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# taz.de -- Abschluss des Theatertreffens in Berlin: Die Macht des Spiels erfah…
> Hamlets Knochen und Handke im Altenheim: Starker erzählerischer Zugriff
> und großartige Ensemble-Leistungen prägten das Theatertreffen.
Bild: „Die Eingeborenen von Maria Blut“ von Maria Lazar, von Lucia Bihler a…
Theater aus Wien? Das kann gerne etwas bös und schwarzhumorig sein. Dieses
Bild erfüllten nun gleich zwei der Inszenierungen, die zum Theatertreffen
in Berlin eingeladen waren. Beide vom Wiener Burgtheater, beide von einer
Regisseurin Mitte dreißig.
„Die Eingeborenen von Maria Blut“ beruht auf einem Romantext von [1][Maria
Lazar, einer in Österreich wiederentdeckten Autorin]. Der Roman, von Lazar
1935 im dänischen Exil geschrieben, erzählt von einer Dorfgemeinschaft: In
der Inszenierung von [2][Lucia Bihler] tragen die Schauspieler:innen
dabei Janker und Kniehosen aus Plastik, das verdächtig nach Schlachthaus
aussieht. Ihre riesigen Puppenköpfe stecken sie tuschelnd und tratschend
zusammen.
Ein Bild von falscher Naivität und Süßlichkeit, das sofort von ihren
bösartigen Kommentaren, die von anderen Schauspielern am Bühnenrand
gesprochen werden, unterlaufen wird. Das sind großartige Vignetten der
Missgunst und der schnellen Bereitschaft zu Verdächtigungen und
Unterstellungen.
Eine Fabrik geht pleite, ein jüdischer Anwalt wird als Schuldiger
ausgemacht, ein Hausmädchen, das die Verleumdung aller Juden nicht
mitmachen will, zur Ausländerin gemacht und ausgewiesen, ein Sohn, der sich
von seinem Vater als Versager abgestempelt sieht, zum Anführer eines
rechten Jungenbundes. Was Katholizismus und Aberglaube war, schlägt hier in
wenigen Szenen in Antisemitismus und Nationalismus um. Ratzfatz, so schnell
ist eine Geschichte des Austrofaschismus selten erzählt.
## Die Verführbarkeit des Menschen
Manchmal ist zwischen den schnell, geradezu brutal abrupt geschnittenen
Szenen aus dem Off eine kurze Passage des Romans zu hören, die ahnen lässt,
dass er noch andere, nicht so schnell in der Karikatur aufgehende Facetten
hat, eine poetische Sprache zum Beispiel und trauernde Reflexionen, die in
der Inszenierung kaum zum Tragen kommen. Die zielt auf das Parabelhafte,
stellt die Verführbarkeit des Menschen aus, die Bereitwilligkeit zum
Verrat, wenn ein kleiner Vorteil dabei herausschaut. Was dann doch etwas
mehr stereotypes Bild denn historische Analyse ist.
Trotzdem war diese Inszenierung ebenso ein Highlight der letzten Woche des
Theatertreffens – das zehn von einer Kritikerjury ausgewählte Stücke zeigt
– wie „Das Zwiegespräch“ nach einem Text von Peter Handke, inszeniert von
Rieke Süßkow. Schauspiellegenden vom Burgtheater wie Martin Schwab und
Branko Samarovski spielen mit, als Bewohner eines Altenheims, mit dem das
Pflegepersonal immer wieder ein makabres Spiel spielt:
Stuhlpolka, lange „Reise nach Jerusalem“ genannt, bis der Zynismus daran
auffiel. Wer keinen Platz auf einem der Stühle findet, um die alle im Kreis
tanzen, scheidet aus. In der Inszenierung von Rieke Süßkow wird er dabei
durch eine Tür geschoben, die ins Reich des Todes führt. An einer anderen
Stelle kommt seine Urne heraus.
Süßkows Bilder sind streng rhythmisiert, die gestylten Pflegerinnen halten
die Alten an einer kurzen Leine. Eine bewegliche Ziehharmonikawand, für die
übrigens die Bühnenbildnerin Mirjam Stängl dieses Jahr den 3sat-Preis
erhielt, beengt ihren Raum zusätzlich.
## Elaborierte Demenz
Dieses Setting ist von der Regisseurin als Rahmen erfunden für Handkes
Text. Der ist eine Art elaborierter Demenz. Erinnerungen werden
ausgetauscht, Erinnerungen, die sich auflösen im Erzählen. Es geht um
Großväter, und wie sie in weiteren Generationen weiterspuken. Es ist ein
Text voller selbstironischer Spitzen, der der Überhöhung der Kunst nicht
mehr über den Weg traut. Gesucht wird ein Theatererlebnis, das das Leben
verändert, aber dann erinnert man sich doch nur an das Dekor und nicht mehr
an die Geschichte. Gesucht werden Bilder, die Geborgenheit versprechen,
aber dann tritt doch ein Großvater durch eine falsche Tür und hat eine
Leiche im Keller.
Handke rechnet in diesem altersmilden Text auch ein wenig, vielleicht nicht
sonderlich scharf, mit sich selbst ab. Das Bühnensetting macht daraus eine
Abrechnung zwischen den Generationen, eine Rache an denen, die uns bis
heute zu den Erben des Faschismus machen. Eine Rache, die, so erzählt es
die Inszenierung, letztlich auch nicht gelingt, denn als Geister kommen die
Entsorgten zurück.
Zwischen dem Text und der Inszenierung, das ist das Positive, tun sich nach
und nach immer mehr Parallelen auf. In den Erinnerungsfetzen des
„Zwiegesprächs“ geht es um die Figur des Spielers, seine
Allmachtsfantasien, Rollen und Regeln zu entwerfen. Und Rollen und Regeln
entwirft dann eben auch die Regisseurin, in einem gegenläufigen Rahmen.
Allerdings, und das ist ein Manko in diesem Entwurf, hat die Generation der
jungen Schauspieler:innen, die als die Pflegenden auftauchen, dabei mehr
eine dekorative Funktion, Statisten in einem Ritual. Auch wenn sie die
Texte der Alten teilweise mitsprechen, so bekommen sie doch keine eigene
Individualität.
## Kritik am Auswahlverfahren
Doch solchen Schwächen zum Trotz: Die Arbeiten der beiden Regisseurinnen
können auch als Beleg dafür gelten, dass Regiefrauen in ihren Stärken
gefördert werden, wenn man ihnen auch die große Bühne und einen guten Etat
gibt. Diese These war Sabine Leucht wichtig, Theaterkritikerin (auch für
die taz), die zu den sieben Juror:innen des Theatertreffens gehört und
mit Kolleginnen an einem Nachmittag ihr gemeinsames Buch [3][„Status
Quote“] vorstellte.
Seit sechzig Jahren gibt es das Theatertreffen: Dass hier Theaterkritiker
die Auswahl treffen, aus über 460 gesichteten Inszenierungen eine Liste von
30 bis 40 Stücken bilden, über die sie dann lange diskutieren, und zehn
schließlich auswählen, wird auch immer wieder kritisiert. Sie bilden eben
kein Kuratorium, das zunächst eine Liste des inhaltlich Wünschenswerten
aufsetzt und dann die entsprechende Kunst sucht. Sondern sie bilden ihre
Kriterien aus dem Befund des Bestehen.
So kann es kommen, wie in diesem Jahr, dass Stücke mit einem starken
Gegenwartsbezug, mit Thematisierung der Klimakrise oder des Krieges in der
Ukraine in ihrer Auswahl vermisst werden, wie es sich in der
Schlussdiskussion des Theatertreffens zeigte. Solche Arbeiten habe man
durchaus diskutiert, verteidigte Jurymitglied Eva Behrendt die Auswahl,
aber letztendlich dann nicht als stark genug empfunden.
Was die Jury an gutem Theater schätzt, ließ sich etwa an zwei
Shakespeare-Inszenierungen ansehen: „Ein Sommernachtstraum“, den [4][Antú
Romero Nunes] in Basel inszeniert hat, ein „Hamlet“, den [5][Philipp
Preuss] am Anhaltischen Theater Dessau auf die Beine gestellt hat. Beide
Inszenierungen fügen zwar den Lesarten Shakespeares nicht unbedingt neue
Varianten hinzu. Aber sie sind großartige Ensemble-Leistungen, die das
Miteinanderspielen, -denken und -arbeiten in den Vordergrund rücken.
## Pädagogen als Elfen und Esel
In der Komödie des Sommernachtstraums ist der fiktive Rahmen diesmal, dass
eine Gruppe von Lehrern, die sich zunächst etwas linkisch und etwas eitel,
erkennbar in ihren Reibereien und Rollenzuweisungen, vorstellen, das Stück
zusammen inszeniert. Die Rollen, die sie dann in den Liebeswirren zwischen
adeligen Paaren, eifersüchtigen Elfen und verliebten Eseln annehmen,
schimmern bald durch als Gegenbilder zu ihrer Existenz als besorgte
Pädagogen, zu ihrem Wohlverhalten als Vorbild. Es ist liebevoll und sehr
lustig erzählt, wie hier das Theaterspielen zu dem Freiraum wird, um
Grenzen zu überschreiten und sich selbst zu überwinden.
Hinter jeder Shakespeare-Inszenierung liegt ein langer Echoraum der
Theatergeschichte. Er ist vielleicht so lang und tief wie der Tisch, den
die Bühnenbildnerin Ramallah Sara Aubrecht für den „Hamlet“ entworfen hat.
Es ist die Tafel für das Begräbnis von Hamlets Vater, Laufsteg für Ophelia
und den Mörder Claudius. Sie alle spielen das Stück, aber sprechen auch
Hamlets Texte, loopen seine Gedankenschleifen, die sich immer enger um
seinen Handlungsspielraum ziehen.
Niklas Herzberg und Felix Axel Preißler spielen Hamlets Figur wie die
zweier Freunde, die ihre düsteren Überlegungen teilen. Und dabei eher
vernünftig als wahnsinnig wirken. Das Stück dampft den Text ein und
kondensiert ihn, merkwürdigerweise wird es nicht langweilig in den
Wiederholungen. Sie scheinen am Ende wie die bleichen Knochen, die
übriggeblieben sind vom Leib der Geschichte durch das
Wieder-und-wieder-Erzählen. Theatergeschichte frisst das Stück auf.
Hinweis: In der 3sat-Mediathek kann man die Aufzeichnungen sehen von drei
Produktionen, als „Starke Stücke“ von 3sat ausgewählt: „Die Eingeborenen
von Maria Blut“, „Kinder der Sonne“ und „Ein Sommernachtstraum“.
30 May 2023
## LINKS
[1] /Wiederentdeckung-der-Autorin-Maria-Lazar/!5930892
[2] /Neue-Bernhard-Inszenierung-in-Wien/!5770140
[3] /Frauenquote-beim-Theatertreffen/!5930049
[4] /Sitcom-in-Hamburg/!5576884
[5] /Archiv-Suche/!5492606&s=Philipp+Preuss&SuchRahmen=Print/
## AUTOREN
Katrin Bettina Müller
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