# taz.de -- Politische Emigranten im Kaukasus: Der Chip ins nächste Level | |
> Unsere aserbaidschanische Autorin lebt unter russischen Migranten. Sie | |
> wundert sich, wie wenig Interesse nicht nur die an anderen autoritären | |
> Ländern zeigen. | |
Bild: Hinterhof in Tbilissis Altstadt | |
Das ganze vergangene Jahr habe ich unter russischen Polit-Emigranten in | |
Tbilissi gelebt. In einer Mietwohnung mit vier Meter hohen Decken, mit | |
Kronleuchtern und Klavier. Unsere zahlreichen Gäste, ebenfalls Emigranten, | |
hat dieser Luxus immer begeistert. Einige von ihnen waren nur einen Abend | |
zu Besuch, andere sind länger geblieben, bis sie eine feste Bleibe gefunden | |
hatten. | |
Am Anfang fand ich das alles ziemlich spannend: der ganze Haufen neuer | |
Leute, ihre Geschichten, ihre Gespräche über Politik. Aber dann wurde es | |
langweilig. Und ich kam mir dort irgendwie überflüssig vor. | |
Ich verstehe diese Leute gut, denn ich bin selber Emigrantin aus einem | |
autoritären Staat (aus Aserbaidschan) mit schwieriger politischer | |
Situation. Aber fast keiner meiner neuen Bekannten wusste irgendetwas über | |
die Lage in meinem Land. Sie wussten auch nichts von mir und fragten mich | |
nichts. Sie lebten in ihrer engen Blase und waren zu sehr mit sich selber | |
beschäftigt, überzeugt [1][von der Einzigartigkeit und Wichtigkeit dessen, | |
was mit ihnen geschah]. | |
Und manchmal schien es mir, als ob sie zwar Aufmerksamkeit und Mitgefühl | |
für sich selbst erwarteten, aber die Probleme politischer Migranten aus | |
anderen Ländern als unbedeutend ansahen. Auch die meisten internationalen | |
Medien berichten vor allem über das Thema Migration aus Russland. Für | |
andere politische Emigranten interessiert sich niemand – denn deren Länder | |
sind nicht so groß und nicht so schrecklich wie Russland. | |
Die EU lehnt jetzt russisches Gas ab und entsetzt sich über die putinschen | |
Repressionen, verhandelt aber seelenruhig [2][mit dem aserbaidschanischen | |
Präsidenten Alijew über Gaslieferungen] und tut dabei so, als ob sie die | |
Repressionen in Aserbaidschan nicht bemerken würde. | |
Ich schreibe dies und schäme mich dabei. Es klingt, als sei ich | |
eifersüchtig. Als würde ich hinter dem Rücken all derer, mit denen ich das | |
letzte Jahr verbracht habe, lästern. Die, deren Namen und Gesichter ich | |
bald wieder vergessen haben werde, und die umgekehrt auch mich vergessen. | |
Aber an einige werde ich mich auch später noch erinnern. Zum Beispiel an | |
Denis, einen 45-jährigen Performancekünstler mit den Augen eines | |
wissbegierigen Teenagers. Er war einer der wenigen russischen Emigranten, | |
die ich getroffen habe, der sich nicht wie ein russischer Emigrant benahm. | |
Er war nicht pathetisch, nicht melodramatisch, sprach nur wenig über sich | |
und wenn, dann fast immer auf eine ironische Art. Und das, obwohl es im | |
russischsprachigen Wikipedia einen langen Beitrag über ihn gibt. Er war | |
stets freundlich und gelassen, hielt aber auch eine gewisse Distanz zu der | |
restlichen Emigrantengruppe. | |
Er lebte zwei Monate bei uns, bis er ein humanitäres Visum für Frankreich | |
bekam. Morgens machte er immer Kopfstand. Nahm ein Video-Tagebuch auf. Halb | |
im Scherz beschwerte er sich darüber, dass er in Russland als Tatare galt, | |
in Frankreich aber als „Russe“. Und er zeichnete ein Brettspiel-Quest in | |
Form einer geografischen Karte. Vor seiner Abreise nach Paris veranstaltete | |
Denis einen Abschiedsabend. Dabei erhob er sein mit Tomatensaft gefülltes | |
Glas und sagte: „Ich weiß nicht, wie es weitergeht, aber ich freue mich | |
über meinen neuen Spielchip, mit dem ich ins nächste Level komme.“ | |
Ich kenne mich nicht besonders gut mit dieser Spiel-Terminologie aus. Aber | |
in dem Moment war ich fasziniert von dieser einfachen und doch prägnanten | |
Metapher für das Streben nach Veränderung, für das Vorankommen auf dem | |
Lebensweg … Für ein Gefühl, das wohl jeder Emigrant kennt. Und darum ist | |
mir diese Metapher im Gedächtnis geblieben. | |
Aus dem Russischen [3][Gaby Coldewey] | |
Finanziert wird das Projekt von der [4][taz Panter Stiftung]. | |
Ein Sammelband ist im Verlag [5][edition.fotoTAPETA] erschienen. | |
3 Jun 2023 | |
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## AUTOREN | |
Nika Musavi | |
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