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# taz.de -- Japanische Postpunk-Künstlerinnen: Stachlige Musik, stachlige Zeit…
> Frauen prägten die japanische Postpunkszene. Allmählich wird ihre Vision
> auch im Westen anerkannt, das zeigen die Alben der Non Band und von
> Saboten.
Bild: Ausschnitt des Coverfotos vom Album von Saboten
Ein Land hinter einer gigantischen Spiegelbrille. Was in den 1980er Jahren
in Japan an musikalischen Wundern passierte, blieb der Welt weitgehend
verborgen. Nur schemenhaft erkennbar und oft verzerrt. Dabei war dort
längst nicht alles Elektropop à la Yellow Magic Orchestra.
Denn von Japan aus zeigte sich glasklar, was in London, New York und
anderen kulturellen Zentren passierte. Die Selbstermächtigung von Punk
resonierte in einem Land, dessen Gesellschaft damals noch stärker der
Konformität unterworfen war als heute. Weit abgeschieden von den Blicken
der Welt haben sich Künstler:Innen westliche Subkultur im Fernen Osten
angeeignet und weiterverarbeitetet. Details dringen erst allmählich, mit
großer Verspätung nach außen.
Das Puzzle der japanischen Post-Punk-Jahre wird noch immer um neue
Dokumente erweitert. Mit den aktuellen Ausgrabungen der Tokioter
No-Wave-Künstlerin Non und dem Früh-80er Avant-Pop-Quartett Saboten kommen
gerade zwei wichtige Fundstücke hinzu.
## Lies nach in „Dokkiri“
Stefan Schneider kennt das Stochern im Nebel. Vor einiger Zeit landet der
Düsseldorfer Musiker und Labelbetreiber in einen Plattenladen in Osaka und
blättert so neugierig wie orientierungslos durch die Fächer für japanischen
Underground. Bis den Ladenbesitzer das Mitleid packt. „Lies das“, rät er
Schneider und drückt ihm „Dokkiri“ in die Hand. Das Buch des in Japan
lebenden US-Autors Kato David Hopkins erzählt die Geschichte der
musikalischen Subkulturen in Japan, von 1976 bis 1989. Schneider folgt dem
Rat.
„Schon auf dem Rückflug hatte ich es halb durch, Notizen gemacht, Namen
rausgeschrieben …“ Eine Unbekannte war Non Band, das Bandprojekt der
Bassistin und Sängerin Non. Das Internet spuckte Schneider damals nur einen
einzigen Song aus, „Duncan Dancin“: Tiefe Percussion und Bass mit
kräftigen, funkigen Rhythmen, eine Klarinette setzt spitze Akzente, die
Gitarre webt helle Melodielinien ein, bis Nons mädchenhafter und
gleichzeitig prägnanter Gesang das Stück weit nach vorne treibt.
Schneider war schon von diesem einen Stück restlos begeistert: „Ganz tolle
Produktion, die die Musik eigenständig klingen lässt. Und doch ist sie
verhaftet in den Ideen der frühen Achtziger. Mich erinnerte das an
britische Post-Punk-Bands wie Public Image Limited und Eyeless in Gaza, die
Slits und This Heat, wegweisende Musik, mit der ich selbst aufgewachsen
bin.“
## Kleinod in Zehnzoll
Weil niemand dieses 1982 im 10-Inch-Format erschienene Album der Non Band
in Europa besorgen konnte, beschloss Schneider kurzerhand, das Kleinod auf
seinem eigenen Label Tal wiederzuveröffentlichen. Der Kontakt war schnell
hergestellt. Auf eine Mail an die Adresse einer japanischen Bandsite
antwortete Non innerhalb weniger Stunden.
Sie war vertraut [1][mit Schneiders Postrock-Band To Rococo Rot], schätzte
seine Arbeit mit dem Krautrock- und Elektronik-Pionier Roedelius und
willigte sofort ein in den Plan einer Neuauflage. Die Strahlkraft dieses
Werks hat in den vergangenen 40 Jahren keineswegs gelitten. Im Gegenteil,
schon die Instrumentierung des Trios mit Bass/Gesang, Violine/Klarinette
und Schlagzeug klingt losgelöst von nahezu allen zeitgenössischen
Veröffentlichungen.
Nons Gesang, der stark repetitiv und mit Slogans arbeitet, und eine
Rhythmussektion, die von traditioneller japanischer Musik inspiriert ist,
verstärken die eigenwillige Soundsignatur. Für das kleine Indie-Label Tal,
das sich an den abenteuerlustigen Rändern des Musikspektrums an eine
überschaubare Klientel wendet, ist Non Band mit knapp 2.000 Exemplaren zum
Beststeller geworden. Soeben erscheint eine dritte Auflage.
## Theater als Schutzraum
Begleitet wird sie von einer besonderen Veröffentlichung, wie sie nur bei
Liebhaberlabeln zu finden sind. Eine Single mit zwei unveröffentlichten
Outtakes, die den hohen Standards des Albums mühelos halten, sowie einem
48-seitigen Beiheft mit Texten und unveröffentlichten Fotos der Band von
1979 bis 82. Die kargen, kontraststarken Schwarzweißaufnahmen zeigen die
Non Band in unterschiedlichen Besetzungen meist auf Theaterbühnen, vor
sitzendem Publikum.
Japans Majorlabels kontrollierten in jener Zeit auch die Konzertlandschaft.
Bands und Veranstalter:innen aus dem Punk-Umfeld mussten sich
alternative Auftrittsorte wie kleine Theater suchen. Gut möglich, dass
schon [2][diese strukturellen Unterschiede den japanischen Postpunk andere
Richtungen] als die Mehrheit der westlichen Zeitgenoss:innen
einschlagen ließ.
Auf den Fotos ist eine selbstbewusste Band zu sehen, deren Weiblichkeit
offensiv im Fokus steht. Auch deshalb bekommt Non bis heute Post von jungen
Künstlerinnen, die sich durch die Pionierarbeit der japanischen Musikerin
ermutigt und inspiriert fühlen. Trotzdem sei eine solche Veröffentlichung
ökonomischer Irrsinn, räumt Schneider ein.
## Salatschüssel Tokio
Ganz abgesehen vom begrenzten Markt für Singles, wüssten viele Plattenläden
nicht, in welche Sektion sie die Musik einsortieren sollen. In seinen
Linernotes beschreibt der Fotograf Yuichi Jibiki die frühe Tokioter
Punkszene als Salatschüssel, in der sich Mode-, Film- und Kunstschaffende
vermischten. Wo Virtuosität entwertet wird, gewinnen kreative Ideen an
Bedeutung.
Wie man sie an einem Instrument umsetzt, ist zunächst zweitrangig. Das
umschreibt die Entstehungsgeschichte einer weiteren Wiederveröffentlichung
aus der gleichen Ära und derselben Stadt. Saboten, japanisch für Kaktus,
heißt sie. „Wie ihr Namensgeber stachelig, aber seltsam schön“, kann sich
der Hype-Sticker zu ihrem 1982 erschienenen, nun erstmals in ursprünglicher
Form neuaufgelegten Debütalbum nicht verkneifen.
Den Startschuss des 1981 in Tokio gegründeten Frauen-Quartetts gibt die
damals angehende Illustratorin Satomi Makino. Gerade kommen ihre ersten
Aufträge rein, als sie merkt: „Dafür ist jetzt die falsche Zeit, wir müssen
zunächst eine Band gründen.“ Gemeinsam mit einer Bekannten von der
Kunsthochschule geht Satomi schnurstracks in eine Musikalienhandlung, und
kurz darauf schleppen die beiden Frauen Gitarre und Schlagzeug nach Hause.
## Skulpteurin am Bass
Eine Skulpteurin, Izumi Imazawa, übernimmt den Bass und bringt eine frische
Idee mit: Wie wäre es, Erik Saties minimalistische Klaviermusik in einen
Bandkontext zu übertragen? Ja, das könnte spannend sein, sind sich alle
einig. Masae Fuma, die einzige der vier, die ihr Instrument, die Gitarre,
bereits beherrscht, hilft bei der freien Übersetzung dieser Idee.
Das Ergebnis ist eine erfrischend [3][undogmatische Form von Pop]. In einer
offenen Produktion laufen zarte Bass- und Gitarrenmelodielinien neben- und
gegeneinander. Es gibt weder eine Leadgitarre noch Akkorde. Jedes
Instrument sucht sich seinen eigenen Weg. „Rückblickend glaube ich, wir
hätten es uns nicht schwerer machen können“, schreibt Satomi in ihren
Linernotes. Aber sie hätten es auch kaum besser machen können.
Manche Hooklines von Saboten erinnern an den extrem reduzierten Minimalpop
des walisischen Trios Young Marble Giants, anderes an die unbeschwerte
Abenteuerlust der Raincoats. Dann taucht unvermittelt eine Surf-Adaption
auf, gefolgt von Space-Age-Synthiepop. Ein absolut eigenständiger Musikmix
wie ein Abenteuerspielplatz. Während das zeitgleich in Osaka gestartete
Frauentrio Shonen Knife mit nicht sonderlich originellen Ramones-Adaptionen
zu internationaler Bekanntheit gelangt, finden Saboten erst jetzt eine
etwas breitere Hörerschaft außerhalb ihrer Heimat.
Stefan Schneider, aus privaten und beruflichen Gründen öfter in Japan,
empfindet die dortige Musikszene bis heute als vielfältiger und
überraschender als in vielen europäischen Ländern. Auch, weil sie weniger
kommerziell sei. „Bands und Projekte in Japan nehmen sich Zeit, ihre eigene
Sprache zu finden, auch wenn sie dafür vor 30 Leuten spielen müssen.“
Der eigene Sound vieler japanischer Underground-Bands und Künstlerinnen
findet allmählich auch hier größere Fanschichten. Neulich gastierte
Schneider in einem Berliner Buchladen, legte Musik auf, beantwortete Fragen
zu Japan allgemein und der Non Band im Speziellen: „Das Interesse war
enorm, manche Anwesende haben sogar mitgeschrieben.“
9 Jun 2023
## LINKS
[1] /John-Peel-Sessions-von-To-Rococo-Rot/!5902237
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[3] /Experimentelle-Punkmusik-aus-Japan/!5921060
## AUTOREN
Gregor Kessler
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