschine mit ihrer atomaren | |
| Overkillkapazität für jene, die in der Nähe russischer Grenzen leben, | |
| beruhigend. | |
| Dass der [1][Nato-Gipfel in der nächsten Woche] in Vilnius stattfindet, ist | |
| ein Zeichen. Putin spekuliert darauf, dass die dekadenten | |
| Stimmungsdemokratien im Westen irgendwann die Lust verlieren, Kiew in | |
| einem Krieg zu unterstützen, der viel Geld kostet, in dem viel gestorben | |
| wird und bei dem kein Ende in Sicht ist. Die Nato wird in Litauen grimmig | |
| entschlossen demonstrieren, dass Putin falschliegt. Russland bleibt, auch | |
| wenn die wüsten atomaren Vernichtungsdrohungen aus Moskau abgenommen haben, | |
| eine Bedrohung über die Ukraine hinaus. | |
| Auch wer kritisch auf die USA schaut, fürchtet derzeit weniger eine | |
| entfesselte aggressive US-Außenpolitik als einen isolationistisch | |
| gesinnten, rechten US-Präsidenten, der den atomaren Schutzschirm über | |
| Europa einklappen könnte. Die Daseinsbegründungen der Nato nach 1991 waren | |
| flüchtig, brüchig und vage. Mal war sie, wie in Bosnien und im Kosovo, ein | |
| Instrument, um Bürgerkriege mit zwiespältigem Erfolg zu befrieden. Mal war | |
| sie für die Europäer ein Medium des durchweg gescheiterten Versuchs, die | |
| brachiale Gewalt und Hybris der US-Politik nach 9/11 einzuhegen. | |
| Alles vergangen und vergessen. Das Bündnis hat wieder einen Gegner und eine | |
| moralisch wie strategisch einleuchtende Aufgabe. Die kann man in Abwandlung | |
| einer berühmten Bemerkung von Lord Ismay aus den 1950er Jahren so | |
| skizzieren: „die Amerikaner drinnen, die Russen draußen halten – und | |
| Osteuropa schützen“. Das ist seit dem 24. Februar 2022 so | |
| selbstverständlich, dass es kaum ausgesprochen werden muss. Die westliche | |
| Allianz verteidigt, glaubt man der Bundesregierung, [2][„Frieden, | |
| Demokratie, Freiheit und die Herrschaft des Rechts“]. Universalismus gegen | |
| Repression. Liberale Werte versus Autokratie. Gut gegen Böse. Ist das Bild | |
| so klar? Nur schwarz-weiß und ohne Grautöne? Oder hat der Blick von Vilnius | |
| aus auf die Welt Verkrümmungen und blinde Flecken? | |
| ## Der Westen sollte vorsichtig mit Belehrungen sein | |
| Ehe man die Nato allzu freudig als antiimperialistisches Bollwerk feiert, | |
| sollte man sich ins Gedächtnis rufen, dass die westlichen Truppen vor noch | |
| nicht mal zwei Jahren aus Afghanistan flohen und ein geschundenes, | |
| kriegsverwüstetes Land hinterließen. Das war nach 20 Jahren Erfahrung mit | |
| Isaf-Truppen, viel Demokratie- und Menschenrechtsrhetorik noch | |
| gewalttätiger, grausamer, elender als zu Beginn der Intervention 2001. | |
| Der Westen neigt dazu, die blutigen Verwüstungen, die er im Irak, in | |
| Afghanistan und Libyen angerichtet hat, leichthändig zu verdrängen. In den | |
| westlichen Regierungszentralen gibt man das Scheitern der Interventionen | |
| von 2001 bis 2021 zwar zu – aber nur nuschelnd und halbherzig. Die Rolle | |
| der Nato als globaler Ordnungsmacht wurde stillschweigend ins Regal geräumt | |
| – aber kaum selbstkritisch verarbeitet. Das bedeutet für die Zukunft: Falls | |
| es opportun erscheinen sollte, kann man mit völkerrechtlich windigen | |
| Begründungen und militärischer Gewalt wieder auf Regime-Change setzen. | |
| Viele Staaten im Globalen Süden scheuen sich, im Ukrainekrieg Täter und | |
| Opfer klar zu benennen. Manche wollen den Import russischen Öls und | |
| russischer Waffen nicht gefährden. Andere halten eine dritte Position in | |
| dem aufziehenden Konflikt zwischen dem Westen und China/Russland für | |
| günstiger als die Parteinahme für Kiew. | |
| Das muss man kritisieren. Allerdings sollte der Westen Belehrungen in | |
| Richtung des Globalen Südens lieber vorsichtig dosieren. Der Westen, der | |
| für sich überlegene Moral reklamiert, weckt nicht nur Assoziationen an die | |
| koloniale Ära. Auch die Bomben auf Libyen, den Irak und Afghanistan fielen | |
| im Namen von Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenrechten. Im | |
| Globalen Süden sind die Erinnerungen daran nicht so schnell ausgebleicht | |
| wie in London und Washington. Die Selbstinszenierung der Nato als Garantin | |
| von Freiheit und Frieden stößt von Brasilien bis Südafrika daher auf eine | |
| gewisse Skepsis. | |
| Darüber aus der Höhe ethischer Überlegenheit den Kopf zu schütteln | |
| verdoppelt ein unbegriffenes Problem. Die Erklärungen der Nato in Vilnius | |
| werden kristallklar und entschlossen klingen: dauerhafte Unterstützung für | |
| Kiew, [3][Verteidigung von jedem Zentimeter der östlichen Staaten]. Welche | |
| Rolle die Nato in der zerklüfteten, unübersichtlichen globalen Staatenwelt | |
| des 21. Jahrhundert spielen wird, ist weniger eindeutig. Ob die | |
| europäischen Nato-Staaten den Sidekick im Kampf der USA mit China um die | |
| globale Vorherrschaft geben werden, ist offen. Es ist auch möglich, dass | |
| sich eher Macrons Kurs einer von den USA weitgehend unabhängigen, auf | |
| eigene Interessen fokussierten, weicheren europäischen Chinapolitik | |
| durchsetzt. | |
| ## Ernüchterndes Erbe der Friedensbewegung | |
| Der Westen ist gut beraten, globale Konkurrenzen nicht reflexhaft in das | |
| Raster „Demokratie versus Diktatur“ zu pressen und moralisch aufzuladen. 71 | |
| Prozent der Weltbevölkerung lebt in Autokratien. Kompromisse lassen sich | |
| leichter finden, wenn man Interessen abgleicht – und sich nicht als edler | |
| Ritter in Szene setzt. | |
| Welche Rolle spielt Deutschland dabei? Die Bundesrepublik ist heute mehr | |
| als in den letzten 30 Jahren auf die USA und die Nato angewiesen. Die | |
| Debatten über europäische Souveränität und Sicherheit ohne Washington sind, | |
| was sie immer waren: akademisch. | |
| Eher ernüchternd fällt die Inspektion des Erbes der bundesdeutschen | |
| Friedensbewegung der 80er Jahre aus. Die war immer vielfältig und | |
| heterogen. Ende der 90er Jahre spaltete sie sich in zwei fundamental | |
| entgegengesetzte Teile. Angesichts der Massaker in den Jugoslawienkriegen | |
| bildeten die Grünen eine moralisch begründete Pro-Nato-Haltung heraus, die | |
| den Antimilitarismus abstreifte wie ein altes Hemd. | |
| 2023 unterstützen [4][nur WählerInnen der Grünen mehrheitlich deutsche | |
| Kriegsbeteiligungen,] wenn diese sinnvoll seien. Unter Anhängern der Union | |
| ist es nur ein Drittel, unter denen der SPD ein Viertel. Die grüne Klientel | |
| ist auch entschieden für eine wertegeleitete Außenpolitik. In der | |
| heraufziehenden internationalen [5][„Wolfswelt“ (Marc Saxer)] ist der | |
| Westen nur ein Player unter anderen. Ob die grüne Mixtur aus Moral und | |
| Militär da ein angemessenes Werkzeug ist, kann man bezweifeln. Es ist klug, | |
| Pragmatismus größer als Prinzipien zu schreiben. | |
| Auf der anderen Seite existiert eine kleine, teils mit der Linkspartei | |
| verbundene Fraktion, die eisern an der linken US-Kritik der 70er und 80er | |
| Jahre festhält. Dieser Steinzeit-Antiimperialismus folgt dem Motto, dass | |
| der Feind meines Feindes mein Freund sei, und hat Sympathien mit Regimen | |
| von Venezuela bis Moskau. Diese Gruppe würde Kiew ohne Wimpernzucken | |
| russischen Panzern überlassen. Seit dem 24. Februar 2022 ist diese | |
| Oldschool-Anti-Nato-Ideologie endgültig moralisch und politisch bankrott. | |
| Es ist kein Wunder, dass die Wagenknecht-Schwarzer-Demo ein One-Hit-Wonder | |
| war. | |
| ## Die Interessensvertretung reicher Staaten | |
| Beide Haltungen verkennen das Wesen der Nato. Das Bündnis ist weder die | |
| globale volonté générale noch der Teufel, in dessen Schatten Putins | |
| Verbrechen zu Nebensächlichkeiten schrumpften. Die Nato ist die robuste | |
| Interessensvertretung überwiegend demokratischer, überwiegend reicher | |
| Staaten. Sie ist keine bewaffnete NGO, die sich selbstlos für die | |
| gedeihliche Verbreitung der Demokratie einsetzt, sondern das mächtigste, | |
| einflussreichste Militärbündnis aller Zeiten. | |
| Der Nato-Gipfel in Vilnius wird die Wendung des Bündnisses nach Osten | |
| markieren. Die Nato ist dabei, eine 300.000 SoldatInnen starke schnelle | |
| Eingreiftruppe aufzubauen. Dieses „Go east“ verändert auch die deutsche | |
| Rolle – sie wird größer und riskanter. 4.000 deutsche SoldatInnen sollen | |
| dauerhaft in Litauen stationiert werden. Vor einem Jahr zögerte Berlin noch | |
| und wollte nur Einheiten schicken, die zwischen Deutschland und Litauen | |
| rotieren. | |
| Der Grund: In der Nato-Russland-Grundakte von 1997, in der Moskau die | |
| Nato-Osterweiterung anerkannte, sind dauerhaft stationierte | |
| Nato-Kampftruppen in früheren Warschauer-Pakt-Staaten ausgeschlossen. | |
| Berlin wollte offenbar Russland, trotz des [6][Angriffskriegs gegen die | |
| Ukraine], keinen Vorwand liefern, die Nato-Russland-Grundakte zu kündigen. | |
| Das ist nun anders. Auch wenn man diesen Schwenk angesichts Putins | |
| Imperialismus für ein Detail hält, illustriert es die Dynamik der | |
| Situation. Die militärische Logik verdrängt die diplomatische. | |
| Mit der Kampfbrigade in Litauen wird Deutschland zu einer Schutzmacht. Die | |
| Bundesrepublik verwandelt sich von einer Zivilmacht in eine Regionalmacht, | |
| die auch militärisch präsent ist. Die Geopolitik kehrt zurück, langsam, | |
| zentimeterweise. In der öffentlichen Diskussion kommt dieser Prozess kaum | |
| vor. | |
| Das ist kurzsichtig. Bedingungslose Solidarität mit der Nato ist auch | |
| angesichts Putins Aggression die falsche, eine naive Haltung. Wir brauchen | |
| offene, kritische Debatten. Und es gibt ja auch ein produktives Erbe der | |
| Friedensbewegung der 80er Jahre, an das anzuknüpfen lohnt: das Bewusstsein, | |
| dass Abrüstung und die Stärkung der UN und multilateraler Institutionen | |
| nötig sind, gerade in Zeiten, in denen es dafür sehr wenig Beifall gibt. | |
| 9 Jul 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Expertin-ueber-Nato-Position-zu-Ukraine/!5941958 | |
| [2] https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/sicherheit-und-verteidigung/n… | |
| [3] /Boris-Pistorius-besucht-Polen/!5945363 | |
| [4] https://www.ipg-journal.de/rubriken/aussen-und-sicherheitspolitik/artikel/g… | |
| [5] https://internationalepolitik.de/de/die-zeit-der-wolfswelt | |
| [6] /-Nachrichten-im-Ukraine-Krieg-/!5945443 | |
| ## AUTOREN | |
| Stefan Reinecke | |
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