# taz.de -- Diagnose Chronisches Fatigue-Syndrom: Auf der Suche nach Atlantis | |
> Vor achteinhalb Jahren wird Abiturient Jonas nach einer Erkältung zum | |
> Pflegefall, er leidet an ME/CFS. Seine Familie kämpft für eine wirksame | |
> Therapie. | |
Bild: Jonas geht es 2015 zwischenzeitlich gut genug, um Musik zu hören und die… | |
FREIBURG taz | Die erste Begegnung mit Jonas darf nur wenige Augenblicke | |
dauern. Langsam muss man mit ihm sprechen, bloß nicht zu laut. Jonas, 26 | |
Jahre alt, scheint die Worte wahrzunehmen. Sein linker Arm ist angewinkelt, | |
die knochige Hand liegt ruhig auf der Brust, ein wenig oberhalb des | |
Herzens. Wenn die Hand still ist wie ein Stein, hört er zu, haben seine | |
Eltern gesagt. | |
Wer mit ihm redet, ist auf solche Übersetzungen angewiesen. Für bewusste | |
Bewegungen fehlt Jonas meist die Kraft. Zum Sprechen ohnehin. Er hat den | |
Kopf zur Seite gedreht, ein hautfarbener Waschlappen verdeckt seine Augen, | |
Silikonstöpsel schützen die Ohren. Licht und Lärm verursachen Schmerzen. | |
Auch wenn er an besseren Tagen für kurze Zeit die Augen öffnet: Sein | |
Gegenüber zu fokussieren, gelingt ihm nicht. Das türkisblaue Meer und die | |
bergige Küste auf dem Foto gegenüber seinem Bett – Jonas hat es wohl noch | |
nie betrachtet. | |
Mehrere Ärzte haben seine Diagnose bestätigt: Myalgische | |
Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom, kurz [1][ME/CFS]. Die | |
Multisystemerkrankung wurde bekannt als schwerste Ausprägung von Post | |
Covid, doch es gab sie vor der Pandemie, häufig infolge von | |
Virusinfektionen. Allein in Deutschland sind [2][mehrere hunderttausend] | |
Menschen betroffen, mit unterschiedlich ausgeprägten Symptomen. Jonas’ Fall | |
gehört zu den schwersten. | |
Seine Krankengeschichte beginnt Ende 2013, kurz nach seinem 17. Geburtstag, | |
mit einer einfachen Erkältung. Er wird nicht wieder gesund, fühlt sich | |
zunehmend erschöpft, kann sich kaum mehr konzentrieren. Zum Abi schleppt er | |
sich noch. „Mit letzter Kraft“, wie seine Eltern heute sagen. | |
## Foto erinnert an den letzten Familienurlaub, 2014 | |
Das türkisblaue Meer auf dem Foto erinnert an den letzten Familienurlaub, | |
im Sommer 2014, nach dem Abi. In Norditalien läuft Jonas noch schwerfällig, | |
schafft es, langsam ein wenig zu schwimmen. Nach der Rückkehr bricht er | |
zusammen. Er wird zum Pflegefall und bleibt es. | |
Bis heute sind achteinhalb Jahre vergangen: Achteinhalb Jahre, in denen | |
seine Mit-Abiturienten studieren und Jobs annehmen, sich verlieben und | |
trennen, durch die Welt reisen und das Leben feiern – Jonas verbringt sie | |
in seinem Pflegebett, ernährt über eine Sonde. In den ersten Monaten habe | |
er vor Schmerzen geschrien, während seine Eltern stündlich mal Kühlkissen, | |
mal Wärmflaschen auf seinem Körper verteilten. Einzig dieser Vorgang | |
versprach ein wenig Linderung. | |
Jonas’ Vater Christian ist ein hagerer und groß gewachsener Mann, der den | |
Kopf einziehen muss, wenn er zur Tür hereinkommt. Auf dem Esstisch hat er | |
den Laptop und Ordner voller Unterlagen ausgebreitet, die dokumentieren, | |
was die Familie in all den Jahren erlebt hat: Ärztebriefe, Laborbefunde, | |
Korrespondenz mit Kliniken und Behörden. Gut 3.000 E-Mails sind | |
zusammengekommen. Für diesen Text hat er Einblick in die wichtigsten | |
Dokumente gegeben. Darauf und auf den Berichten der Familie basiert dieser | |
Artikel. Jonas heißt wirklich Jonas, aber er hat den Wunsch geäußert, | |
darüber hinaus ein Stück Anonymität zu wahren. Deswegen haben er und seine | |
Familie hier nur Vornamen. | |
Was Jonas krank gemacht hat, verraten die Unterlagen nicht. Eine frühere, | |
unbemerkte Infektion mit dem Epstein-Barr-Virus? Ein Zeckenbiss? Womöglich | |
spielte auch genetische Veranlagung eine Rolle – Andrea, Jonas’ Mutter, ist | |
selbst seit 20 Jahren an ME/CFS erkrankt. Arbeiten kann die | |
Ernährungswissenschaftlerin nicht, doch zu Hause kämpft sie sich durch den | |
Alltag. | |
Während das Babyfon jeden lauteren Atemzug von Jonas ins Wohnzimmer | |
überträgt, fällt der Blick auch hier auf ein Bild aus besseren Zeiten: eine | |
Landkarte. Sie tapeziert fast die ganze Wand, handgemalt und | |
zusammengeklebt aus einzelnen A-4-Blättern. Eine Fantasiewelt voller | |
Straßen, Meere und Landschaften. Jonas, einst begeisterter Wanderer mit | |
Faible für Geografie, hat sie als 11-Jähriger entworfen. Auch Atlantis | |
zeichnete er darauf ein. In Jonas’ Karte liegt das sagenumwobene Inselreich | |
zwischen einem „verwinkelten Sumpf“ und „Venedig“. Von dort sind es mit… | |
Fähre knapp 40 Minuten. | |
## Wohnzimmer so unerreichbar wie das versunkene Atlantis | |
Nur ein Dutzend Schritte wären es für Jonas bis zu seiner Karte, doch für | |
ihn ist das Wohnzimmer so unerreichbar wie für Forscher das versunkene | |
Atlantis. Wie die Wohnung genau aussieht, in der er seit dem vergangenen | |
Jahr wohnt, weiß er nur aus Beschreibungen seiner Familie. | |
„Wenn er sich ärgert, schafft er es manchmal, ein einzelnes Wort | |
herauszuhauchen“, sagt Jonas’ Vater. Meist läuft die Kommunikation vor | |
allem über spärliche Klopfzeichen. Ein kleines Geräusch, eine merkliche | |
Unruhe machen den Anfang. Dann möchte Jonas sich mitteilen. | |
Es beginnt ein Raten: Möchtest du etwas sagen? Könnte es dies sein? Wenn | |
Jonas’ Familie Glück hat, klopft er sich mit dem Finger auf die Brust, als | |
Bestätigung, das Richtige erkannt zu haben. Auf diesem Wege, sagt Vater | |
Christian, habe Jonas darum gebeten, öffentlich über ME/CFS zu sprechen. | |
Es ist eine Erkrankung, die Jonas’ Familie immer wieder an ihre Grenzen | |
bringt. Im November 2014 – er liegt zum dritten Mal innerhalb eines Jahres | |
in der Freiburger Uniklinik – schreibt Vater Christian eine E-Mail an seine | |
Geschwister, Betreff: „Horror und Wunder“. Jonas, 1,82 Meter groß, sei auf | |
weniger als 42 Kilogramm abgemagert, zeige „typische Anzeichen des | |
Verhungerns“. Bitter fügt er an: „Einen schwerstkranken Sohn zu haben, ist | |
Belastung genug, aber auch noch gegen Ärzte und eine ganze Klinik kämpfen | |
zu müssen, treibt einen an den Rand der Verzweiflung.“ | |
Auslöser der Auseinandersetzung zwischen Jonas’ Familie und den Ärzten ist | |
PEM, die Post-Exertionelle Malaise. ME/CFS-Betroffene leiden an den | |
unterschiedlichsten Symptomen, doch PEM haben sie gemein: Überschreiten sie | |
ihre Grenzen, folgt ein Crash. Die Symptome verschlimmern sich, nicht | |
selten dauerhaft. Weil bereits Lichtreize und Geräusche überlastend sein | |
können, sind Kliniken mit ihren Standardzimmern und betriebsamen Gängen | |
nicht auf ME/CFS-Patienten ausgelegt. Viele dieser Patienten sind zu krank | |
für ein normales Krankenhaus. | |
## Durch die Uniklinik zum Schwerstkranken | |
So ging es auch Jonas, sagen seine Eltern. Vorher sei er schwach gewesen, | |
doch er konnte laufen, reden. Auf die drei Aufenthalte in der Uniklinik | |
führen sie es zurück, dass Jonas dauerhaft zum Schwerstkranken wurde. Alle | |
Ärzte, sagt Christian, hätten das Beste gewollt – dennoch spricht er von | |
einer „katastrophalen Fehlbehandlung“. | |
Weil die Klinik ME/CFS nicht erkannt, auf die Besonderheiten der Erkrankung | |
keine Rücksicht genommen habe. Es war 1969, als die | |
Weltgesundheitsorganisation das Syndrom [3][als neurologische, also | |
organische Erkrankung] anerkannte. [4][1994 kritisierte eine deutsche | |
Regierungskommission], dass Ärzte sie zu leichtfertig als | |
„psychosomatisch-psychiatrische Störung“ einstuften. Die Bundesärztekammer | |
und das Robert-Koch-Institut benennen körperliche Ursachen – etwa eine | |
erhöhte Immunaktivität, Entzündungsprozesse, Virusreste oder Autoantikörper | |
im Blut. Doch weil Ärzte mit ihren Standarduntersuchen davon nichts | |
bemerken, glauben viele weiter an rein psychische Probleme. | |
Jonas’ Unterlagen zufolge vermuten auch die Freiburger Klinikärzte | |
seelische Belastungen hinter den Beschwerden, eine „atypische Essstörung“, | |
eine „somatoforme Schmerzstörung“. Weil Jonas empfindlich auf Reize | |
reagiert, glauben sie, der Patient wolle sich „abschotten“, er verweigere | |
Hilfe. | |
Die Deutung hat Folgen für die Therapie. „Man zwang ihn zur Aktivierung | |
ohne Pausen“, sagt sein Vater. Ein Einzelzimmer sei Jonas verwehrt worden, | |
statt Schonung wurde Physiotherapie angesetzt. Als er zu schwach ist, die | |
nur wenige Zentimeter entfernte Teetasse zum Mund zu führen, habe die | |
Pflegeleiterin ihm nicht geholfen – weil der durstige Patient sich bewegen | |
solle. | |
Und während ein Psychiater seinen Sohn befragt, trotz extremer Erschöpfung | |
und obwohl der signalisiert, nicht mehr zu können, habe Jonas schließlich | |
den Alarmknopf ausgelöst, um von dem Arzt befreit zu werden. Vieles hält | |
Jonas’ Vater in Notizen fest, unabhängig prüfen lässt es sich nicht. | |
Ein Sprecher des Uniklinikums teilt mit, dass er sich zu einem so weit | |
zurückliegenden Fall nicht detailliert einlassen könne. Die Kritik, die so | |
ähnlich bereits Selbsthilfegruppen äußerten, nehme man jedoch sehr ernst. | |
„Die Sensibilisierung zum Thema ME/CFS hat allgemein, aber auch am | |
Universitätsklinikum Freiburg, in den letzten Jahren zugenommen“, sagt der | |
Sprecher. | |
Er betont, dass aus Sicht des Krankenhauses „am häufigsten“ organische | |
Auslöser – auch „unverstandene“ – für eine ME/CFS-Erkrankung verantwo… | |
sein dürften. Diese führten „zu Symptomen mit psychosomatischem Charakter�… | |
zur Therapie aber gebe es bislang keine von den Fachgesellschaften | |
anerkannten Leitlinien. | |
## Die Schrecken sind nicht vorbei | |
Am 18. November 2014 setzt Jonas in krakeliger Handschrift seinen Namen | |
unter eine Erklärung, mit der er die Ärzte im Uniklinikum darum bittet, „so | |
schnell wie möglich nach Hause“ zu dürfen. Es ist bis heute das letzte | |
Dokument, das Jonas unterschrieben hat. | |
Nach längerem Hin und Her lassen sich die Ärzte darauf ein, Jonas eine | |
Magensonde zu legen. Sie ist die Voraussetzung dafür, dass seine Eltern ihn | |
zu Hause pflegen können. Es ist neben all dem Horror das „kleine Wunder“, | |
von dem Christian seinen Geschwistern in der Mail berichtet. | |
Doch der Schrecken ist damit nicht vorbei. Wie die Uniklinik drängt auch | |
eine Hausärztin zur Weiterbehandlung in einer psychosomatischen Klinik. | |
2015 beantragt sie beim Amtsgericht, einen Vormund für Jonas zu bestellen, | |
der dann eine Zwangseinweisung durchsetzen könnte. Andere Ärzte überzeugen | |
das Gericht schließlich davon, dass der junge Mann bei seinen Eltern gut | |
aufgehoben sei. | |
So erfährt die Familie hautnah, welche Konflikte in der Ärzteschaft um die | |
Erkrankung brodeln, für die bis heute eine heilende Therapie fehlt: Die | |
einen erkennen ME/CFS und PEM als körperlich verursachte Symptome an und | |
raten Patienten, ihre individuellen Belastungsgrenzen unbedingt | |
einzuhalten, um nichts zu verschlimmern. Andere, vor allem Psychosomatiker, | |
empfehlen möglichst viel Aktivität, im Glauben, damit einer | |
„Dekonditionalisierung“ entgegenzuwirken. | |
Der Streit ist bis heute aktuell – und hochpolitisch. Am deutlichsten zeigt | |
das der Aufstand, den das unabhängige, evidenzbasiert arbeitende Institut | |
für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) auslöste, | |
als es im Auftrag des Bundesgesundheitsministeriums Wissen über ME/CFS | |
zusammenzufassen sollte. | |
## Aktivierungstherapie führt zu bleibenden Schäden | |
Im vergangenen Oktober stellte es einen [5][Entwurf] zur Kommentierung ins | |
Internet und rückte darin ausgerechnet eine Therapie in den Fokus, die sich | |
steigernde Aktivitäten des Patienten vorsieht. Zur Begründung verwies das | |
Institut vor allem auf eine [6][britische Studie], die grobe | |
wissenschaftliche Mängel aufwies und PEM – also die Crashs nach Überlastung | |
– gar nicht berücksichtigte. | |
Monatelang bekämpften sich Wissenschaftler hinter den Kulissen, auf Podien | |
und in sozialen Medien. Betroffene starteten Postkartenaktionen an das | |
Institut und verwiesen auf unzählige [7][Erfahrungsberichte], in denen | |
Patienten beschreiben, wie ausgerechnet eine solche Aktivierungstherapie zu | |
bleibenden Schäden geführt habe. | |
Im April dieses Jahres legte das IQWiG seinen [8][finalen Bericht] vor. Er | |
unterscheidet sich deutlich vom Entwurf: Der Nutzen der gestuften | |
Aktivierungstherapie? Fraglich. Ein „relevanter Nachteil durch | |
schwerwiegende Nebenwirkungen“ hingegen sei nicht ausgeschlossen. Damit | |
steht fest, dass kein Arzt sich mehr auf Evidenz berufen kann, will er die | |
gestufte Aktivierungstherapie empfehlen. Wie schnell sich das herumspricht, | |
ist allerdings eine andere Frage. | |
Die zweite Begegnung mit Jonas folgt nach einer Stunde Pause, in Begleitung | |
von Julian, Jonas’ jüngerem Bruder. Trotz der vier Jahre Altersunterschied | |
seien sie stets „wie Zwillinge“ gewesen, sagt der 22-Jährige. Nun sitzt er | |
täglich am Pflegebett, um Jonas von der Welt zu berichten. | |
Mit einem dezenten Räuspern macht er sich bemerkbar, legt kurz seinen Arm | |
auf die Schulter des Älteren, kniet sich auf einen Drehstuhl und lehnt sich | |
ans Geländer des Pflegebettes. „Ich wollte dir ja noch vom ESC erzählen“, | |
sagt Julian leise. Jonas’ Finger zucken leicht nach oben. Kurz warten, | |
heißt das, er muss das erst verarbeiten. | |
## Zuerst die Kopfschmerzen, dann bleierne Schwäche | |
So detailverliebt, wie Jonas seine Landkarte gezeichnet hatte, malt Julian | |
mit Worten ein buntes Bild vom Eurovision Song Contest, der wenige Tage | |
zuvor ausgetragen wurde. Er beschreibt die auffliegenden Lichtstrahlen der | |
Scheinwerfer, die schrillen „You wanna see me dance?“-Rufe der israelischen | |
Sängerin oder das quietschgrüne Bizepskostüm [9][des finnischen Rappers]. | |
„Cha, Cha-Cha, Cha-Cha-Cha-Cha“, singt Julian. Seine schulterlangen, | |
blonden Haare fliegen über die Bettdecke des Pflegebetts. „Das hab ich | |
jetzt nur geflüstert gemacht, aber stell’s dir in laut und rockig vor.“ | |
Jonas verfolgt alles mit leicht geöffnetem Mund. | |
Für eine kurze Zeit im Jahr 2015 konnte er selbst wieder Musik hören. Die | |
Antibiotika-Therapie einer Borreliose-Expertin hatte die Schmerzen | |
vertrieben. „Wie wachgeküsst“ sei der Junge, schreibt Vater Christian in | |
einer E-Mail an seine Familie: Jonas führte Gespräche, lachte. Nach einigen | |
Monaten aber kehrten erst die Kopfschmerzen zurück und dann diese bleierne | |
Schwäche. | |
Seitdem ist an Musik und Gespräche nicht mehr zu denken. Für Andrea, | |
Christian und Julian bedeutet das: 16 Stunden Pflegebedarf am Tag. Ganze | |
zwei Stunden nimmt das Vorbereiten der Sondennahrung ein, das Kochen und | |
Pürieren, das Abwiegen der Nährstoffe, exakt nach ärztlichem Rat und | |
berechnet mithilfe einer Excel-Tabelle, weil Jonas fertige Nahrung nicht | |
verträgt. | |
Um alles zu schaffen, musste Christian seinen Job aufgeben. Dass der | |
Kaufmann heute wieder im öffentlichen Dienst arbeiten kann, ist nur | |
möglich, weil die Familie eine Pflegehilfe angestellt und in der eigenen | |
Wohnung untergebracht hat. Auf durchschnittlich 40.000 Euro im Jahr | |
summierten sich die Ausgaben für ihr Gehalt, für Laboruntersuchungen und | |
private Arztrechnungen, für Nährstoffe und Medikamente. Seit dem | |
vergangenen Jahr bezahlt das Sozialamt die Pflegekraft. | |
Das gibt der Familie zwar ein bisschen Sicherheit, schützt sie aber nicht | |
vor Unvorhergesehenem. Jonas übersteht eine Corona-Infektion, eine schwere | |
Lungenentzündung – und einen Gasalarm: Als Nachbarn vor einigen Jahren | |
Probleme mit ihrer Heizung haben, ordneten Behörden kurzfristig die Räumung | |
der Wohnung an. | |
## Der Vater harrte mit Jonas zuhause aus | |
Doch weil es unmöglich war, mit Jonas aus dem zweiten Stock herauszukommen, | |
harrte der Vater mit ihm zu Hause aus. Es war einer der Anstöße für den | |
Umzug aus der Stadt ins Umland im vergangenen Jahr, den Jonas nur sediert | |
bewältigen konnte. Nun wohnt die Familie ebenerdig und besitzt für den Fall | |
der Fälle eine Rettungstrage. | |
Wie viel er heute von den Besuchen wahrnimmt? Sehr viel, ist Julian sicher. | |
Als er dem Bruder im Winter 2022 den aktuellen Spielplan der Fußball-WM | |
vorrechnete, sei Jonas einmal ganz unruhig geworden – offenbar hatte er | |
sich Julians Berichte der Vortage genau eingeprägt und bemerkt, dass er nun | |
eine Mannschaft irrtümlich in die falsche Gruppe einsortiert hatte. | |
Und tatsächlich gibt es seit einem Jahr leichte Verbesserungen. Ohne sie | |
wäre ein Besuch undenkbar gewesen. Mal öffnet Jonas die Augen, mal kann er | |
Arme und Beine ganz leicht bewegen. Nur was, wenn Jonas’ Vater, den die | |
Bandscheiben plagen, einmal ausfällt? | |
Irgendwie durchhalten, das ist der Plan. In der Hoffnung, dass die Ampel | |
ihr Versprechen aus dem Koalitionsvertrag – bessere Versorgungsstrukturen | |
für ME/CFS-Erkrankte – vielleicht doch noch erfüllt. Und vor allem darauf, | |
dass die Forschung, die durch Post Covid immerhin ein wenig Geld erhalten | |
hat, endlich ein Medikament hervorbringt. | |
Vielleicht ist es wie die Suche nach Atlantis, dem versunkenen Inselreich. | |
Würde man es finden, irgendwo da draußen, Jonas’ Familie wäre bereit für | |
eine Reise durch noch so verwinkelte Sümpfe, auch ohne Fähre von Venedig. | |
„Wir würden alles probieren“, sagt seine Mutter. | |
18 Jun 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Gespraech-mit-Marina-Weisband/!5816151 | |
[2] https://www.bundestag.de/resource/blob/943000/60468062de2e557ef6436afb4e5c9… | |
[3] https://icd.who.int/browse10/2019/en#/G93.3 | |
[4] https://www.aerzteblatt.de/archiv/88815/Chronic-Fatigue-Syndrome-CFS-Chroni… | |
[5] https://www.iqwig.de/download/n21-01_me-cfs-aktueller-kenntnisstand_vorberi… | |
[6] https://www.thelancet.com/journals/lancet/article/PIIS0140-6736(11)60096-2/… | |
[7] https://journals.sagepub.com/eprint/hWSxVIBTzDtqisvafkhE/full | |
[8] https://www.iqwig.de/download/n21-01_me-cfs-aktueller-kenntnisstand_abschlu… | |
[9] /Eurovision-Song-Contest/!5931725 | |
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