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# taz.de -- Bedeutung des Asylkompromisses: Die Illusion der Kontrolle
> Der EU-Asylkompromiss führt nicht zu weniger Migration, er vermehrt nur
> das Unglück an den Außengrenzen. Die Grünen bezahlen für ihr Ja einen
> Preis.
Bild: Pragmatismus richtet Schäden dort an, wo es um Werte geht
Der Mann ließ im Bundestag kein gutes Haar an dem Asylkompromiss. „Anstatt
das Asylrecht zu bewahren, soll es nun so weit eingeschränkt werden, dass
das einer Abschaffung gleichkommt“, sagte der Bündnisgrüne. Man errichte
„Mauern aus Gesetzen und Abkommen“, um sich die Geflüchteten vom Leib zu
halten und sie schnell in Drittstaaten zu entsorgen. Wer aus einem
Nachbarland kam, hatte kein Recht auf Asyl mehr. Das war ungefähr so, als
wenn Irland beschließen würde, dass nur, wer zu Fuß kommt, Asyl beantragen
darf.
Diese Szene spielte sich 1993 ab. Konrad Weiß, Abgeordneter von Bündnis 90,
redete vergeblich der SPD ins Gewissen. Das Grundgesetz wurde mit
SPD-Stimmen geändert.
Der Asylkompromiss vor 30 Jahren und der EU-Asylkompromiss 2023 ähneln sich
im manchem. Das Ziel ist: Migranten abschrecken. Dafür werden die Rechte
von Asylbewerbern beschnitten, ohne das Asylrecht komplett zu streichen.
Auch der Schmierstoff dieser Operation ist ähnlich: Es ist die Konstruktion
der sogenannten sicheren Drittstaaten. Ein syrischer Flüchtling, der aus
der Türkei in die EU kommt, kann künftig wieder zurückgeschickt werden –
auch wenn er in der EU Anrecht auf Asyl hat.
Ob und wie oft das passieren wird, ist offen. Aber es ist möglich. Auch die
Asylzentren, Kernstück der EU-Reform, folgen einem Vorbild, das 1993 in
Deutschland erfunden wurde. Flüchtlinge, die per Flugzeug kommen, landen
seitdem nicht in Deutschland, sondern in einer Art Transitraum, in dem die
„Fiktion der Nichteinreise“, so der juristische Ausdruck, gilt. Auch in den
geplanten EU-Asylzentren finden sich Geflüchtete in einem fiktiven Europa
wieder.
## Remake von 1993
Bekannte Argumente, gemischte Gefühle. Das Ganze wirkt wie ein Remake. Nur
die Grünen spielen diesmal nicht die tapfere Opposition, sondern die Rolle
der SPD. Halb fallen sie, halb zieht es sie hin. Am Ende werden sie wohl,
nach ausreichend öffentlich dargebotener Zerknirschung, dem stählernen
Gebot der Realpolitik folgen.
Auch wenn die Rhetorik 2023 nicht so aggressiv und fremdenfeindlich klingt
wie 1993, tauchen in dem Diskurs ähnlich suggestive Bilder auf. In
Talkshows und Bundestagsdebatten werden – mehr oder weniger verklausuliert
– drei Erzählungen bedient. Alle drei haben die gleiche Botschaft: Wir
müssen uns schützen. Das erste Bild: „Nur ganz wenige Migranten sind
Verfolgte. Das Gros sind Wirtschaftsflüchtlinge.“
So ist es nicht – jedenfalls derzeit. Im Jahr 2022 bekamen fast drei
Viertel aller Asylsuchenden Schutz und [1][wurden als Verfolgte anerkannt].
Nur in 28 Prozent der Fälle wurde der Asylantrag als unbegründet abgelehnt.
Trotzdem werden Flüchtlinge generell als Schwindler verdächtigt.
Das zweite Bild: „Die illegalen MigrantInnen kommen nach Deutschland – und
arbeiten dann nicht.“ Auch das stimmt so nicht. Es ist kompliziert, die
Daten etwas schütter. Aber: Die Lage auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland
ist aus demografischen Gründen günstig. Auch Ungelernte werden verzweifelt
gesucht. So gehen Experten davon aus, dass trotz Hürden wie der Sprache
rund 55 Prozent jener Migranten arbeiten, die 2015/16 nach Deutschland
kamen. Tendenz steigend. Die Integration in den Arbeitsmarkt ist aufwendig
und kostspielig. Aber Leute, die hier sind, auszubilden ist effektiver, als
Arbeitskräfte in der Ferne zu umwerben, die dann lieber nach Kanada gehen.
Das Bild vom Flüchtling, der es sich in der sozialen Hängematte bequem
macht, ist jedenfalls falsch.
Drittens: „Wir müssen an der Grenze durchgreifen und die illegalen
Migranten (böse, weil Wirtschaftsflüchtlinge) von den verfolgten
Asylsuchenden (nehmen wir auf, weil wir gute Menschen sind) trennen.“
Dieses Bild ist vielleicht das wirksamste. Und abgründigste. Es legt nahe,
dass die Politik an der Grenze für Ordnung sorgen kann, wenn sie es nur
will. Hart, aber fair. Repressiv, aber gerecht. Man muss nur entschlossen
das richtige Anreiz- oder vielmehr Abschreckungssystem etablieren – schon
lässt sich globale Migration steuern, und das Problem ist wenn nicht
gelöst, so doch entscheidend gemildert.
Dieses Bild ist so fatal, weil es eingängig und schwer zu widerlegen ist.
Migration ist ein vielschichtiger, komplexer, verwirrender, sich wandelnder
Prozess. Gerade deshalb ist es attraktiv, an einfache, gerade Lösungen zu
glauben, die man sich nur trauen muss.
Diesem Geist entspricht der EU-Asylkompromiss mit den geplanten
haftähnlichen Lagern und verkürzten Verfahren. Er befeuert die Vorstellung,
dass man Migration lenken, berechnen, unterdrücken und einer weitgehenden
Kontrolle unterwerfen kann.
Doch das wird nicht so sein – und das ist der Unterschied zwischen 1993 und
2023. Deutschland gelang es damals auch mittels Drittstaaten, Zahlen
radikal zu senken: von fast einer halben Million im Jahr 1992 [2][auf
19.000 im Jahr 2007.] Die Bundesrepublik machte sich einen schlanken Fuß
auf Kosten geduldiger Nachbarn. Als 2011 auf Lampedusa Tausende Flüchtlinge
ankamen, erklärte CSU-Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich in einer
bemerkenswerten Mixtur aus Dummheit und Arroganz, das sei Italiens Problem.
Das kam 2015/16 als Bumerang zurück.
Die Lage in der EU ist 2023 anders. Denn die dienstbaren Drittstaaten, die
Flüchtlinge abwehren, existieren so nicht. Die EU hat zwar moralisch
abgründige Deals mit Autokraten in Afrika geschlossen, die rosafarben
„Mobilitätspartnerschaften“ getauft wurden. Entwicklungshilfe und
Handelsvergünstigungen für Länder wie Ägypten, Marokko und Niger wurden an
die Bedingung gekoppelt, Migrantenrouten zu unterbrechen. Die EU hat
kreativ ein komplexes Netz entworfen, um zweifelhafte Regime mit Geld dazu
zu bringen, Abgeschobene wieder zurückzunehmen.
Staatsgrenzen zeichnen sich nicht mehr, wie der Staatstheoretiker Thomas
Hobbes einst schrieb, dadurch aus, dass sie „bewaffnet sind und auf die
anliegenden Nachbarn gerichtete Kanonen haben“. Grenzen im globalen
Kapitalismus sind flexible, oft nach vorne verlagerte Systeme, mit denen
sich die reichen Zentren die Zuwanderung aus den armen Peripherien vom Leib
zu halten versuchen. [3][Der Soziologe Steffen Mau] hat diese Grenzen mit
ausgefeilten Überwachungssystemen und diffusen Rechtsräumen griffig als
„Sortiermaschinen“ beschrieben. Sie haben etwas Ausuferndes. Im Vergleich
mögen die Grenzen der Ära der klassischen Nationalstaaten mit ihren
Schlagbäumen wenn nicht harmlos, so doch verlässlich und übersichtlich
erscheinen.
## Sortiermaschinen
Doch so beängstigend diese Sortiermaschinen mitunter wirken – sie sind
prekär, anfällig, fragil. Die EU ist auf die politischen Kalküle
autokratischer Regime angewiesen. Die EU verfügt nicht über die imperiale
Macht, den (nord)afrikanischen Staaten den eigenen Willen zu diktieren.
Einzelne europäische Länder haben mehr als 300 Rücknahmeabkommen mit
Staaten geschlossen, um Migranten wieder loszuwerden – mit durchwachsenem
Erfolg. [4][Fast 80 Prozent der Abschiebebefehle wurden 2021 in der EU
nicht umgesetzt.] Auch der gerade heftig umworbene tunesische Staatschef
hat wenig Neigung, als Europas gekaufter Grenzpolizist zu gelten.
Die Sortiermaschinen funktionieren manchmal, mal stottern sie, mal fallen
sie aus, dann laufen sie wieder auf Hochtouren. Migration ist nur bedingt
regulierbar. Sogar die repressive Grenze zwischen Mexiko und den USA, an
der Trump brutal Tausende Kinder von ihren Eltern trennte, funktioniert –
aus US-Sicht – nur wie ein mehr oder weniger guter Filter. Auch unter Joe
Biden werden Millionen festgenommen, abgewiesen, abgeschoben. Trotzdem
leben in den USA [5][mehr als elf Millionen sogenannte illegale Migranten.]
In einem hoch vernetzten, weltumspannenden Markt mit extremem
Wohlstandsgefälle, in dem Kapital und Waren, Informationen und Datenströme
so frei und schnell wie nie zuvor fließen, ist es ein Kinderglaube, dass
man Flüchtlinge nach Belieben stoppen und in brauchbare und lästige
aufteilen kann. Im globalen Dorf weiß man auch in Ecuador und Nigeria,
welche Migrationsrouten gerade funktionieren.
Die Idee, man werde mit dem EU-Kompromiss nun „die Zahlen in den Griff
kriegen“, so CSU-Mann Manfred Weber, hat etwas Einfältiges. Denn wer in
Westafrika viel Geld investiert, den Tod in der Sahara und das Ertrinken im
Mittelmeer riskiert, sich Schlepperbanden anvertraut, Kriminelle und
Frontex einkalkuliert, der wird sich kaum davon abschrecken lassen, dass
die EU beschleunigte Verfahren einführt. Dieser Asylkompromiss führt nicht
zu wesentlich weniger Migration. Er vermehrt nur das Unglück an den
Außengrenzen.
## Handelsübliche Doppelmoral
Dieser Asylkompromiss stützt den inneren Zusammenhalt der EU. Das
Grenzregime wird, sollte es funktionieren, künftig weniger national und
mehr von der EU bestimmt sein. Das ist ein Schritt hin zu einer
staatsähnlicheren EU. Europa einigt sich mit sich selbst – auf Kosten der
Migranten.
Und die Grünen? Die SPD hat ihr Ja zum Asylkompromiss 1993 nicht viel
gekostet. Günter Grass trat aus – das war zu verschmerzen. Für die Grünen
ist die Lage heikler. Denn die realpolitisch motivierte Zustimmung zum
Asylkompromiss beschädigt ihr Selbstbild als Partei mit einem
privilegierten Zugang zur Moral. Die FDP will mit Freiheit, die Union mit
Christlichem, die SPD mit Gerechtigkeit assoziiert werden – die Grünen
stehen für universelle Moral. Sie sind eine postnationale,
globalisierungsaffine Partei. Auch deshalb haben sie eine besondere Nähe zu
Flucht und dem Schutz individueller Menschenrechte. Und sind dort
verletzlich.
Als staatstragende Partei werden die Grünen wohl zustimmen. Contre cœur und
aus Pragmatismus. Pragmatismus aber richtet Schäden an, wo es um Werte
geht, die dem politischen Spiel entzogen sein sollten. Die Grünen wird
dieses Ja verändern, sie werden normaler und noch mittiger. Eine liberale
Partei mit dem handelsüblichen Maß an Doppelmoral.
17 Jun 2023
## LINKS
[1] https://www.proasyl.de/thema/fakten-zahlen-argumente/
[2] https://www.bib.bund.de/DE/Fakten/Fakt/M21-Registrierte-Asylantraege-ab-199…
[3] https://www.deutschlandfunkkultur.de/steffen-mau-sortiermaschinen-grenzen-z…
[4] https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-01/eu-mehr-abschiebungen-abgelehnt…
[5] https://de.statista.com/statistik/daten/studie/162288/umfrage/herkunftslaen…
## AUTOREN
Stefan Reinecke
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