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# taz.de -- Ehrung eines SA-Mitglieds: Der Druck der Straße
> Darf man eine Straße nach einem ehemaligen SA-Mann benennen? Um diese
> Frage tobt seit einem Jahr ein Streit in einem kleinen Ort in
> Mittelfranken.
Bild: Neubaugebiet mit Altlasten: Die Siedlung in Allersberg, wo der umstritten…
Allersberg taz | In Allersberg gibt es Straßen, die gibt es gar nicht. Die
Ludwig-Gmelch-Straße etwa. Oder die Wilhelm-Burkhardt-Straße. Schilder
haben die Straßen keine, auch das Navi findet sie nicht. Und – das ist
wesentlich erstaunlicher – selbst Bernhard Böckeler findet sie nicht. Der
ehemalige Bürgermeister der Gemeinde steht im Neubaugebiet Im Keinzel und
läuft die dortigen Straßen ab. Mal in die eine Richtung, mal in die andere.
Die ersten Häuser sind schon bald bezugsfähig, der Rest ist Baustelle und
Wiese.
Die kleinere der Straßen, heißt es, soll die Wilhelm-Burkhardt-Straße sein.
Doch welche ist kleiner? Die kürzere, die schmalere? Und überhaupt: Wo
fängt welche Straße an und wo hört sie auf? Die Straßen verlaufen in einer
Art Ring, von dem aber noch kürzere Straßenstücke abgehen. Dies hier sei
das Haus Ludwig-Gmelch-Straße 12, sagt schließlich ein Bauarbeiter. Also
müsste dieser Abzweig … Nein, es könnte auch …
Die Frage zu beantworten, wo genau die Wilhelm-Burkhardt-Straße verläuft,
scheint unmöglich. Und doch wird es eine der leichteren Fragen sein in
dieser Geschichte, in der es um Moral geht, um den Umgang mit der
Vergangenheit, um eine zerrüttete Gemeinde und um jede Menge Bürgermeister.
Vordergründig aber geht es zunächst mal um die Frage, ob es die richtige
Entscheidung war, in Allersberg, wo es so schöne Straßennamen wie Im
Himmelreich oder Am Wiesengrund gibt, eine Straße nach Wilhelm Burkhardt zu
benennen. Denn Burkhardt war nicht nur für kurze Zeit nach dem Krieg
Bürgermeister von Allersberg, er war auch – ebenfalls für kurze Zeit – in
der [1][SA].
Böckeler hat die Suchexpedition aufgegeben, er sitzt jetzt in der Eisdiele
Azzurro, gleich gegenüber dem Rathaus. Was ja auch eine gewisse Symbolik
hat, auch wenn man nur hier gelandet ist, weil sonst an diesem Montagmittag
alles geschlossen hat in Allersberg. „Es läuft doch auf einen Punkt
hinaus“, sagt er jetzt. „Warum mache ich mich überhaupt an eine
Straßenbenennung heran, wenn ich weiß, die Person war bei der SA?“ Denn was
Böckeler wirklich stört, ist nicht, dass er die Wilhelm-Burkhardt-Straße
nicht gefunden hat, sondern dass es sie überhaupt gibt.
## Die Stadt der Drahtzieher
Böckeler ist ein freundlicher, nicht allzu großer Herr von 67 Jahren mit
weißem Schnauzer. 24 Jahre lang war der CSUler Chef des Rathauses, bis er
2017 nicht mehr antrat. In seiner Amtszeit bekam die Marktgemeinde südlich
von Nürnberg wieder einen Bahnanschluss, die historische Gilardi-Fabrik
direkt am Marktplatz wurde von der Gemeinde gekauft. Hier saßen früher die
Drahtzieher, und das hat in diesem Fall nichts mit Politik zu tun: Das
Handwerk des Drahtziehens, dafür war Allersberg dank der Firma Gilardi
berühmt. International vertrieb sie ihren Christbaumschmuck noch bis 2006.
Früher war eben auch in Allersberg mehr Lametta.
Böckeler kümmert sich inzwischen als Vorsitzender eines Fördervereins um
die Sanierung des [2][Gilardi-Anwesens]. Jenes Hauses, vor dem in der Früh
nach der Pogromnacht im November 1938 etliche Nazis standen und den
jüdischstämmigen Fabrikbesitzer Erik Geiershoefer und seine Mutter
festnahmen. Im Gefängnis in Hilpoltstein, erzählt Böckeler, seien ihnen
Vollmachten abgepresst worden, tags darauf habe ihnen die Fabrik nicht mehr
gehört. Was Geiershoefer blieb, war sein Leben. Im Frühjahr 1939 konnte er
mit Frau und Tochter nach England fliehen. Böckeler erzählt die Geschichte,
weil Geiershoefer später einer der Hauptbelastungszeugen gegen Burkhardt
war.
Burkhardt war erst 1937 von Nürnberg nach Allersberg gezogen. Er hatte eine
Firma, mit der er Druckerei- und Schreibmaschinen vertrieb. Nach dem Krieg
setzten ihn die Amerikaner als Bürgermeister ein: ein Amt, das er vom 25.
Juni bis 3. Oktober 1945 ausübte. Danach sprach man nicht mehr viel über
Wilhelm Burkhardt in Allersberg – bis zum 21. März 2021. An diesem Tag
stand im Gemeinderat als sechster Punkt das Thema Straßenbenennungen auf
der Tagesordnung. Um drei Straßen ging es.
Nach einigem Hin und Her beschloss man, eine Straße im Neubaugebiet St.
Wolfgang nach Susanne Schulenburg zu benennen: Die Tochter Erik
Geiershoefers war die letzte Chefin der Firma Gilardi und die erste
Gemeinderätin von Allersberg. Im Neubaugebiet Im Keinzel wiederum sollten
die Straßen nach Ludwig Gmelch, Bürgermeister von 1975 bis 1993, und
Burkhardt benannt werden. Wovon man zu diesem Zeitpunkt noch nichts wusste,
war dessen SA-Vergangenheit. Erst als Bernhard Böckeler im Juli 2022 im
Zuge seiner Vereinsarbeit im Staatsarchiv Nürnberg auf Burkhardts
Spruchkammerakten stieß, wurde diese bekannt. Überdies, so erfuhr man, war
Burkhardt auch Mitglied der [3][NS-Volkswohlfahrt] und der [4][Deutschen
Arbeitsfront]. Die Aufregung war groß, nach der Sommerpause kam es zu
hitzigen Debatten im Gemeinderat.
## Hält der Bürgermeister ein Gutachten zurück?
Dazu, die Straßenbenennung umgehend zurückzunehmen, waren der heutige
Bürgermeister Daniel Horndasch und die Gemeinderatsmehrheit allerdings
nicht bereit. Auch nicht, als die Debatte noch durch Post aus England
befeuert wurde: Dort lebt Alexander Schulenburg, der Sohn der 2020
verstorbenen früheren Gilardi-Chefin, der sich via Pressemitteilung in die
Debatte einmischte: An dem Straßennamen festzuhalten wäre „eine Beleidigung
für die Opfer des Nationalsozialismus“. Schulenburg vermutete sogar, dass
Horndasch absichtlich ein unvollständiges Bild Burkhardts zeichnen möchte,
um auf der Straßenbenennung beharren zu können. Denn: „Wie nun aus
Allersberg zu hören ist, bleibt ein von der Allersberger Gemeindearchivarin
durchgeführtes geschichtswissenschaftliches Gutachten zu Burkhardt unter
Verschluss.“
Eine Behauptung, die der Bürgermeister in einem Antwortschreiben an
Schulenburg von sich wies: Ein Gutachten existiere nicht und könne deshalb
auch nicht unterdrückt werden. Glaubhaften Aussagen aus dem Dorf zufolge
soll es ein entsprechendes Papier allerdings tatsächlich geben – mag man es
nun als Gutachten oder als ausführliche Stellungnahme bezeichnen.
Anzunehmen, dass es im Ergebnis nicht für die Benennung einer Straße nach
Wilhelm Burkhardt spricht. Die Archivarin ist dazu jedoch nicht zu
sprechen, verweist in knappen Worten lediglich an Bürgermeister Horndasch.
Von einem „Maulkorb“ sprechen sie im Ort.
Gern hätte man nun den Bürgermeister selbst zu den Vorwürfen befragt. Doch
auch dieser lässt auf Anfrage lediglich mitteilen, dass es derzeit „von
Seiten der Verwaltung keine Notwendigkeit für öffentliche Erklärungen zum
Sachverhalt oder zu unterschiedlichen Sichtweisen“ gebe. „Die Gemeinde
mauert“, sagt Bernhard Böckeler.
Ein externer Historiker solle sich nun des Themas in einer umfassenden
Untersuchung annehmen, beschloss der Gemeinderat Ende des vergangenen
Jahres. Doch während die Häuser im Neubaugebiet Gestalt annehmen, ist
dieses Gutachten offenbar noch nicht einmal beauftragt worden. Für
Schulenburg steht ohnehin fest, dass es nur dazu dient, „die Angelegenheit
auf die lange Bank schieben. Um zu entscheiden, ob Burkhardt ein Nazi war,
muss man nicht mehrere Jahrzehnte und Personen der Allersberger Geschichte
erforschen“.
## Die Gemeinde ist ohnehin schon gespalten
Auch Wilma Kinzler ist empört: „Was setzen wir denn da für ein Zeichen?
Andere Städte, Kommunen arbeiten auf, entfernen Straßennamen. Und was
machen wir?“ Sie hat ebenfalls die Befürchtung, dass das Rathaus die ganze
Diskussion einfach versanden lassen will. Mit ihrem Mann Manfred und der
Freundin Ilonka Popp hat die Seniorin deshalb Unterschriften für einen
Bürgerantrag gesammelt. Auf diese Weise konnten sie bewirken, dass sich der
Gemeinderat nun innerhalb von drei Monaten mit ihrer Forderung nach einer
Umbenennung der Straße befassen muss.
Ob die Straßenaffäre nun aber Ursache oder Symptom einer Spaltung des Ortes
ist, ist schwer zu sagen. [5][Schon länger frisst sich ein Graben durch
Allersberg.] Angefangen hat es mit dem Streit um ein
Amazon-Logistikzentrum. Rund 20 Hektar hat die Gemeinde dafür verkauft.
Verschachert, sagen die Gegner. Die Debatte sei mit unnötiger Aggression
geführt worden, sagen beide Lager nun – und machen das jeweils andere dafür
verantwortlich. Die Lager, das sind auf der einen Seite die Freien Wähler,
das Allersberger Bürgerforum (ABF) und der parteilose Bürgermeister, auf
der anderen Seite SPD, Grüne und der Großteil der CSU.
Es sind dieselben Blöcke, die sich auch jetzt beim Streit um den
Straßennamen wieder unversöhnlich gegenüberstehen. Dass am 2. Juli
Bürgermeisterwahlen sind, dürfte dabei keine friedensstiftende Wirkung
haben. Freie Wähler und ABF schicken wieder Horndasch ins Rennen, SPD und
Grüne unterstützen den Kandidaten der CSU. Und natürlich verdächtigen Freie
Wähler und ABF die Gegenseite, den Straßenstreit nur mit Blick auf den
Wahlkampf aufgeblasen zu haben.
Natürlich sind belastete Straßennamen keine Allersberger Besonderheit. So
sind beispielsweise in der ganzen Republik Straßen nach [6][Agnes Miegel]
benannt, einer Autorin, die die Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis vertrat
und sich gern als deren dichterisches Aushängeschild instrumentalisieren
ließ. Auch Hindenburg, der Hitler zum Kanzler machte, ist in deutschen
Stadtplänen allgegenwärtig. Und gerade einmal 12 Kilometer von Allersberg
entfernt, in der Kreisstadt Roth, gibt es einen Rudolf-Wöhrl-Ring. Der
Modehausbegründer Wöhrl war 1931 in die NSDAP, 1933 in die SS eingetreten.
## Man habe Feindsender gehört, sagt der Pfarrer
Aber natürlich ist der Fingerzeig auf die anderen, die es doch noch
schlimmer trieben, selten hilfreich. Und so landen wir wieder in
Allersberg, dieser 8.000-Einwohner-Gemeinde, die der Rest Deutschlands,
wenn überhaupt, nur als Autobahnausfahrt kennt. Und eine Besonderheit hat
der Allersberger Fall ja doch: Während es sich sonst bei unliebsamen
Straßennamen meist um Altlasten handelt, bekam die Wilhelm-Burkhardt-Straße
ihren Namen vor gerade einmal zwei Jahren.
Hilfsbereit sei er gewesen und ein Organisationstalent, begründeten die
Freien Wähler seinerzeit ihren Antrag, die Straße nach Burkhardt zu
benennen. Und viel weiß man tatsächlich nicht über diesen Mann, der schon
1949 im Alter von 52 Jahren starb.
Aussagen über ihn finden sich vor allem in seiner Spruchkammerakte. Etwa
die lobenden Worte des damaligen Landrats, der 1946 vermerkte, dass
Burkhardt seinen Aufgaben mit „größter Selbstaufopferung“ nachgekommen se…
Der Pfarrer seinerseits will Burkhardt als „schärfsten Gegner des
Nazi-Regimes“ gekannt haben: „Es verging keine Woche, in der wir nicht über
die verwerflichen Methoden des Gewaltregimes und über die Kriegslage uns
aussprachen.“ Gemeinsam habe man auch Auslandssender gehört.
Aber wie aussagekräftig sind solche Akten? Nachfrage bei Eva Schultheiß,
der für Allersberg zuständigen Heimatpflegerin des Landkreises:
Grundsätzlich, so Schultheiß, hätten die Zeugen bei
[7][Spruchkammerverfahren] sehr oft versucht, sich gegenseitig zu
entlasten. Besonders verdächtig seien Aussagen, die sehr allgemeiner Natur
seien, wie im Fall Burkhardt. Wenn es dagegen ganz konkret beispielsweise
um die Beteiligung an bestimmten Aktionen gehe, dann habe das ein anderes
Gewicht.
## Bestes Zeugnis für den NSDAP-Ortsgruppenleiter
Schultheiß ist aber auch skeptisch, was die Leistungen Burkhardts als
Bürgermeister anbelangt: „Ich weiß nicht, was er in dieser kurzen Zeit
Besonderes getan haben sollte. Er konnte ja gar nichts bewirken.“ Das Amt
sei eine reine Verwaltungstätigkeit gewesen, alle Entscheidungen seien von
den Amerikanern getroffen worden. „Vielleicht hat er manchen Leuten privat
geholfen, aber das haben damals viele getan.“
Zudem gibt es ja auch kritische Stimmen – allen voran die von Erik
Geiershoefer: „Meine Ansicht ist, dass Burkhardt sogar noch nach dem
Zusammenbruch aus früherem jüdischen Besitztum nach echter Naziweise
Kapital für sich schlagen wollte“, sagte der Gilardi-Fabrikant vor der
Spruchkammer aus. Hintergrund ist Geiershoefers Annahme, dass Burkhardt
sich seine Firma aneignen wollte, während er noch im Exil in London war.
Ein wenig schmeichelhaftes Licht wirft auch seine Freundschaft zu Karl
Kugler auf Burkhardt. Kugler war von 1937 bis 1942 NSDAP-Ortsgruppenleiter
in Allersberg. Als er zu einer Gefängnisstrafe von drei Monaten verurteilt
wird, macht sich Burkhardt für einen Straferlass stark und schreibt an
Kuglers Anwalt: „Er ist ein Mensch von lauterem Charakter und ideal
veranlagt, weshalb ich ihm vom menschlichen Standpunkt aus nur das beste
Zeugnis ausstellen kann.“
Eine andere, eine ganz persönliche Geschichte erzählt dagegen Aris Maul. Er
kommt gerade von einem Geschäftstermin in Fulda zurück. Der 53-Jährige
arbeitet im Vertrieb von Zerspanungswerkzeugen. Gleich muss er in die
Gemeinderatssitzung. Es bleibt gerade noch Zeit für einen Cappuccino. Maul
ist Vorsitzender des ABF und sitzt für die Wählergemeinschaft im
Gemeinderat. Und: Maul ist Burkhardts Enkel.
## SA-Mitglied bleibt SA-Mitglied?
Dass Burkhardt in der SA war, sagt Maul, passe so gar nicht zu dem, was ihm
seine Mutter, aber auch andere Allersberger von seinem Großvater erzählt
hätten: Ein super großzügiger Mann, einer, der sich gekümmert hat, auf den
man sich verlassen konnte und der den Leuten in der schlimmsten Not
geholfen hat: So hatten sie ihn beschrieben.
An eine Sache kann sich Maul selbst noch erinnern: „Ich war noch sehr
klein, da habe ich zweimal erlebt, dass ehemalige Kriegsgefangene aus
Frankreich bei uns an der Tür geklingelt haben und nach meinem Großvater
gefragt haben. Sie wollten sich bei ihm bedanken, weil er ihnen in der
schwersten Zeit geholfen, vielleicht sogar das Leben gerettet habe.“
Burkhardt war von 1942 an in einem Kriegsgefangenenlager in
Sulzbach-Rosenberg als Stabszahlmeister eingesetzt worden. „Es ist immer
noch meine feste Überzeugung“, sagt Maul, „dass er die Ideologie der Nazis
in keinster Weise unterstützt hat.“
Alexander Schulenburg kann er damit freilich nicht überzeugen. SA-Mitglied
bleibt SA-Mitglied. Was zähle, so der Enkel Geiershoefers, sei schlicht die
„Tatsache, dass man Nazis nicht mit Straßennamen ehrt“.
Wenn es denn so einfach wäre. Ist es aber nicht, findet etwa Andreas
Heusler. „Es kommt immer drauf an“, sagt der Historiker, denkt noch einmal
kurz nach und wiederholt den Satz: „Es kommt immer drauf an.“ Heusler ist
weder mit der Causa Burkhardt noch mit den Verhältnissen in Allersberg
näher vertraut; dennoch lohnt es sich, in die Landeshauptstadt zu fahren,
um sich mit ihm zu unterhalten. Denn in Sachen Straßenumbenennungen kennt
sich der Mann aus.
## Experte: Man muss immer den Einzelfall betrachten
Heusler leitet kommissarisch die Abteilung Public History des Münchner
Kulturreferats und zudem eine [8][Expertenkommission, die der Stadt
Empfehlungen für den Umgang mit belasteten Straßennamen unterbreitet]. In
einem ersten Schritt haben die Kommissionsmitglieder eine Vorauswahl von 45
der über 6.000 Münchner Straßennamen unter die Lupe genommen. Bei rund zwei
Drittel rieten sie zu einer Umbenennung, noch in diesem Jahr wird ein
Beschluss des Stadtrats erwartet.
Natürlich spielten die Mitgliedschaft in einer Partei oder Organisation für
die Bewertung eine Rolle, sagt Heusler, aber nicht die allein
ausschlaggebende. „Jemand, der beispielsweise in der NSDAP war, ist nicht
von vornherein als schlechter Mensch stigmatisiert. Die nominelle
Parteimitgliedschaft ist kein zentrales Kriterium, aufgrund dessen wir
sagen würden: Der Straßenname muss weg.“ Man müsse erst einmal untersuchen:
Welche Motivation lag dem Parteieintritt zugrunde? War die fragliche Person
aktives Mitglied oder eine Karteileiche? Ähnliches gelte auch für die
Mitgliedschaft in der SA. „Aus meiner historischen Erfahrung heraus kann
ich sagen, dass es durchaus Männer gab, die für das Nazi-Regime keine
Sympathie hatten und aus einem gewissen Anpassungsdruck in die SA gegangen
sind.“ Manchmal seien gerade Leute in die SA eingetreten, um ein Argument
zu haben, nicht Parteimitlied werden zu müssen.
In jedem Fall, so Heusler, brauche es eine Einzelfallbetrachtung. „Es gibt
keine Vergleichsgrößen. Sie werden niemals eine zweite Person finden, deren
Fall genauso gelagert ist.“ Die Sache ist kompliziert.
Und was, wenn sich jemand eben erst im Laufe der Zeit zu einem Nazigegner
gewandelt hat? Beispiel [9][Erwin Rommel]: Dass der Generalfeldmarschall
ein glühender Hitler-Verehrer war und dessen verbrecherischen Krieg
maßgeblich mit gestaltete, steht außer Frage. Dennoch sind heute nach ihm
mindestens 15 deutsche Straßen und drei Bundeswehrkasernen benannt. Hätte
er sich nicht 1944 dem Widerstand angenähert und wäre er nicht von Hitler
zum Suizid gezwungen worden, sähe das Gedenken wohl anders aus.
## Knobloch schaltet sich ein
Und hat sich nicht auch Burkhardt von einem SA-Saulus zu einem
Widerstands-Paulus gewandelt? Immerhin soll er aus der SA wegen
„politischer Unzuverlässigkeit“ ausgeschlossen, wegen seiner
„demokratischen Einstellung“ aus der Wehrmacht entlassen und „als
politischer Gegner der NSDAP“ dauernd beobachtet worden sein. Aspekte, die
zu bedenken wären.
Wären. Denn die von den Befürwortern der Straßenbenennung so beschriebene
Vita Burkhardts hat einen Schönheitsfehler. Sie fußt einzig und allein auf
dessen eigenen Angaben im Spruchkammerverfahren. Nur für seine angeblich
nazi-kritische Einstellung gibt es noch das kaum weniger zweifelhafte
Schreiben des damaligen Pfarrers.
So etwas hätte natürlich auffallen müssen. Die Schnelligkeit, mit der in
Allersberg über neue Straßennamen entschieden wird, erstaunt denn auch
Andreas Heusler. In München sei so etwas schon lange nicht mehr möglich.
Einem entsprechenden Stadtratsbeschluss gehe immer eine gründliche
Überprüfung der zu ehrenden Person voraus.
Der Fall zieht inzwischen seine Kreise. In Erlangen sitzt gerade der
Geschichtsstudent Gregory Bey an seiner Bachelor-Arbeit mit dem
Arbeitstitel „Die Wilhelm-Burkhardt-Straße in Allersberg – Eine Ehrung zu
Unrecht?“ – also gewissermaßen einer neutralen wissenschaftlichen
Betrachtung, wie sie die Gemeinde in Auftrag zu geben verspricht. Seine
Recherchen habe er zwar noch nicht abgeschlossen, berichtet Bey, aber
derzeit zeichne sich ab, dass es kaum Gründe für, aber eine Handvoll
Argumente gegen eine Ehrung in Form einer Straßenbenennung gebe.
Und Charlotte Knobloch, die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde
in München, hat Bürgermeister Horndasch jüngst einen Brief geschrieben.
Darin hat sie einem Sprecher zufolge auf die Pikanterie des Falles
Burkhardt sowie die Bedeutung und Dringlichkeit des Themas hingewiesen. Zu
einer eindeutigen Positionierung gegen den Straßennamen will sie sich
allerdings in der Öffentlichkeit nicht durchringen.
Der Rest ist also wieder einmal Schweigen. Wenig tröstlich ist da auch, was
Fachmann Heusler ganz generell zum Thema Straßenbenennungen zu sagen hat:
„Am Ende, glaube ich, wird es nie die richtige oder die falsche
Entscheidung geben.“
2 Jun 2023
## LINKS
[1] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ns-organisationen/sturmabteilung.…
[2] https://www.gilardi-anwesen-allersberg.de/
[3] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ns-organisationen/volkswohlfahrt.…
[4] https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ns-organisationen/deutsche-arbeit…
[5] https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-amazon-allersberg-buergerbegehren…
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Agnes_Miegel
[7] https://de.wikipedia.org/wiki/Spruchkammerverfahren
[8] https://stadt.muenchen.de/infos/historisch-belastete-strassennamen.html
[9] https://de.wikipedia.org/wiki/Erwin_Rommel
## AUTOREN
Dominik Baur
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