# taz.de -- Lebensumstände russischer Migranten: Wenn Krieg dein Leben verbess… | |
> Es ist fast ein Tabu unter denjenigen, die Russland nach dem | |
> Angriffskrieg gegen die Ukraine verlassen haben. Doch einigen geht jetzt | |
> besser also vorher. | |
Bild: Im Exil, wo die Kiefernwälder nicht weit sind: Viele Russen leben heute … | |
Dass das Leben derjenigen Russ*innen, die nach Kriegsbeginn das Land | |
verlassen haben, nicht leicht ist, erzählen alle. Sie selber, die Medien, | |
Oppositionspolitiker*innen und Persönlichkeiten des öffentlichen | |
Lebens im Exil. | |
Ob es nun um Probleme mit Papieren und Dokumenten, Diskriminierung oder das | |
sogenannte „Canceln der russischen Kultur“ geht, oder ob EU-Politiker*innen | |
damit drohen, [1][Russ*innen bei der Einreise nach Europa die Autos | |
wegzunehmen]. Oder um all die anderen Probleme der erzwungenen Emigration. | |
Aber dass der Krieg das Leben vieler Emigrant*innen verbessert hat, sagt | |
niemand. Dabei gibt es solche Menschen. Nur reden sie normalerweise nicht | |
darüber. | |
Im Mai 2023 hat der Journalist Jan Schenkman, der jetzt im armenischen | |
Jerewan lebt, auf seinem Facebook-Account etwas gepostet, das einen Skandal | |
auslöste. „Ich verdiene jetzt besser, lebe in einer schönen Wohnung, | |
besser, als ich in Moskau gelebt habe. Alle respektieren und achten mich, | |
das war in Moskau nicht der Fall. Manchmal werde ich sogar auf der Straße | |
erkannt. Jeden Tag passiert irgendetwas Gutes, neue Projekte, Interviews, | |
interessante Begegnungen. Insgesamt geht es mir einfach besser. Ich bin | |
ruhiger geworden, besser, selbstbewusster, ich lächele häufiger. Und das | |
alles, weil Krieg ist“. Das ist nur ein Teil seines Posts. | |
## Mehr Inklusion und ein barrierefreies Umfeld | |
Und viele meiner Bekannten könnten diese Worte unterschreiben – aber sie | |
haben ihn verurteilt. Denn laut zu sagen, dass das eigene Leben im Exil | |
nicht schlechter ist als früher, sondern sogar davon zu sprechen, dass es | |
sich verbessert hat – das ist der Gipfel des Zynismus und der | |
Gefühllosigkeit vor dem Hintergrund der Tragödien, die sich jeden Tag in | |
der Ukraine ereignen. | |
Eine Bekannte von mir, die eine Behinderung hat, ist nach Berlin gezogen. | |
Und als wir dort zusammen in einem Café saßen, erzählte sie mir begeistert, | |
dass sie in Deutschland besser medizinisch versorgt werde als in Russland. | |
Ein barrierefreies Umfeld und Inklusion sind dort schon weiter verbreitet, | |
und die dortige Einstellung zu Menschen mit körperlichen Behinderungen hat | |
sie einfach begeistert. Sie sagte, zum ersten Mal in ihrem Leben fühle sie | |
sich als freier und schöner Mensch. | |
## Steile Karriere, keine Angst mehr vor Zensur | |
Ein anderer Freund von mir ist Journalist, sehr jung und begabt. Im März | |
2022 ist er nach Litauen gezogen, er bekam eine Unterstützung von einer | |
europäischen Stiftung, hat schnell einen Job gefunden, erst bei einem | |
unabhängigen Exil-Medium, dann bei einem anderen Medienunternehmen. | |
Auf der Karriereleiter geht es für ihn steil bergauf, und er verdient | |
mittlerweile so viel Geld, wie er es sich in Russland nicht hätte träumen | |
lassen. | |
Und dazu kommt, dass er auch [2][nicht länger von irgendeiner Zensur | |
eingeschränkt] wird. Er kann ruhig schlafen und muss keine Angst davor | |
haben, dass russische Sicherheitskräfte im Morgengrauen in seine Wohnung | |
eindringen könnten, um ihn ins Gefängnis zu stecken, dafür, dass er seine | |
Arbeit gemacht hat. | |
## Neue Freunde, Sicherheit – und das Meer ist ganz nah | |
Ich denke in diesem Zusammenhang auch oft an mich selber. Ich kann jetzt | |
nicht sagen, dass mein Leben in Riga besser geworden ist als das, was ich | |
in Moskau hatte. Aber es hat sich auch nicht verschlechtert: Hier wie dort | |
[3][miete ich eine normale Wohnung] und leide keinen Hunger. Riga ist eine | |
schöne und angenehme Stadt, Meer und Kiefernwälder sind nicht weit. Auch | |
meine Arbeit habe ich behalten. Denn dank der Coronapandemie, trotz all der | |
damit verbundenen Schrecken, ist Remote-Arbeit normal geworden. | |
Ja, ich kann meine Angehörigen nicht sehen, aber wir sind in Verbindung. | |
Ich kann einen Teil meiner Freund*innen nicht sehen, aber hier habe ich | |
neue gefunden. Ja, es ist, als ob ich kein Zuhause mehr hätte und hier ein | |
Niemand bin – aber paradoxerweise fühle ich mich sicherer. Ich werde mein | |
inneres Entsetzen darüber, dass die Dinge nicht so gelaufen sind, wie ich | |
es wollte, für mich behalten. Träume ich davon, dass der Krieg endet und | |
ich nach Moskau zurückkehren kann? Selbstverständlich. Wird mein Leben dort | |
besser? Nicht unbedingt. | |
Es ist ein kompliziertes Thema. Aber das Leben ist auch eine komplizierte | |
Angelegenheit. Mit dieser Komplexität klarzukommen, ist keine leichte | |
Aufgabe. Aber man muss sich ihr stellen. | |
Aus dem Russischen [4][Gaby Coldewey] | |
Finanziert wird das Projekt von der [5][taz Panter Stiftung]. | |
Ein Band mit den Texten erschien bei [6][edition.fotoTAPETA] | |
8 Oct 2023 | |
## LINKS | |
[1] /Sanktionen-gegen-Russland/!5960322 | |
[2] /Pressefreiheit-im-Baltikum/!5950062 | |
[3] /Ukrainische-Gefluechtete-in-Lettland/!5864763 | |
[4] /Gaby-Coldewey/!a23976/ | |
[5] /!vn5941022/ | |
[6] https://www.edition-fototapeta.eu/ | |
## AUTOREN | |
Maria Bobyleva | |
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